Wirkliches Weimar und schöner Schein

Georg Schmidt über die Goethezeit des Herzogtums

Von Rüdiger ScholzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rüdiger Scholz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese neue Geschichte Weimars zur Goethezeit stammt von dem  Historiker Georg Schmidt, dem ehemaligen Leiter des Sonderforschungsbereichs „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“, das von der Deutschen Forschungs-Gemeinschaft von 1998 bis 2010 großzügig geförderte Projekt zur Erforschung von Staat und Gesellschaft von Sachsen-Weimar-Eisenach. Hier sind trotz aller Goethe-Idolatrie im Umkreis der Stiftung Weimar und der Universität Jena kritische Forschungen entstanden, die, zusammen mit Forschungen außerhalb des Projekts, das Bild des Staates von Sachsen-Weimar und seiner Gesellschaft verändert haben. Dadurch rechtfertigt sich eine neue Darstellung.

Weimars ökonomische Entwicklung

In sechs Hauptkapiteln plus Prolog und Epilog schildert Schmidt die Veränderungen der Doppelstadt Weimar-Jena zwischen der Ankunft Christoph Martin Wielands in Weimar 1772 und dem Regierungsende von Carl August 1828 und Johann Wolfgang von Goethes Tod 1832. Schmidt will den „epochalen Wandel […] von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft“ darstellen, sein Thema sind die „vielfältigen Verwerfungen der Moderne“ und die Gegenmaßnahmen. Ein Kapitel zu Rezeption beschließt das Werk.

Schmidt greift im Motto die alte These vom Musenstaat Weimar auf: „Durch Schönheit zur Freiheit“, das in Beziehung zur sozialpolitischen Entwicklung steht, woraus sich ein auffallender Kontrast ergibt. Das eher düstere Gemälde der sozialen Verhältnisse macht den ersten Teil aus:

   Das Leben […] veränderte sich um 1800 rasant. […] Die Macht des Marktes, die Kapitalisierung der sozialen Beziehungen  und der Zwang zur Freiheit vergrößerten die Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen unten und oben; sie führten zu einem dramatischen Anstieg der Zahl der Menschen, die allein von ihrer Handarbeit leben mussten und von allen feudalen Sicherungen abgekoppelt waren. Ängste, Orientierungsverluste und fragwürdige Lösungsstrategien machten das Leben nicht einfacher.

Das wird im Detail gezeigt, etwa an den Zahlen der Produktion der Strumpfwirker in Apolda. Aus den staatlichen Steuertabellen ergibt sich: „Die meisten Handwerker konnten von den Einkünften ihrer Gewerbe nicht leben.“ Sie waren auf eine „Nebenerwerbslandwirtschaft“, auf Tätigkeiten als Dienstboten und auf Untervermietung angewiesen. „Die katastrophale Armut in Apolda“ führte 1764 zu handgreiflichen Protesten.

Gescheiterte Versuche, die landwirtschaftliche Produktion zu erhöhen, verstärkten die Probleme, etwa der forcierte Anbau von Klee als Futtermittel 1757. 1771/72 kam es infolge einer Missernte zu einer Hungerkrise und Preissteigerungen für Getreide, die soziale Unruhen infolge der rigorosen Eintreibung der Abgaben auslösten; Häuser wurden in Brand gesetzt. Die Wiedereröffnung des Ilmenauer Kupferbergwerks wurde ein Desaster; 1812 wurde das Bergwerk endgültig aufgegeben, mit sechsundsiebzigtausend Talern Verlust. Behindert wurde die Gewerbeentwicklung durch das Festhalten an den alten Zunftordnungen, während überall in Europa die Zünfte umgangen und abgeschafft wurden. Für die schleppende ökonomische Entwicklung macht Schmidt auch „die Steuer- und Verwaltungsgrenze zwischen den beiden Landesteilen Sachsen-Weimar und Sachsen-Eisenach“ verantwortlich.

Das triste Bild der ökonomischen Verhältnisse können auch positive Entwicklungen kaum aufhellen, etwa das „Wirtschaftsimperium“ von Friedrich Justin Bertuch, der um 1800 hundert Menschen beschäftigte, oder die Fabrik von Johanna Maria Buchholz, die „nahtlose Schläuche aus Hanf“ herstellte und überregional vertrieb. Positiv war die Saale-Regulierung bei Jena und Dornburg; die häufigen Überschwemmungen hörten auf.

Es fehlen leider systematische Erörterungen zur sozialen Gliederung der Gesellschaft. Der Darstellung des Adels folgt kein Bild des Standes der Dienstboten, die keinen eigenen Hausstand gründen konnten, ihrer erzwungenen Ehelosigkeit und deren Folgen, ebenso wenig des Wandels leibeigener Untertätigkeit zur Lohnarbeit. Dafür weist Schmidt auf die fehlenden und falschen Angaben im Taufregister, um die Väter hoch gestellter Personen wie August und Goethe Willen zu schützen. So fehlt bei vier Geburten Christianes Goethes Name im Taufregister, ebenso der Name Carl August als Vater der drei Kinder mit Karoline Jagemann, mehr noch: als Mutter wird deren Schwester angegeben. Die moralische Scheinheiligkeit zeigte sich auch in der Strafe, dass Dienstbotinnen des Schlosses bei Schwangerschaft ihre Stelle verloren, auch die vom Herzog geschwängerte Sängerin Luise Rudolf.

Musenstaat und Kleinstaaterei

Nach Schmidts Bild der wirtschaftlichen und staatlichen Verhältnisse klingt der Obertitel „Durch Schönheit zur Freiheit“ wie eine Satire. Anna Amalias Bestrebungen, Weimars Image als „Musenhof“ zu heben, war ein gängiges „Phänomen mittlerer und kleinerer Residenzen“. „Anfang der 1780er Jahre wurde deutlich, dass es das aufgeklärte Musterfürstentum Sachsen-Weimar-Eisenach nicht gab“. Andererseits betont Schmidt, dass Weimar erfolgreicher als andere war: „Im Schatten der Französischen Revolution und der Koalitionskriege machte Weimar-Jena als Literatur-, Wissenschafts-, Bildungs- und Medienzentrum Furore.“ „Die befruchtende  Symbiose von Hof und Universität, Dilettantismus und Wissenschaft, Aufklärung und Klassik, Romantik und Idealismus machte die Doppelstadt zum nationalkulturellen Brennpunkt.

Schmidts Ziel ist es, das doppelte Gesicht von ökonomischer Misere und kultureller Bedeutung als gültiges Porträt des Weimarer Staates zu zeichnen. Schmidts Gesamturteil: „Der Weimar-Mythos […] ist keine Lügengeschichte.“ Die These ist nicht neu, Schmidt relativiert sie durch den Kontrast zu den Lebensverhältnissen der Bevölkerung.

