Präsente Absenz, lebendig Tote und körperlose Körper
Colombe Schneck bearbeitet Paradoxa in den autofiktionalen Kurzromanen der „Paris-Trilogie“
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNach dem Studium der Politikwissenschaften am renommierten Pariser Institut d’études politiques (IEP) arbeitete Colombe Schneck zunächst als Journalistin, bevor sie sich auf das Schreiben meist kurzer Romane konzentrierte. Einzig La réparation (2012) wurde vor der nun vorliegenden Trilogie ins Deutsche übersetzt: Die Erschütterung (2018). Die Autorin verfolgt die Spuren ihrer Tante Salomé, Cousine ihrer Mutter, die 1943 als Dreijährige in Auschwitz ermordet wurde.
Auf andere Weise tragisch verlief das Schicksal des Großvaters väterlicherseits, den Colombe Schneck 2006 in ihrem ersten Buch, L’increvable Monsieur Schneck (zu übersetzen eventuell als „Der unsterbliche Monsieur Schneck“, eigentlich „der nicht tot zu kriegende […]“), thematisierte. Max Schneck verschwand 1949. Nachdem er ermordet worden war, wurden die Teile seiner Leiche angeblich in einem blutverschmierten Koffer transportiert.
Mit Dix-sept ans (2015), La tendresse du crawl (2019) und Deux petites bourgeoises (2021) fokussiert Colombe Schneck ihre eigene Biografie. Warum diese dezidiert autofiktionalen Romane in Novellenlänge im Deutschen, Englischen, Spanischen und Niederländischen als „Paris-Trilogie“ erscheinen, in ihrer Originalsprache hingegen nicht, und warum darüber hinaus die Chronologie der Romane zwei und drei vertauscht wurde, gibt Anlass zu Spekulationen. Dass diese Titel nicht einfach zu übersetzen sind – nur im Spanischen passt Ähnliches – und daher eine akzeptable Lösung gefunden werden musste, lässt sich nachvollziehen. Ob es anstatt Freischwimmen und Zwei Bürgertöchter bessere Optionen gegeben hätte, sei dahingestellt. Swimming. A Love Story und Friendship könnten gleichermaßen kritisiert werden.
Was in der deutschsprachigen Trilogie, im Gegensatz zumindest zur englischen und spanischen Übersetzung, fehlt, ist ein Vorwort, das Colombe Schneck eigens für die Taschenbuchausgabe von Dix-sept ans und La tendresse du crawl (beide in einem Band, 2022) verfasst hat. Aus ihm erhellt, dass diese zwei Romane das Coming-of-Age der Autorin bilanzieren. Sie seien „der Bericht von diesem Lernprozess: das ist mein lebendiger Körper, das ist meine lebendige Seele; das Lernen einer einzigartigen Person in Bewegung, die Colombe Schneck heißt.“
Im Klappentext zur Paris-Trilogie schnurrt dieser lange (hier wörtlich übersetzte) Satz zu „Diese Texte haben mich von Grund auf verändert. Sie sind mein lebendiger Körper, mein lebendiger Geist“ zusammen. Schade, ganz abgesehen von der falschen grammatikalischen Zuordnung, die beim Kondensieren oder beim Übersetzen aus dem Englischen passiert ist.
Wenn man diese irritierenden Ungenauigkeiten außer Acht lässt, stellt sich vor der eigentlichen Lektüre nur noch die Frage, warum Siebzehn Jahre in der deutschen Ausgabe Annie Ernaux, in der französischen Taschenbuchausgabe jedoch „meinem Vater“ gewidmet ist. Gute Argumente lassen sich für beide finden: Schneck verdeutlicht immer wieder, dass ihr Vater präsenter und empathischer war als ihre Mutter. Für Annie Ernaux spricht, dass sie in einer ihrer Autofiktionen, L’événement (2000, dt. Das Ereignis, 2021), dasselbe Thema, den Abbruch einer Schwangerschaft mit all seinen Implikationen, in den Mittelpunkt stellt. 36 Jahre hat Annie Ernaux gebraucht, noch 31 die 26 Jahre jüngere Colombe Schneck, bevor sie über das unsägliche, existenziell aufwühlende und schambehaftete Ereignis schreiben konnten. Im Gegensatz zu Annie, die aus prekären Verhältnissen stammt, lebt Colombe in einer liberalen Intellektuellenfamilie. Das Ärzt:innenehepaar hat nichts dagegen, dass ihre Tochter sich regelmäßig mit Vincent, ihrem „Geliebten“, einem gleichaltrigen Jungen, trifft. Mit der Pille wähnt sich Colombe in Sicherheit. Sie vergisst die regelmäßige Einnahme. Als sie feststellt, dass sie schwanger ist, vertraut sie sich ihren Eltern an. Kurz nachdem sie ihre Abiturklausuren geschrieben hat, findet der Abbruch in einem Krankenhaus statt, in dem ihr Vater gelegentlich Vertretungsdienst leistet.
