Denkfiguren bei Hannah Arendt

„Arendt und die Folgen“ lädt zum Mit- und Weiterdenken ein

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„In politics, love is a stranger, and when it intrudes upon it nothing is being achieved except hypocrisy“. Unter dem Motto aus einem Brief Arendts an James Baldwin 1962 gibt die jüngst im Metzler-Verlag erschienene Monographie Arendt und die Folgen von Jana V. Schmidt zu Hannah Arendt einen frischen Blick auf die Philosophin. Die Komparatistin Schmidt legt einen besonderen Akzent auf die Arbeit am Begriff in Arendts Texten. Deshalb greift sie den Reihentitel auf und vergleicht das Rezeptionssignal „und die Folgen“ mit Arendts Selbstdeutung im Interview mit Günter Gaus von 1962. Dort möchte Arendt nicht auf ihre „Wirkung“ reduziert werden, da sie darin ein utilitaristisches Handeln sieht. Stattdessen erteilt sie Gaus eine Lektion in ihrer Auffassung der Arbeit am Begriff: Einerseits ist Philosophie nach Arendt auch Praxis, nicht nur Theorie, deshalb fällt Arendts Denken nicht unter die Kategorie „Philosophie“ im landläufigen Sinne, sondern ist als „politische Theorie“ zugleich philosophische Praxis. Andererseits ist die politische Theorie als philosophische Praxis keine politische Praxis einer Politikerin/eines Politikers mit Führungsansprüchen und direkten Auswirkungen im Sinne eines Programms, einer Schule, einer Gefolgschaft, in welcher Form auch immer.

Schmidt stellt heraus, wie förderlich und folgenreich es ist, dass Arendt sowohl in deutscher als auch englischer Sprache schrieb und von LeserInnen beider Sprachen rezipiert wurde. Das ist nicht nur eine allgemeine Doppelung, sondern kann sehr konkret am Wort, am Begriff im Vergleich der deutschen und englischen Fassungen von Texten Arendts gezeigt werden, indem die Unterschiede beachtet werden und ein differenzierteres Verstehen ermöglichen. Deshalb sieht Schmidt das entscheidende Forschungsdesiderat in einer historisch-kritischen Ausgabe der Arendt-Werke mit einem Vergleich der jeweiligen sprachlichen Fassungen, dazu gehören auch Synopsen der Vortrags- und Essay-Fassungen zu einem Thema. Die sei Arendts strikt kommunikationsorientierter rhetorischer Haltung zu unterschiedlichen Zuhörer- und LeserInnenschaften als spezifische Vermittlungen an ein jeweils differentes Publikum geschuldet.

Schmidt akzentuiert diesen sprach- und übersetzungskritischen Aspekt durch die Rahmung ihres Buches mit einer Einleitung und einem Nachwort zum Thema Pluralität. Im Hauptteil setzt sie zwei Akzente: Arendts Philosophieren in metaphorischen „Denkfiguren“ und deren umfängliche Rezeption in literarischen Texten. Denkfiguren sieht Schmidt in „Sprüngen“, Umbrüchen wie Revolutionen, der Gegenwart als Bewusstsein einer „Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft“, dem „Raum des ‚Dazwischen‘“, dem „Moment der Bodenlosigkeit“ als Chance im Verlust des Alten, Natalität als Kunst, immer wieder einen Anfang zu wagen.

Auf der Basis der Zweisprachigkeit des Arendtschen Werkes lässt Schmidt den Blick auf die angelsächsische und die deutsche Rezeption im Bereich der Literatur folgen: Arendt als literarische Figur, als Roman-Protagonistin, die ihre Philosophie und/oder politische Theorie in ihrem Leben verkörpert. Hier geht Schmidt über die Hinweise im Arendt-Handbuch von 2011 hinaus, z. B. in Bezug auf ein interessantes literarisches Beispiel, Hilde Spiels Roman Lisas Zimmer (deutsch 1965, The darkened room, London 1961). Der nur als Möglichkeit angedeutete Bezug auf die aus Wien stammende jüdische Protagonistin Lisa Leitner Curtis im Blick der aus Riga stammenden Ich-Erzählerin erweist sich als einleuchtend, Lisa bietet 1948 in ihrem Salon einen Treffpunkt von New Yorker intellektuellen EmigrantInnen am Riverside Drive; es werden Gespräche voller „Leidenschaft für die Politik“ geschildert. Lisas provozierende philosophische Monologe über Heldentum, Moral und vor allem den „acte gratuit“ berühren Arendts Themen. Ob die Gespräche in Arendts Freundeskreis durch eine die Beteiligten verzehrende Spannung zwischen „Liebeshaß auf Europa“ und „Haßliebe zu Amerika“ dominiert waren, ist allerdings zu bezweifeln, es wurden dort wohl produktiv-zukunftsorientierte Gespräche über amerikanische Politik geführt und nicht alles Europäische als Verführung zur Nostalgie abgeschüttelt. Allerdings schrieb auch Hilde Domin in ihrem Roman Das zweite Paradies (1968) – wie Schmidt an anderer Stelle herausstellt – Arendt den Gegensätze überbrückenden Satz zu: „Auf dem Atlantik bau ich mein Haus. Beide Kontinente sind unmöglich. Ich lebe zwischen ihnen“. Mit Vernetzungen von Lebens-, Werk- und Rezeptionszeugnissen gewinnt der Buchtitel Arendt und die Folgen eine wichtige Dimension, das literarische Echo in der Beschreibung des intellektuellen Klimas als Werkkontext, damals und heute in der Lebensform der Geflüchteten.

Auch in Bezug auf die Folgen Arendts für die Philosophie setzt Schmidt innovative Akzente, geltend nicht nur für PhilosophInnen. Von der italienischen Feministin, der 1947 geborenen Professorin für Politische Philosophie Adriana Cavarero, gewinnt Schmidt eine Würdigung von Arendts Sprachphilosophie als Theorie einer an Poesie grenzenden Individualisierung in Einzigartigkeit, politisch der Gewinn einer Stimme in der interaktiven Politik des absolut Lokalen (Schmidts Hinweis auf das Datum 2005 bezieht sich wohl auf Cavareros Schrift For more than one voice in der Stanford Press). Wenn Schmidt Cavarero als „eine der wichtigsten zeitgenössischen Arendt-Leserinnen“ hervorhebt, wäre dies die Gelegenheit gewesen, Cavareros Schrift Nonostante Platon (1990) mit heranzuziehen, in der ein entscheidender Hinweis auf Arendts Deutung der Penelope-Gestalt vorliegt, worin Cavarero ein Modell für die heutige politische Praxis, nicht nur von Frauen, sieht.

Im Unterschied zu Rahel Jaeggis Arendt-Darstellung in der Reihe Wie weiter mit? des Hamburger Instituts für Sozialforschung aus dem Jahre 2008 hält sich Schmidt heute nicht mehr auf mit der Frage, ob Aristoteles‘ Politikbegriff gegenwärtig normativ angewandt werden dürfe und ob Arendts Differenz von Sozialem und Politischem hilfreich sei, da die Reflexion aktueller Krisen beide Arendtsche Ansätze dringend braucht. „Verantwortung heißt im wesentlichen: wissen, dass man ein Beispiel setzt, dass Andere ‚folgen‘ werden; in dieser Weise ändert man die Welt“. Dieses Zitat steht als Hinweis auf Schmidts Buch auf der Verlagsseite. Das Zitat wird in diesem Buch eingelöst, mit Schmidt können wir Arendt folgen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jana V. Schmidt: Arendt und die Folgen.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018.
134 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783476045607

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