Schmidt ist Anhänger der These vom „Sonderweg“ Deutschlands in den Nationalstaat. Die Kleinheit Sachsen-Weimars sieht er als Vorteil, „die der griechischen Antike […] entlehnten föderativen Kriterien [machten] die Deutschen zum Vorbild auf dem Weg in die wahre Freiheit einer Weltbürgerschaft“. „Der reklamierte Vorsprung der Deutschen bestand um 1800 darin, den Pfad der national- und machtstaatlichen Abschließung nicht betreten zu haben.“ Diese These, die Schmidt auch in seinem Buch: Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert mit dem optimistischen Obertitel „Wandel durch Vernunft“ vertritt, weist ihn als achtbaren Kritiker des Nationalismus aus, aber sie idealisiert die Kleinheit der vielen selbständigen deutschen Staatsgebilde. Weder war die Antike das Vorbild  für die Zersplitterung Deutschlands in über 200 selbständige politische Territorien, noch hatte dieser Zustand eine politische Zukunft. Die sich rasant entwickelnde Industrialisierung erforderte größere Flächenstaaten, in denen für mehr Bevölkerung Einheitlichkeit gewährleistet war, von Maßen und Gewichten bis zu Münzen, Banknoten und Eigentumsrecht, und eine größere Kapitalkonzentration beim Staat möglich war.

Schmidt konstatiert die Niederlage des „nationalkulturellen Kosmopolitismus“ in den sogenannten  Befreiungskriegen. Er sagt zu Recht: „Der romantische Nationalismus war nur der Idee nach universalistisch.“ Hinzuzufügen wäre, dass der Kosmopolitismus im 19. Jahrhundert Anhänger unter den Kritikern des aggressiven deutschtümelnden Nationalismus fand, allen voran bei Heinrich Heine und Ludwig Börne.

Die Veränderungen durch Napoleon, die Befreiungskriege, der Wiener Kongress, die Erweiterung des Landes zum Großherzogtum, die neue Verfassung – all das stellt Schmidt im Stil üblicher Staatengeschichte dar; der Akzent liegt auf der Kultur. Neues bietet seine Erzählung nicht. Wäre Schmidt bei seinem Stil der Sozialgeschichte wie im ersten Teil seines Buches geblieben, hätte er das Leid der Bevölkerung bei der mehrmaligen Besetzung durch französische und russische Truppen beschreiben und die Vergewaltigungen erwähnen müssen, auch dass August und Goethe im Sommer 1813 nach Karlsbad und Teplitz fuhren, dort fernab allen Kriegsgeschehens ohne Geldsorgen in großzügigen Suiten mit eigenem Dienstpersonal einen schönen Sommer erlebten.

Porträts

Von den Weimarer Akteuren und Akteurinnen finden sich bei Schmidt ausführlichere Porträts von Amalia, Wieland, Herder, Goethe und Schiller. Sie bieten wenig Neues, bemühen sich aber um eine Entmythisierung. Man vermisst Widersprüche und eine Einordnung ihres Handelns und ihrer Ideen in die europäische Gesellschaftsgeschichte. Amalia hat 16 Jahre lang regiert, verstand sich weniger als politische Regentin denn als kommissarische Verwalterin. Das erklärt das Unterlassen von Reformen, das zu schweren Schäden führte. Sie war für das exorbitante Anwachsen des Schuldenbergs verantwortlich, der ihren Sohn in die Situation des drohenden Staatsbankrotts brachte. Andererseits ist ihr hoch anzurechnen – was Schmidt fortlässt –, dass sie die zum Tode verurteilte Kindesmörderin Catharina Elisabeth Warz 1774 begnadigte, die Strafe nicht in lebenslanges Zuchthaus umwandelte wie ihr Sohn sieben Jahre später bei Dorothea Altwein, sondern zu fünf Jahren Gefängnis, damals eine sensationell geringe Strafe. Mit Amalias Regentinnenzeit wurde der Brand der Wilhelmsburg, des herzoglichen Stadtschlosses, am 6. Mai 1774 verbunden, offenbar durch Brandstiftung als Reaktion empörter Bürger auf die Verhaftung der Weimarer „Viertelsmeister“, die sich geweigert hatten, Steuerlisten anzulegen. Schmidt: „Anna Amalia übergab ihrem Sohn kein geordnetes Fürstentum, wie oft zu lesen ist. Die Schuldenlast war erdrückend.“

Es ist auffallend, dass Schmidt kein Porträt von Herzog Carl August entwirft. Zwar wird die Politik des Herzogs dargestellt, die Fortführung seines Bestrebens, Weimar als Musenstaat in der Öffentlichkeit anzupreisen. Ausführlicher geht Schmidt auf die Politik Augusts nach 1806 ein. Aber seine Person wird nicht charakterisiert. So sagt Schmidt z.B. nicht, dass Carl August am Gottesgnadentum seiner Herrschaft festhielt. Oder dass er als Schauspieler in Goethes Drama Iphigenie auf dem Weimarer Theater auftrat. Es fehlen Aussprüche wie: „der teutsche gemeine Mann ist mit dem Sinne der Subordination gebohren“ – oder: man dürfe „daß Volck, welches in Deutschland so leichte gehorcht, nicht der festen Zucht entwöhnen“, Zitate, die man bei Wilson nachlesen kann.  Die Reformversuche Carl Augusts fallen ganz weg; auch das Verhältnis zu Goethe und Augusts Herrschaftsattitüden gegenüber dem Freund finden keine Erörterung.

Bei Wieland vermisse ich den Hinweis, dass er zu den Hochbegabten gehörte wie Christlob Mylius, Lessing, Friedrich Nicolai, Sophie Gutermann oder Jacob Michael Reinhold Lenz und daraus sein Selbstbewusstsein und seine Ansprüche an die Teilnahme in der politischen und literarischen Publizistik ableitete. Wieland hätte beinahe Sophie Gutermann, spätere La Roche, geheiratet, deren Romanbestseller Geschichte des Fräuleins von Sternheim, er 1771 herausgab und der Verfasserin damit den Start in die literarische Öffentlichkeit verschaffte.

Jean Paul

Leider verkürzt Schmidt auch das Bild des Weimarer Staates der 1790er Jahre auf Goethe und Schiller und die Jenaer Frühromantiker. Es fehlt eine Würdigung Jean Pauls, der von 1798-1800 in Weimar wohnte. Zwar wird sein Auftreten in Weimar genannt und in sieben Zeilen auf die Gegnerschaft zwischen Jean Paul und den beiden Klassikern hingewiesen, aber ein Porträt bleibt aus. Jean Paul warf den beiden Weimarer Dioskuren elitäre Überheblichkeit vor. Er ist der deutsche Hauptvertreter des Digressionsromans, einer offenen Romanform, in dem die erzählte Romanhandlung, schon an sich dialektisch angelegt im Wechsel von lyrisch hymnischen Erzählphasen und satirischer Negierung der kruden Wirklichkeit, nur einen Teil bildet. Diese im 18. Jahrhundert weit verbreitete Form stand gegen die geschlossene Form der erzählten Welt. Seit dem Bestseller Hesperus war Jean Paul  erfolgreicher als Goethe mit Wilhelm Meisters Lehrjahre.