Einige Wochen später trennt sich Colombe von Vincent. Auf einer Feier 30 Jahre später ist er Familienvater. Obwohl Colombe nun selbst Mutter zweier wundervoller Kinder ist und auf viele ereignisreiche Lebensjahre zurückschaut, hat sie der Gedanke an die Abwesenheit des nicht geborenen Kindes nie losgelassen.
Der Titel Zwei Bürgertöchter bezieht sich auf die Freundinnen Colombe und Héloïse. Sie kennen sich seit der sechsten Klasse, die sie gemeinsam in der École Alsacienne, „Pariser Privatschule für liberale Bürgerliche“, besuchten. „Sie sind Papatöchterchen, Reichenkinder, Silberlöffel im Mund […] Sonnenbrillen, agnès-b.-T-Shirts, die besten Plätze im Zug“ – nichts fehle ihnen. Bei aller Ähnlichkeit von außen sind die Unterschiede zwischen den Mädchen beträchtlich: Héloïses Eltern gehören zur alteingesessenen Großbourgeoisie, von mütterlicher Seite her gar zur Aristokratie, während Colombe aus einer jüdischen Migrant:innenfamilie stammt, deren soziale Herkunft sich nicht genau bestimmen lasse. Beide Mädchen streben nach Perfektion, studieren Politikwissenschaften, heiraten und bekommen jeweils zwei Kinder. Nachdem sie sich einige Jahre nicht so oft gesehen haben, verbringen sie wieder gemeinsam einen Urlaub in Saint Tropez. Beide trennen sich von ihren untreuen Ehemännern.
Mit knapp 50 Jahren erkrankt Héloïse an Krebs. Nach vielen gescheiterten Therapieversuchen stirbt sie, wie sie gelebt hat, „nicht wütend über den Verrat ihres Körpers und die Unfähigkeit der Ärzte, sie zu heilen“. Sie akzeptiere das nahende Ende, so, wie sie sich immer „den Regeln unterworfen“ habe, „dem, was man von ihr erwartete“. Sie sei in der Lage, am medizinischen Diskurs über ihre Krankheit zu partizipieren und sich in das Unvermeidliche zu fügen. Héloïse, so Colombes Fazit, sei „lebendig gestorben, wo es so viele tote Lebendige mit monotonem, schlaffem Leben ohne Begehren“ gebe.
Die Zärtlichkeit des Kraulens – so der eigentliche Titel von Freischwimmen. Dort, wo man eine Hymne auf einen Schwimmstil erwartet, dominiert eine Liebesgeschichte, an deren Ende sich die Metapher der Schwimmbewegungen offenbart, eine „flüssige Zärtlichkeit“, eine Choreografie der Spiritualität im Materiellen des Körpers, in der Lebenskämpfe und Paradoxa verschwinden.
Colombe und Gabriel haben sich als Jugendliche über ihre Mütter kennengelernt, verlieren dann aber den Kontakt zueinander. 35 Jahre später sehen sie sich wieder und verbringen „neun Liebesmonate“ zusammen. Mit Gabriel lernt Colombe ihren Körper kennen, von dem sie behauptet, ihn als Jugendliche vergessen zu haben. Nach vielen Jahren mit negativen Körpererfahrungen findet sie sich plötzlich liebenswert, selbst dann noch, als die Beziehung zu Gabriel der Vergangenheit angehört.
Wer alle drei Texte vereint, ist die Protagonistin, die zufälligerweise in Paris lebt. Doch der Schauplatz und alles, was mit ihm assoziiert werden könnte, eine ganze Palette möglicher Life-Style-Attribute, schließen sich im Titel „Paris-Trilogie“ nur zu einem seichten Hyperonym zusammen. Zwar spielen, um mit Pierre Bourdieu zu sprechen, die „feinen Unterschiede“ eine gewisse Rolle. Angehörige des französischen Großbürgertums, all jene, die in den gentrifizierten Stadtvierteln wohnen und danach streben, sich zu distinguieren und von anderen zu separieren, legen Wert auf sie. Nichtsdestoweniger residiert die eigentliche Aussage der drei Romane im Abseits soziohistorischer und soziourbaner Erwägungen, obgleich Schneck in Zwei Bürgertöchter sogar eine fiktive Soziologin, eine Meinungsforscherin, auftreten lässt, der Colombe und Héloïse als Beispiele für ihre qualitativen Studien zum Bürgertum dienen.
Unter keinen Umständen wollen Colombe und Héloïse, die beiden „kleinen Bürgerinnen“, „bourgeois“ sein. Fatalerweise entsprechen sie einigen Negativstereotypen aus dem semasiologischen Feld von „bourgeois“, insbesondere dem Braven, Regelhörigen und Konventionellen. Ansonsten füllen ihre Familien das Label mit unterschiedlichen Inhalten: Colombes linksliberaler Intellektuellenfamilie mit weitestgehend selbst erarbeitetem Geld steht Héloïses, von der Bildung her vergleichbare, konservative Familie aus dem Großbürgertum und der Aristokratie gegenüber, die über „altes“, ererbtes Vermögen verfügt. Prägend für Héloïse ist ein Habitus, dem vorbildhaftes Verhalten inhärieren muss: Nach außen immer Haltung bewahren, sich in den „besten Kreisen“ bewegen können und eine gute Figur abgeben. Seit ihrem 15. Lebensjahr kleidet sich Héloïse mit Jäckchen von Chanel und anderen berühmten Modedesigner:innen, ihre „Dossiers, ihre Analysen, ihre Empfehlungen, ihre Präsentationen“ seien „perfekt“. Doch ihr unumstößlicher Glaubenssatz bestehe in der Annahme, eine Enttäuschung für andere zu sein, was so gar nicht großbürgerlich ist. Dessen ungeachtet trägt sie den Habitus ihrer Klasse wie ein ihr angeschweißtes Korsett.
Beiden Mädchen fehlt die jugendliche Verve des Aufbegehrens von der Jacques Brel singt und an den Schneck mit dem Refrain seines Chansons Les Bourgeois, „Les bourgeois, c’est comme des cochons“, erinnert. Wie kein anderer Chansonnier und/oder Literat vor oder nach ihm zeigt Brel, dass die meisten Menschen dem Elan der Renitenz eine Absage erteilen und sie vom Sog einer Verbürgerlichung erfasst werden, der das Ende der Kindheit und Unbeschwertheit markiert.
Das, was in den drei Romanen mehr zählt als jeder Habitus, ist die grundlegende existenzielle Verunsicherung, die abrupt mit der Schwangerschaft und ihrem freiwilligen Beenden einsetzt, sich über die Jahre hinweg ausbreitet und vom Tod der Freundin exazerbiert wird.
Alle rein medizinischen Aspekte des Eingriffs sind bei Colombe Schneck eine quantité négligeable, sind es letztendlich sogar bei Annie Ernaux, trotz der Lebensgefahr, in die sie gerät. In ihrem Text bezieht sich Schneck auf Simone Veil und das nach ihr benannte Gesetz, das Französ:innen seit 1975 garantiert, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht strafrechtlich verfolgt wird. Obschon sie die großartige Leistung der Ministerin würdigt und sie sich selbst grundsätzlich als politisches Individuum begreift, ist sie mit allen Nachwirkungen der Intervention allein. Trotz des Rechts darauf, trotz des kollektiven Backups, wenn die Entscheidung noch so wohlüberlegt ist und die Familie verständnisvoll reagiert, fernab genauso von jeder Moralisierung und erst recht jeder religiös motivierten Stigmatisierung, bleiben Annie und Colombe einsam zurück mit dem Paradoxon der anwesenden Abwesenheit eines Kindes, das nie geboren werden durfte. Selbst bei jenen, die den Eingriff selbst als traumatisierend erleben, ist das, was danach kommt, schlimmer. Es ist „eine Erfahrung von Leben und Tod, von Zeit, von Moral und Tabu“ – so zitiert Colombe Schneck aus Annie Ernaux‘ Das Ereignis. Die Umkehr klassischer Tragik erweist sich als nicht minder tragisch. Lucien Goldmanns „présence d’un Dieu qui se cache“ bei Jean Racine mutiert zu „l’absence d’un enfant qui ne se cache pas“.