Es bleibt verborgen, dass mit Jean Paul das Spektrum literarischer Kunst in Weimar breiter war, auch politisch. Jean Paul war gegen das ancien régime, engagierte sich für die Pressefreiheit. Dass er in seinem Hauptroman Der Titan, in 4 Bänden 1800-1803 erschienen, der in der Zeit der Französischen Revolution spielt, in dem heruntergekommenen Duodezfürstentum Flachsenfingen, in dem die Fürstin „in anderen Umständen als ihr Land, nämlich in gesegneten“ ist, mit den Weimarer Klassikern abrechnet, fehlt bei Schmidt ganz.

Es fehlt auch, dass Jean Paul nach Goethes Werther-Roman der wichtigste Dichter schizophrener Bedrohungen war. In der Reihe Siebenkäs-Leibgeber-Schoppe-Gianozzo-Graul hat Jean Paul mit großem Einfühlungsvermögen Erscheinungen von Ich-Spaltung literarisch dargestellt, mit zwei ergreifenden Todesszenen, von Schoppe und Giannozzo. Mit seiner psychologisch präzisen Verwendung von Ich und Selbst, Begriffen, die im 20. Jahrhundert zentral wurden, gehört er in die Geschichte der wissenschaftlichen Psychologie. Verständlich, dass Jean Paul energisch Johann Gottlieb Fichtes Ich-Philosophie bekämpfte, der er amoralischen Solipsismus vorwarf; Fichte aber reüssierte seit 1794 bis zum Atheismus-Streit 1799 in Jena. Solche Gegensätze thematisiert Schmidt nicht und verkürzt damit sein Weimar-Bild.

Jacob Michael Reinhold Lenz

Zur Literaturszene in Weimar gehörte auch Lenz, unter den Schriftstellern seiner Zeit eine Ausnahmeerscheinung. Seine beiden Dramen Der Hofmeister und Die Soldaten wurden Weltliteratur. Er war der politisch radikalste, unbestechlich. Als einziger der Schriftsteller hat er beim Thema Kindestötung in seiner Erzählung Zerbin oder die neuere Philosophi Partei für die Mutter ergriffen. Seine Vorschläge zur Beseitigung von Vergewaltigungen durch Soldaten waren wegweisend.

Bei der spektakulären Ausweisung von Lenz, u. a. der Englischlehrer von Charlotte von Stein, aus Weimar 1776 innerhalb von 24 Stunden folgt Schmidt der gängigen falschen These, dass die „Eseley“, so Goethe, darin bestand, dass er der Herzogin Louise seine Liebe gestand. Das hätte keinen so großen Eklat ausgelöst; außerdem betraf das nicht unmittelbar Goethe. Eissler vermutet zu Recht, dass Lenz öffentlich ausplauderte, dass Goethe in die Herzogin verliebt war, was Eissler belegt. Das war der Eklat, der Goethe in eine schwierige Lage brachte.

Auch Schmidts Formulierung: „Nach einem unsteten Wanderleben starb er [Lenz} 1792 in Moskau“, wird Lenz nicht gerecht. Lenz wurde infolge seiner außerordentlichen Begabung der Lieblingssohn seines sadistischen Vaters, was den Sohn in den psychischen Ruin führte. Lenz hat mit seiner Schriftstellerei versucht, sich von seinem Vater zu lösen. Jacob brach, nachdem er nach seiner Ausweisung aus Weimar ein Jahr lang verzweifelt versucht hatte, eine auskömmliche Dauerstelle außerhalb der gehassten Berufe Lehrer oder Pfarrer zu bekommen, psychisch zusammen. Der Vater wollte den kranken Sohn lieber sterben lassen als ihm helfen. Auf Druck von Johann Georg Schlosser ließ er ihn aus Emmendingen in sein Haus in Livland zurückholen, sorgte aber für seine Abschiebung weit weg von ihm, weil er und seine anderen Söhne den peinlichen Jacob nicht in ihrer Nähe haben wollten, nach Moskau, wo er sich eine eigene Existenz aufbauen sollte, was nur unvollkommen gelang, zuletzt als Übersetzer russischer Literatur ins Deutsche.

Er schloss sich in Moskau der revolutionären Gruppe um Novikow an. Er hat sich mehrmals verliebt, aber keine seiner Angebeteten erwiderte seine Liebe. Seine Freunde in Russland, die Schriftsteller Karamsin und Petrov, haben ihm nach einem Leben voller Leid mit ihrem Grabspruch ein Denkmal gesetzt: Pokojsja milyj prach, do radostnogo utra! – Ruhe sanft, lieber Erdenstaub, bis zum freudigen Morgen!

Johann Wolfgang Goethe 

Bei Goethe ist Schmidt bemüht, der Idealisierung und Idolisierung vorzubeugen. Sein Porträt ist nüchtern und im Tenor sogar ein wenig kritisch. Schmidt verweist auf Goethes „rechthaberischen Führungsstil“, auf das Lob der Verfassung des alten Reiches, das 1806 untergegangen war. „In Faust II siegt die ausgleichende Ordnung von Kaiser und Reich.“ „Faust vereinigt die souveräne monarchische Alleinherrschaft mit einem kapitalistischen Unternehmertum.“ „Goethe verteidigte die Ständegesellschaft“, kritisierte den „Pöbel“. „Eine Gesellschaftsanalyse im engeren Sinn bietet Goethe in ‚Dichtung und Wahrheit‘ nicht.“

Schmidt weist auf Goethes Menschenfreundlichkeit hin, sein Mitgefühl für die Armut der Strumpfwirker in Apolda. Er dachte „an das Wohl der Lohnarbeiter“ bekannte gegenüber Charlotte von Stein seine Liebe zu der „niedre[n]“ „Klasse von Menschen“.  „Goethe unterstützte die Untertanen, wenn sie berechtigte Interessen vertraten.“ Er handelte „zum Wohl der Untertanen und für die Menschheit.“

Schmidt hält an der alten These vom Reformer Goethe fest, der sich letztlich nicht durchsetzen konnte: „Die Möglichkeiten des politischen Reformers Goethe waren Mitte der 1780er Jahre ausgereizt, seine Illusionen verflogen“,  dessen „Konzept aufgeklärter Reformen nicht funktionierte“, weil die Widerstände zu groß waren. Worin Goethes Reformkonzept bestand, sagt Schmidt allerdings nicht.

Die These vom Reformer Goethe ist inzwischen widerlegt. Richtig ist, dass Goethe sich in einigen Fällen für die Verringerung von Abgaben ausgesprochen hat, aber beim Herzog auf Granit biss, und dass er bei der Sanierung der Finanzen von Dörfern half. Die Forschungen zu Weimar seit 1990 haben aber auch gezeigt, dass in der ersten Regierungszeit 1775-1786 Herzog Carl August Reformen plante und vorantrieb, die seine „Räte“ nach Kräften zu torpedieren suchten, allen voran Goethe. Dieser sorgte dafür, dass der an Floskeln der Verherrlichung des Herzogs und der Untertänigkeit seiner Beamten reiche Kanzleistil, den August abschaffen wollte, beibehalten wurde. Goethe und die Riege der Regierungs- und Geheimen Räte verhinderte die energischen Anstrengungen Augusts, die Todesstrafe für Kindesmord abzuschaffen. Die Folter, deren Anwendung der Herzog im Fall Maria Rost verbot, wurde nicht per Dekret abgeschafft. Das uralte Strafrechtsbuch, die Carolina, deren Strafen mit einer aufgeklärten Rechtsauffassung unvereinbar waren, blieb in Kraft. 

Nicht nur dadurch ist Schmidts Beschreibung der Beziehung zwischen Goethe und August als Lehrer-Schüler-Verhältnis falsch: „In Weimar gab es einen jungen lernbegierigen Fürsten, der sich beraten und steuern lassen wollte.“ August war sich bewusst, dass er reformieren musste, um das Fürstentum zu erhalten, und suchte dafür einen Mitstreiter, da er den Konservatismus der vorhandenen Beamten kannte. Diesen Mitstreiter glaubte er in Goethe gefunden zu haben. Schon 1772 hatte er sich Wieland als Erzieher selbst ausgewählt. Steuern ließ er sich nicht, er war der Initiator von Reformen. Schmidt hat seine These eigentlich selbst widerlegt, wenn er schreibt, dass sich der junge Herzog „seine Entscheidungsbefugnis jedoch von niemandem nehmen ließ.“

Es wäre Schmidt auch schwer gefallen, ein Reformkonzept Goethes zu beschreiben, denn das gab es nicht. Goethe war im Grunde nur für die Einschränkung der Ausgaben des Hofes, für die Reduzierung des Militärs, für die größere Beteiligung des Adels an den Steuereinnahmen, für die Förderung von Gewerbe, Handel und Wissenschaften. Goethe, eher dem Pazifismus zugeneigt, ist es eine große Genugtuung gewesen, dass er als Sonderbeauftragter die Staatsschulden durch Reduzierung des Militärs in den Griff bekam.

Das reicht aber nicht aus, um vom politischen Reformer Goethe zu sprechen. Er war eher ein politischer Konservator des Bestehenden.

Das alles fehlt bei Schmidt, auch Goethes Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen wie im Fall der Kriminalisierung des Rechtsweges für Untertanen. Über Schiller wurde eine Spitzelakte angelegt, das Geld, mit dem Herder seine publizistische Befürwortung der Französischen Revolution abgekauft wurde, überbrachte Goethe selbst. Er befürwortete die Relegation Jenaer politisch aufmüpfiger Studenten ohne Rechtsverfahren, war für den Einsatz von Militär bei sozialen Unruhen.

Schmidt beschönigt, ja verfälscht diese Politik mit seinem Satz: „Das Trio Carl August, Goethe und Voigt erhielt jedoch den Musenjüngern [gemeint sind die Theaterdichter] ihre Freiräume, die nur eingeschränkt wurden, wenn die wissenschaftliche Meinung in politische Aktion umschlug und die bestehende Ordnung gefährdete.“ „Nur“ dann wurde Zensur ausgeübt und diszipliniert! Eine solche Aussage eines Historikers ist unter Wert.

Den Verkauf von Gefängnisinsassen und Bettlern als Soldaten an England für dessen Kampf gegen die amerikanischen Konföderierten beschönigt Schmidt: „Den Verkauf Weimarer Soldaten in fremde Dienste hat es unter Carl August nicht gegeben.“ „Bettler, Landstreicher oder Straftäter, die den Nützlichkeitsgeboten nicht entsprachen, wurden hingegen Werbern übergeben. Das war gängige Praxis und für die Betroffenen die Chance auf ein besseres Leben.“ Die Chance bestand darin, als Soldat totgeschossen zu werden. Da Männer dieser drei Gruppen auch Untertanten des Staates Sachsen-Weimar-Eisenach waren, handelt es sich sehr wohl um den Verkauf von Landeskindern als Soldaten für den Krieg. W. Daniel Wilson hat geurteilt: Sachsen-Weimar verkaufte, mit Goethes Beteiligung, Soldaten für den Krieg gegen die Kolonisten nach Amerika, „zu einem Zeitpunkt, als Goethe den Soldatenhandel Hessens kritisierte“. Das Aktenmaterial liege, sagt Wilson, unausgewertet im Weimarer Staatsarchiv. Goethe war beteiligt an der Regierungspraxis, Oppositionelle als Unmündige, Unvernünftige und im Geist „Verrückte“ zu diffamieren, um gegen sie schärfer vorgehen zu können, wie Wilson an Akten nachgewiesen hat.

Dass Goethe bewusst war, an inhumanen Beschlüssen beteiligt zu sein, geht daraus hervor, dass er Akten und Briefe vernichtet hat, die ihn eventuell belasten könnten, so im Fall Lenz und aus dem Jahr 1793. Nicht nur in Dichtung und Wahrheit hat Goethe sich selbst zum edlen Menschen stilisiert, sondern sein Bild gelebter Humanität auch durch die Vernichtung von Belastungsmaterial reinzuhalten versucht.

Werther

Defizite hat Schmidts Darstellung auch bei den literarischen Werken. Zwar wertet er Goethes Tragödie Torquato Tasso als politisches Drama und geht auf die Frage der Autonomie der Kunst ein. Für den Werther hat er nur vier Zeilen übrig. Der Roman handelt für Schmidt von einem jungen Mann, dessen Liebe „unerfüllbar ist, vor dem ein tristes bürgerliches Leben liegt und der als Ausweg den Freitod wählt.“ Das ist nicht nur zu wenig, sondern krass falsch. Warum dieser Roman ein viel beachteter Weltroman wurde, erklärt Schmidt nicht.

Der Werther-Roman hat zum Thema den drohenden Zerfall des Persönlichkeitskerns der Titelfigur, deren psychisches Schicksal repräsentativ ist für die latente Instabilität des bürgerlichen neuzeitlichen Subjekts. Der Roman ist nach Shakespeares Hamlet die herausragendste Darstellung der Fragmentierung des Selbst als zentrales Problem des freien, autonomen, selbst verantwortlichen Individuums. Die Liebesgeschichte im Werther ist keineswegs die oder eine Ursache, im Gegenteil: sie schiebt die Tat der Selbsttötung auf, die sich in zwei Briefen schon vor der Begegnung mit Lotte abzeichnet.