In anderer und ähnlicher Form manifestiert sich mit Héloïses Tod die brüchige Union des Gegensätzlichen: obwohl sie tot ist, weilt sie noch unter den Lebenden, was sich ganz prosaisch mit einem nicht gelöschten LinkedIn-Profil konkretisiert, das Colombe Aufschluss über die Karriere ihrer Freundin gibt. Eine Freundschaft sei beständiger als eine Partnerschaft, so eine Erkenntnis der Autorin. Eine andere besteht darin, dass Héloïses Lebensstil als Erklärung für ihr Leiden versage. Gesundheitsbewusstsein im Allgemeinen und ausreichend Schlaf im Besonderen seien keine Garanten für ein langes Leben – vielmehr – so heißt es in Freischwimmen – bestehe „die Brutalität der Wirklichkeit darin, dass es keine Erklärung“ gebe.
„Weder mit dir noch ohne dich“ – ausgehend von Truffauts Film Die Frau von nebenan definiert Schneck eine unglückliche Liebe. Sie hasse dieses „weder mit dir noch ohne dich“. Nur mit der Liebe des Vaters ließ sich in Colombes Fall – so ist zu mutmaßen – dieser Kulminationspunkt aller Beziehungsambivalenzen vermeiden. Sein Verständnis für sie tendierte in Richtung ideale Liebe, etwas, was ihre Mutter, die bei all ihrer Anwesenheit immer abwesend war, nie erreichte. Auch sie akzeptierte den Abbruch, war aber nie in der Lage dazu, mit ihrer Tochter darüber zu reden. Sie ist die Figur, die sich entzieht, vom Vater geht demgegenüber „unerschütterliche Liebe“ aus. Sie sei das Mädchen, so Gabriel, das sich erinnere, „wie sein Vater es angebetet“ habe. Diese Liebe könne er ihr nicht bieten.
Was am Ende der Beziehung zu Gabriel und am Ende der drei Kurzromane in ihrer Gesamtheit vorherrscht, ist die Akzeptanz der Unsicherheit, möglicherweise gar der Absurdität im Camusschen Sinne. Damit konform geht eine Absage an die Angst, „dass die Liebe des anderen sich entzieht, weil sie sich immer entzieht“. Schwimmen sei der Lehrmeister der Unsicherheit, die eine neue Liebe begründen könne.
Stete Gratwanderungen und Aushandlungsprozesse spitzen sich im Verlauf der Texte zu und schließen sich zu einer finalen Botschaft des Existenziellen zusammen, mit der sich die vertauschte Chronologie rechtfertigen lässt. Die Ambivalenzen in all ihrer Breite und Tiefe, alle Paradoxa und die mit ihnen einhergehende existenzielle Queste schlagen sich in einem Schreibstil nieder, dessen parataktische Sätze sich ruckartig und diskontinuierlich fortbewegen. Ellipsen, Parallelismen, Asyndeta und Akkumulationen, mitunter in klimaktischer Reihung, verstärken die Atmosphäre des Suchens und des Unabgeschlossenen. Es nimmt nicht wunder, dass ein solcher Stil im französischen Original noch intensiver wirkt, was die hervorragende Leistung der Übersetzerin nicht schmälert.
In Zwei Bürgertöchter spricht eine heterodiegetische Erzählfigur, zu positionieren zwischen dem traditionellen Auktorialen und Personalen. Nicht „Ich“ zu sagen, so wie in Siebzehn Jahre und Freischwimmen, ist ein intentionaler Akt der Abgrenzung, zu dem ebenso das Auftreten der Meinungsforscherin und die Gliederung des Textes in Kapitel mit Jahreszahlen passen. Mit dem Titel Deux petites bourgeoises steht der französische Text zusätzlich unter den Auspizien der Ironisierung von allem, was bürgerlich ist oder den Anschein davon erweckt.
„Ein Mann verlässt die Frau, die er liebt, und versteckt sich in ihrer Tasche. Er folgt ihr überallhin, ohne dass sie es weiß.“ Darüber, so die Ich-Erzählerin in Freischwimmen, habe sie eine Novelle geschrieben, bevor sie Gabriel wieder begegnet sei. Dieses fantastisch und surreal akzentuierte Thema umfasst die Grundfigur der Präsenz in Absenz, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.
Aus solchen Paradoxa, aus einem solchen Schwebezustand heraus regen Schnecks Kurzromane zum Nachdenken an, wirken mitunter mit dichter Emotionalität, oft aber so, als ob sie eine Barriere zu ihren Rezipient:innen errichten wollten. Beim Ausloten von Nähe und Distanz im Leseprozess jedenfalls ist zu erkennen, dass die Texte eher eine existenziell diagnostische als eine ästhetische Wertigkeit besitzen.
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