Dass Schmidt auch die biographische Bedeutung fortlässt, bringt ihn um die Darstellung der psychischen Entwicklungsgeschichte Goethes. Lotte steht für eine Reihe von Frauen: Charlotte Buff war die historische Figur, mit der Goethe das Publikum auf die falsche Fährte lockte. Mit ihr hatte er weder ein Liebesverhältnis, noch Probleme. Ernster ist schon, dass die schwarzen Augen Lottes im Roman auf Maximiliane Brentano verweisen, die verheiratete Tochter von Sophie La Roche, in die Goethe Anfang der 1770er Jahre in Frankfurt verliebt war, ein skandalträchtiger amour fou: Brentano verbot Goethe sein Haus. Dahinter noch steht Cornelia, Wolfgangs nur wenig jüngere Schwester. Die Geschwister verband eine psychisch inzestuöse Liebe, die nicht lebbar war. Diese seit 1903 bekannte Tatsache ist die Ursache für Goethes Liebesprobleme. Bei Cornelia führte die Fixierung an ihren Bruder zum frühen Tod. Sie heiratete Johann Georg Schlosser, den damals engsten Freund des Bruders, als dessen Surrogat, und ging mit ihm nach Emmendingen, wo Schlosser als Amtmann hoher Beamter der Markgrafschaft Baden war. Die Sache ging schief. Als Cornelia krank wurde und Wolfgang um Hilfe anflehte, beendete dieser den Kontakt abrupt. Seine Schwester starb am 8. Juni 1777, mit 26 Jahren, ein Trauma für Wolfgang, das er nie verwunden hat.

Seine Liebesversuche, das sexuell asketische Verhältnis zu der verheirateten Charlotte von Stein, die sinnliche Liebe zu der attraktiven Römerin, die Goethe Faustina nannte, bis zur „wilden“ Ehe mit Christiane Vulpius sind davon geprägt. Charakteristisch für das männliche bürgerliche Individuum, floh Goethe infolge seiner Liebesprobleme in Arbeitswut. In einer zehnjährigen Psychotherapie unter der Anleitung von Charlotte von Stein wurde er geheilt. Erst dann konnte er seine Rolle als Staatsdiener unterbrechen und nach Italien gehen, in das mit dem Vater belastete Sehnsuchtsland, in dem er sich wiedergeboren fühlte und eine schuldfreie Liebe fand. Das alles steht in der großen psychologischen Studie von Kurt Robert Eissler, die Schmidt nicht zur Kenntnis nimmt.

Wilhelm Meister und Faust

Ebenso oberflächlich ist Schmidts Darstellung der Wilhelm Meister-Romane. Seine kurze Skizze vermittelt in keiner Weise, warum die „Lehrjahre“ große Begeisterung bei den Romantikern auslösten. Kein Wunder, denn Schmidt lässt die originellste Figur – Mignon – einfach weg. Halb Knabe, halb Mädchen, halb Kind, halb Erwachsene, Kind aus einem Inzestverhältnis, ist sie die rätselhafteste Figur des Romans. Sie ist es, die das berühmte Lied der Italiensehnsucht singt: „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“…. Der Roman lebt aus der Spannung der sich sozial nicht integrierenden, auch psychologisch nicht fassbaren Mignon und deren biederem Gegenpart Wilhelm Meister.

In seiner Darstellung des Faust-Dramas, mit dem Schmidt schließt, betont er, neben den bereits zitierten Thesen, die Ruhe des schönen Augenblicks in der Wettformel: „Verweile doch, du bist so schön“ und greift damit die inzwischen zur Mode gewordenen These von Goethes Kritik an der „veloziferischen“ Rastlosigkeit der Moderne auf. Ohne Kritik meint Schmidt: „In ‚Faust II‘ siegt die ausgleichende Ordnung von Kaiser und Reich. Sie bot, sofern jeder seine Pflichten erfüllt, Gewähr für eine funktionsfähige  und Freiheit sichernde Staatlichkeit.“ Die umfassenden Darstellungen von Gesellschaft in Faust II und in den „Wanderjahren“ würdigt Schmidt nicht.

Christiane Vulpius

Misslungen ist das Porträt von Christiane Vulpius, weil aus ihm die wechselseitige Faszination nicht deutlich wird. Zwar setzt Schmidt die alte These vom schönen Dummchen, das dem großen Mann nicht das Wasser reichen kann und ihn ruiniert, nicht platt fort und wertet ihre Herkunft auf, stellt aber mit einem Zitat der 5. Römischen Elegie, die er fälschlich auf Christiane bezieht, das Verhältnis von Goethes Seite als allein sinnlich sexuelles dar und bedient Klischees: Goethe habe „Ruhe und Geborgenheit in seiner häuslichen Umgebung“ gesucht. „Mit Goethes amtlichen Aufgaben, seinen Forschungen und seinen Freunden verband sie wenig.“ Erwähnt wird ihre Theaterleidenschaft, dass sie mit dem Geld nicht zurechtkam, Intrigen meisterte, „sich im Hintergrund und Goethe den Rücken frei“ hielt.

Das ist weit unter dem Stand der Forschung. Hier rächt sich, dass Schmidt Eisslers umfassende psychoanalytische Goethe-Studie nicht zur Kenntnis nimmt und auch Sigrid Damms Bestseller Christiane und Goethe. Eine Recherche von 1998 ignoriert. Es fehlt die erste Begegnung, die Goethes Liebe auslöste: Sie kam im Park auf Goethe zu und bat für ihren Bruder. Damit berührte sie Goethes Trauma mit Cornelia. Eine Schwester bittet für ihren Bruder: das traf Goethe bis ins Mark. Warum er Christiane aber nicht heiratete, wenn ihre Familie doch Goethe ebenbürtig war, sondern sein Liebesverhältnis unlegitimiert im Gartenhaus lebte und Christiane damit einen großen gesellschaftlichen Schaden antat, erörtert Schmidt nicht; das Gartenhaus wird nicht einmal erwähnt. Auch die Ursachen für Fluchten nach Jena lässt Schmidt fort, obwohl er die längeren Aufenthalte Goethes in Jena erwähnt – 1795 waren es 68 Tage. Goethe hat Christiane erst geheiratet, als er sie nicht mehr liebte.

Aus dem Briefwechsel zwischen Goethe und Christiane, den Schmidt ignoriert, geht hervor, dass Goethe sie über seine Dichtungen informierte, also keineswegs als ungebildetes Dummchen behandelte. Christiane kannte seine Dichtungen. Sie hat alle Aufführungen von Goethes Dramen im Theater erlebt. Das Porträt von Christiane ist auch unvollständig, weil Schmidt auf Goethes offenbar von Schuldgefühlen belastetes Verhältnis zu seinem Sohn August – der Name nach dem Herzog! – nicht eingeht, den Goethe psychisch ruiniert hat, als subalternen Sekretär behandelte, auch dadurch, dass er ihm, psychisch gesehen, die Ehefrau wegnahm. Nicht einmal die Machenschaften des Vaters, der verhinderte, dass August in den Freiheitskriegen Soldat wurde, wie dieser wollte, berichtet Schmidt. August wird einmal als Baby erwähnt, das ist alles.

Friedrich Schiller

Am ehesten gelungen ist das ausführliche, auf mehrere Kapitel verteilte Schiller-Porträt, das den Wandel zwischen Kabale und Liebe, dem einzigen Drama, „in dem Schiller die sozialen Verhältnisse seiner Zeit direkt thematisiert“, über die idealistische Ästhetik der 1790er Jahre bis zum phänomenalen Erfolg des späten Tell-Dramas darstellt, mit dem Schiller zum nationalen Heros wurde. Erfasst wird der politische Wandel, wenn auch nur undeutlich. Schiller war der politisch aktivste Revoluzzer unter den Schriftstellern, die sich später in Weimar einfanden. Nicht von ungefähr wurde er Ehrenbürger der französischen Republik. Bis zum Don Carlos 1787 ist er ein politischer Schriftsteller. Danach kippt er um, wird konservativ, ängstlich darum bemüht, dass ihm ja nicht Sympathien für die Französische Revolution nachgesagt werden, und unterschreibt im Juli 1792 mit acht anderen Jenaer Professoren das Gesuch, Husaren nach Jena zu verlegen und notfalls gegen die revoltierenden Studenten mit Gewalt vorzugehen.

Schmidt versucht, den klassischen Schiller zu retten. Gleich zweimal sagt er: „Seine Gedanken zur ästhetischen Erziehung machen Schiller nicht zu einem unpolitischen Dichter, der sich in idealistischen Spekulationen verliert.“ Schiller hielt am Ziel einer freien Gesellschaft fest. „Allerdings benötigte die ästhetische Erziehung eine äußere Ordnung, da Freiheit den Pöbel zügellos mache. Nur der Zwangsstaat, Garant von Recht und Gesetz, konnte den Rückfall  in die Barbarei verhindern und wurde benötigt.“ Freiheit durch Gewalt. Mit dieser Formel bringt Schmidt Schillers Denken während der Revolutionszeit auf den Punkt. Nur passt der beschönigende Schlusssatz des Kapitels nicht dazu: „Die von ihm maßgeblich mitbestimmte klassische Ästhetik begründete jedenfalls die Hoffnung, im zweckfreien Spiel der Kunst werde in den Köpfen der Menschen die Humanität siegen“. Dass dies eine Illusion war, sagt Schmidt selbst mit Mandelkows These, Neoklassizismus und Neohumanismus „seien ‚Vorreiter und Dekor der Barbarei‘ gewesen.“ „Goethes Weimar habe Buchenwald nicht verhindert“.

Leider geht Schmidt auf Schillers klassische Werke nicht ein, die von einer bemerkenswerten politischen Naivität sind. Naiv sein Glaube, dass sich Weltgerechtigkeit durch alle Ungerechtigkeit hindurch vollzieht (Maria Stuart, Die Kraniche des Ibykus), naiv die Vorstellung, ein Tyrann werde durch ein Beispiel von brüderlicher Freundschaft und Verlässlichkeit bekehrt (Die Bürgschaft), naiv die Vorstellung, ästhetische Erziehung könne zu einer Idealgesellschaft führen. Das Gemälde triefender bürgerlicher Ordnung in der Ballade Die Glocke führte bei Caroline Schlegel und Dorothea Veit beim Treffen der Romantikerinnen und Romantiker in Jena im Oktober 1799 zu einem Lachanfall. Sie seien „fast von den Stühlen gefallen vor Lachen“.

Weltbild und Literatur der Klassik

Schmidt hat sich Überlegungen zum kompensatorischen Charakter von Kunst und Weltbild der deutschen Klassik erspart; Adorno wird nicht zitiert. Die deutsche Klassik, entstanden als Reaktion auf die Französische Revolution, versuchte ein Gegenbild zum drohenden Zerfall der alten Gesellschaft aufzurichten. Die Idee, durch Formstrenge literarischer Werke bis zur Archaik von Homers Hexametervers die Revolution abzuwehren, konnte den Widerspruch zwischen dem Weltbild der Kunstwerke und der Wirklichkeit nicht auflösen.

Die Hinrichtung von Johanna Höhn

Schmidts gravierendstes Versäumnis ist das Übergehen des Kindesmordfalles Johanna Catherina Höhn. Ihre Hinrichtung, der „Staatsmord“ (Johann Joachim Christoph Bode) am 25. November 1783 war in Weimar das weit herausragende Ereignis des Jahres. Carl August wollte Johanna Höhn begnadigen, Goethe hat das verhindert. Thomas Mann hat in seiner Festrede zum 100. Todestag Goethes 1932 die Tatsache einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. In seinem im Oktober 1783 veröffentlichten Gedicht Edel sei der Mensch, hilfreich und gut hat Goethe die Beibehaltung der Todesstrafe für Kindesmord und die Hinrichtung von Johanna Höhn gerechtfertigt.

Schmidt  erzählt Pikantes wie die unterhaltsame Ehebruchs-, Scheinsterbeposse-, Flucht-, Scheidungs- und Wiederverheiratungsgeschichte von Emilie von Werthern, nicht aber den Tod von Johanna Höhn. Verschwiegen werden auch die anderen Kindestötungen, das Todesurteil gegen Dorothea Altwein zwei Jahre zuvor und die Milderung in eine lebenslange Zuchthausstrafe durch Herzog Carl August. Ebenso wenig zur Sprache kommt der Fall Maria Rost 1783, bei der der Jenaer Schöppenstuhl Folter anordnete, der Herzog dies verbot und ohne Gerichtsbeschluss lebenslängliche Zuchthausstrafe verfügte. Schmidt übergeht auch die Weimarer Diskussion um die Verhinderung von Kindestötungen unmittelbar nach der Geburt.

Das Accouchierhaus

Verschwiegen hat Schmidt das Thema Prävention des Kindesmords auch in seiner Darstellung der Einrichtung des sogenannten Accouchierhauses in Jena, das 1774 konzipiert und 1779 eröffnet wurde. Schmidt nennt das Haus „die zweitälteste deutsche Lehranstalt für Geburtshilfe“ und berichtet, „dass zeitweise alle unehelich Schwangeren aus dem ganzen Herzogtum im Jenaer Accouchierhaus entbinden mussten.“ Das galt natürlich nicht für die Mätressen des Herzogs wie Caroline Jagemann oder für Goethes Geliebte Christiane Vulpius.

Die Problematik dieser Einrichtung ist für Schmidt kein Thema. Bei den betroffenen Frauen war das Accouchierhaus verrufen. Die Schwangeren empfanden es nicht als Hilfe, sondern als Gefängnis. Sie mussten sich von Medizinstudenten betatschen lassen. Ventzke berichtet von einem Vater, der sich über die Behandlung seiner Tochter in dem Haus beschwert. Als der Medizinprofessor Christian Gottfried Gruner 1781 das Gebärhaus kritisiert, wird er vor das Geheime Consilium zitiert und gemaßregelt.

Inzwischen haben Forschungen ergeben, dass solche Zwangsgebäranstalten die Lage der ledigen Mütter verschlimmerten. Denn wenn sie aus der Anstalt entlassen wurden, standen sie oft völlig mittellos dar. Wenn sie dann ihr Kind umbrachten, weil sie es nicht aufziehen konnten, war es keine Kindestötung unmittelbar nach der Geburt, sondern Verwandtenmord, was noch schwerer wog.

Zu den drei Kindesmordfällen in Weimar 1781/83 gibt es seit 2004 zwei Publikationen mit den Dokumenten, meine Ausgabe erschien 2020 in einer erweiterten zweiten Auflage. Zum Kindesmord fehlen bei Schmidt die grundlegende Arbeit von Regina Schulte, Das Dorf im Verhör, und die neueren Forschungen von Marita Metz-Becker und Michael Schmidt.

Die Jenaer Universität, die Logen

Bei der Universitätspolitik erzählt Schmidt, gestützt auf Rudolf Müllers Buch, die staatlichen Eingriffe. Herzog Carl August und sein Geheimrat Goethe versuchten in der Revolutionszeit, die aus der Frühneuzeit stammenden Formen der Selbstverwaltung zu zerschlagen und die Universität zu einer weisungsabhängigen Behörde der Regierung herabzusetzen. Damit wurden zugleich Vorformen demokratischen Handelns zerstört. Ein Ereignis in Jena war der spektakuläre Auszug von 3-500 Studenten aus Jena am 19. Juli 1792 als Protest gegen die Einschränkung ihres Rechts auf Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, auf den Schmidt nicht eingeht und damit auch nicht auf Goethes Befürworten gewaltsamer Unterdrückung.

Wenn Schmidt sein Kapitel mit „zukunftsweisende Universitätsreformen“ überschreibt, beschönigt er stark.

Ähnliche Beschönigungen finden sich bei der Politik der Weimarer Regierung gegen die Logen, wo Schmidt zwar Wilson mit seiner These zitiert, Goethe, Carl August und Loder traten nur in die Orden ein, um die Logen stillzulegen, aber nur fragt: „Wollten Goethe und der Herzog den Orden überwachen und verhindern, dass er sich in die Politik einmischte?“ Die Antwort bleibt aus. Auf historisch systematische Erörterungen zum Freimaurertum im 18. Jahrhundert lässt sich Schmidt nicht ein. Die Literatur dazu, etwa von Jens Riederer, fehlt.

Der schöne Schein 

Beim Anathema Schöner Schein basiert Schmidts Darstellung auf einem zu weitgehend entpolitisierten Begriff von Kunst und Literatur. Es fehlen Bemerkungen zur Entwicklung der Öffentlichkeit und speziell der literarischen Öffentlichkeit, deren politische Dimension immer weiter wuchs. Ebenso vermisst man bei der Darstellung des Weimarer Hoftheaters Bemerkungen zu den Ursachen der Theatromanie im 18. Und 19. Jahrhundert. Das Theater geriet seit dem 17. Jahrhundert zum primären Ort der öffentlichen Diskussion über Probleme der Gesellschaft und zerstörte dadurch das Monopol der Weltauslegung durch die kirchliche Kanzel. Ein anschauliches Beispiel für den Kampf zwischen Bühne und Kanzel im 18. Jahrhundert bieten die miteinander verschränkten Biographien von Christlob Mylius und Lessing. Außerdem wurde es ein Ort der öffentlichen Politisierung. Marquis de Posas Aufforderung an König Philipp II.: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ löste mitunter Begeisterungstürme beim Publikum und Tumulte im Theater aus, bis hinein in die Geschichte der DDR.

Frauen in Weimar

Angemessen wäre auch ein Kapitel über die Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben gewesen. Außer Anna Amalia und der Herzogsgattin Luise nennt Schmidt Louise von Göchhausen, Emilie von Werthern, Friederike Sophie Eleonore von Schardt als Beiträgerinnen für des Tiefurter Journal, Charlotte von Schimmelmann, die Schauspielerinnen und Sängerinnen Caroline Jagemann und Corona Schröter. Schmidt porträtiert Maria Pavlovna, die angeheiratete reiche russische Zarentochter und Großfürstin, die sich mit ihrem Geld in die Kulturpolitik Weimars einmischte, auch einen Frauenverein gründete, und Germaine de Staël, die im Winter 1803-04 in Weimar wohnte und danach noch zweimal aufkreuzte. Sie war die Vertreterin der These von Weimar-Jena als deutscher Kulturhauptstadt.

Es fehlen aber Ausführungen zu den geringeren Chancen bürgerlicher, auch adeliger Frauen, das öffentliche Leben mitbestimmen zu können. Das bedrückende Bild der totalen Männerherrschaft zeigte sich etwa im „Adreßkalender“ für Weimar von 1783, in dem alle Mitglieder von Regierung und Behörden namentlich genannt sind. In der Weimarer Verwaltung gab es nicht einmal in dem späteren Frauenberuf Sekretärin eine besoldete Frau, auch keine Kopistin. Später wurde dann eine „Kustodin“ eingestellt. Bezeichnend, dass das „Tiefurter Journal“, die Zeitschrift Amalias, nur in elf handgeschriebenen Exemplaren intern verbreitet wurde, nicht aber als gedruckte Zeitschrift.

Es fehlt auch ein Porträt von Charlotte von Stein (1742-1827), die zwar mehrmals erwähnt wird, aber nur in zwei Briefzitaten zu Wort kommt. Sie verband sich mit Goethe, dem jungen Star der neuen Regierung, um mehr Einfluss auf die Politik des Herzogs zu gewinnen. Sie hat auch Dramen verfasst.

Der Ausschluss bürgerlicher Frauen von der politischen Bühne war äußerst rückschrittlich. Inzwischen hatten Frauen längst Po­sitionen in der Wirtschaft erobert wie die von Schmidt erwähnte Weimarer Fabrikantin von Hanfschläuchen Johanna Maria Buchholz, allgemein „Dr. Buchholzin“ genannt.

In die Öffentlichkeit traten Frauen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Schriftstellerinnen auf wie die berühmte Sophie von La Roche, die seit ihrem ersten Erfolgsroman die erste deutsche Berufsschriftstellerin wurde. Ein Porträt dieser hoch intelligenten Frau, die nicht nur durch ihre Verlobung mit Wieland zum „Ereignis Weimar-Jena“ gehört, sondern auch weil sie von den Stürmern und Drängern hoch verehrt wurde, allen voran von Goethe, lässt sich Schmidt entgehen. Ihr erster Heiratskandidat, der italienische Arzt Bianconi, wollte eine Laura Bassi aus ihr machen – jenes Wunderkind, das mit 8 Jahren bereits perfekt in Latein war, als Frau (!) 1732 in Philosophie promoviert und mit 22 (!) Jahren an der Universität Bologna Professorin wurde, später Vorlesungen in Physik hielt und – wie Voltaire und Emilie du Châtelet (1706-1749) in Frankreich – für Newtons Physik in Italien warb. Das Vorhaben der Verehelichung scheiterte, weil der protestantische Vater Gutermann und der katholische Bianconi sich über die Konfession der zu erwartenden Kinder zerstritten. Später hat sich Goethe abfällig über sie geäußert:

Frau v. la Roche […] gehört zu den nivellierenden Naturen, sie hebt das Gemeine herauf und zieht das Vorzügliche herunter und richtet das Ganze alsdenn mit ihrer Sauce zu beliebigem Genuß an;  übrigens möchte man sagen, daß ihre Unterhaltung interessante Stellen hat. (An Schiller, 24. Juli 1799)

Das sagt Goethe über eine Schriftstellerin, die in ihren vielen Romanen und Erzählungen Frauenschicksale dargestellt und die Ehe für die Frau als Sklaverei bezeichnet hat. 

Der Frauensalon

Es ist unverzeihlich, dass Schmidt den Salon von Johanna Schopenhauer nicht erwähnt, die 1806 mit ihrer Tochter Adele nach Weimar zog und dort mit ihren wöchentlichen Teegesellschaften den ersten bürgerlichen, von einer Frau geführten Salon in Weimar schuf, jener im 18. Und 19. Jahrhundert in ganz Europa charakteristischen Form halböffentlicher Teilnahme von Frauen am öffentlichen Leben. Sophie La Roche unterhielt in den 1770er Jahren in Koblenz einen deutschlandweit berühmten literarischen Salon. Goethe war bei Johanna Schopenhauer Stammgast, Adele nannte ihn zeitlebens „Vater“. Johanna lud Goethes Frau Christiane ein und verschaffte ihr damit, nach vielen Jahren demütigender Ausgrenzung, Eingang in die Weimarer Gesellschaft. J. Schopenhauer schrieb und veröffentlichte Novellen und Romane, ebenso später ihre Tochter Adele. Ihre jeweils dreibändigen Romane Gabriele und Sidonie, noch zu Lebezeiten Goethes erschienen, wurden beachtet. Ihr Salon bestand bis 1832.

Sophie Mereau

Wie die Weimarer Klassiker mit Konkurrentinnen umgingen, zeigt das Beispiel von Sophie Mereau. Schmidt widmet ihr sieben nichts sagende Zeilen und reiht sie ein in die Riege der von Schiller geförderten Schriftstellerinnen Friedrike Brun, Amalie von Imhof, Elisa von der Recke und Luise Brachmann, ferner Caroline von Wolzogen. Dass er überheblich über Sophie Mereau urteilte, lässt Schmidt weg. Über ihren Roman Amanda und Eduard schrieb Schiller z.B. am 30. Juni 1797 an Goethe:

Sie fängt darin an, sich von Fehlern frei zu machen, die ich an ihr für ganz unheilbar hielt, und wenn sie auf diesem guten Wege weiter fortgeht, so erleben wir noch was an ihr. Ich muß mich doch wirklich darüber wundern, wie unsere Weiber jetzt auf bloß dilettantischem Wege, eine gewisse Schreibgeschicklichkeit sich zu verschaffen wissen, die der Kunst nahe kommt.

Aber keine Kunst ist. Schillers anmaßende Abschiebung Sophie Mereaus in die Klasse der Dilettanten ist überheblich und falsch. Sophie Mereau verdiente mit ihren Dichtungen ihren Lebensunterhalt, war erfolgreicher als Schiller. Sie konnte von ihrer literarischen Tätigkeit leben, war also eine Berufsschriftstellerin. Auch Goethe setzte Sophie Mereau herab und sprach von ihr als „der kleinen Schönheit“ (15. Oktober 1796, an Schiller).

Dass es bei Schmidt kein Kapitel über Frauenemanzipation gibt, ist nicht verwunderlich. Sein Buch ist mit konservativer Verteilung der Geschlechterrollen entstanden, er als Autor, seine Ehefrau als Helferin. Hätte er seiner Frau das fehlende Kapitel über den Umgang mit Kindestötung in Weimar eingeräumt, hätte sein Buch vielleicht ein anderes, glaubwürdigeres Gesicht erhalten.

Zu beklagen sind leicht vermeidbare Mängel im Literaturverzeichnis. Ein größerer Teil der zitierten Titel erscheint bibliographisch nur in den Anmerkungen. Das kann man machen, wenn der Titel nur einmal zitiert wird, marginal ist und das Literaturverzeichnis sehr umfangreich. Das trifft aber bei Schmidt nicht zu. Die beiden wichtigen Bücher von Wilson zum Umgang der Weimarer Regierung mit den Logen gehören in das Literaturverzeichnis. Mehrere von Forscherinnen verfasste Aufsätze fehlen im Literaturverzeichnis, das dadurch den Anteil von Frauen an der Weimar-Forschung nicht richtig widerspiegelt.

Weimar-Jena heute

Schmidts Darstellung von 60 Jahren Weimar-Jena um die Wende zum 19. Jahrhundert ist ein gut lesbares, gefälliges Buch, verfasst mit dem Willen zu mehr Realistik gegenüber der hartnäckigen Idealisierung. Schmidt relativiert den Mythos Weimar, aber seine Darstellung schwankt zwischen historischer Wahrheit und Beschönigung, wie auch sein Schlusssatz zeigt:

Schillers Freiheit, Goethes geselliges Miteinander, Herders Humanität oder Wielands Verfassungspatriotismus könnten dem verblassenden Mythos Europa kosmopolitisch ein wenig auf die Sprünge helfen. Das ‚Ereignis Weimar-Jena‘ hat als Aufklärung im Geleit der Musen und durch die Fährnisse der Moderne weit mehr zu bieten als die endlosen Diskussionen um eine deutsche Klassik und eine europäische Romantik oder die retrospektive Beschwörung des deutschen Geistes.

Titelbild

Georg Schmidt: Durch Schönheit zur Freiheit. Die Welt von Weimar-Jena um 1800.
Verlag C.H.Beck, München 2022.
384 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783406785566

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch