Der Germanist und seine Zeit

Albrecht Schöne hält in seinen „Erinnerungen“ Rückschau auf ein langes Leben

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 17. Juli 2020 vollendete der Göttinger Germanist Albrecht Schöne sein 95. Lebensjahr. Mit Erinnerungen trägt er zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bei, etwa wenn er von Begegnungen mit Professoren in der Nachkriegszeit erzählt. Über die dunklen Jahre der NS-Zeit schreibt er, berichtet vom Krieg. Die geistige Welt der Universität – vor der Studentenbewegung und vor der Bologna-Reform – erscheint wie ein farbiger Kosmos. Eingewoben in die Zeitgeschichte sind auch ganz persönliche Familiengeschichten, besondere Momente also, die Albrecht Schöne wie jeder andere erlebt hat und von denen kaum jemand mit einer solchen sensiblen Kargheit behutsam wie gefühlvoll zu berichten weiß. Spätestens mit seinen Memoiren gibt sich der international renommierte Literaturwissenschaftler als Literat, als Erzähler zu erkennen, nicht nostalgisch gestimmt, gelegentlich ein wenig wehmütig.

Als Albrecht Schöne 1925 geboren wurde, seien die „politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse halbwegs stabil“ gewesen. Seine Eltern gehörten zu den „urteilsfähigen Zeitgenossen“. Unvorstellbar erschien, dass der von „rabiatem Judenhass“ getriebene, mit der „Energie eines Besessenen“ nach Macht verlangende Adolf Hitler mit seiner Partei Deutschland würde regieren und in den Abgrund führen können. Die Familie, weltlich klug und religiös musikalisch, gehörte zu den Altlutheranern, die sich 1972 mit anderen evangelischen Minderheiten zur SELK, zur Selbstständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche, zusammenschlossen. Auch dem christlichen Glauben ist der Germanist, ein begeisterter Bibelleser zudem, stets treu geblieben. Albrecht Schöne war der Erstgeborene:

Dass meine Eltern mich zu sich wünschten und mich liebten, habe ich immer gewusst, ohne dass ich darüber nachdachte, und ohne dass sie selber davon viel redeten. Dass dergleichen nicht selbstverständlich ist und eine Mitgift fürs ganze Leben, habe ich erst spät begriffen.

Schönes Vater, ein Gymnasiallehrer, galt als politisch unzuverlässig. Seine Versetzung nach Stendal erfolgte, weil das „Naumburger Lumpenpack“ hartnäckig blieb. In der NS-Zeit trieben, wie in jeder Diktatur, Missgünstige, Denunzianten und andere Charaktere von höchst eigener Art ihr bösartiges Spiel. In persönlichen Aufzeichnungen, die Albrecht Schöne in den Text einfügt, erwähnt der Vater auch die „deutschen Judenmorde“. Er missbilligte zudem die Hasspredigten gegen andere Völker und die offensichtlichen Lügen über Niederlagen. Die „apodiktische Rechthaberei“ verband sich bei Adolf Hitler mit „Unwahrhaftigkeit“ und der inneren Überzeugung, dass es „erlaubt ist, stark aufzutragen; wer auf dem Podium steht, muss schreien“. Schöne schreibt, der Bericht seines Vaters sei „auf eine fast bestürzende Weise sachlich gehalten, geradezu kaltblütig konstatierend“. Auch von der „Ausmerzung“ der Juden habe er gewusst. Albrecht Schöne bemerkt dazu: „Freilich konnte von diesen Massenmorden auch wissen, wer im Rundfunk gegen striktes Verbot feindliche Sender abhörte und ihnen entgegen dem innerdeutschen propagandistischen Meinungsdruck Glauben schenkte. Aber die Zivilcourage, solche Nachrichten trotz drakonischer Strafverfolgung dann auch noch weiterzuverbreiten, brachten nur wenige auf. Und besser sollte man nicht denken, dass sich die menschliche Duckmäusernatur seither grundlegend verändert hat.“ Von den öffentlichen wie offensiv betriebenen Diskriminierungen und Drangsalierungen der Juden hätten „alle halbwegs Erwachsenen“ wissen können:

Auch die mit dem Krieg im Osten einsetzenden Massenerschießungen jüdischer und polnischer Zivilisten wurden keineswegs nur von einigen wenigen Missetätern im Verborgenen veranstaltet. Es gab viele Augenzeugen. Nur waren sie meist nicht waghalsig genug, ihr Wissen um diese Verbrechen zu verbreiten.

Schöne denkt über Brechts Bitte nach, die Nachgeborenen mögen mit Nachsicht ihrer Vorfahren gedenken. Vielleicht vermögen diese die „in der Natur des Menschen lauernde Unmenschlichkeit auch als mögliche eigene begreifen“. Das Wissen darum entbindet freilich niemanden, der in Schuld verstrickt ist, von Haftung, Rechenschaft und Verantwortung.

An die Tage vor dem Kriegsende erinnert sich Albrecht Schöne sehr genau, eine „gespenstische Normalität“ habe geherrscht. Rückblickend nannte Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1985 den 8. Mai 1945 einen Tag der Befreiung. Wenig später folgten die Nürnberger Prozesse. Schöne schreibt, dass eine „Einsicht in eine unverjährbare Gesamtverantwortung“ bestanden habe, nicht aber dass eine „generealisierende Alternativ-Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern dem Einzelfall gerecht“ geworden sei:

An den Untaten, die mit der Machtübergabe an Hitler einsetzten, oder an den Verbrechen, die unseren Angriffskrieg begleiteten, gar an den industriell betriebenen Massenmorden, die während dieser Kriegsjahre im Rücken der Ostfront verübt wurden, hatte sich doch keineswegs jeder Deutsche persönlich schuldig oder zurechenbar mitschuldig gemacht.

Im Sommer 1947 starb Albrecht Schönes Mutter, erst neunundvierzig Jahre alt, an einem Gehirntumor, der Vater erlag fünf Jahre später einem Herzleiden. Er berichtet davon:

Auf einer Wanderung mit Schülern seines Gymnasiums in den Bayerischen Alpen hatte sich der Neunundfünfzigjährige jetzt offenbar heillos überanstrengt. Heimgebracht nach Bünde, hat er gewusst, dass er sterben würde, hat mir das auch gesagt, als ich zu ihm kam. Aber ich wollte es nicht glauben. Wenig später haben Dagmar und ich ihn noch einmal länger besuchen können. Drei Tage nach unserer Abreise dann … bat er nachmittags seine Schwester Dorothee um ein Glas Wasser, möglichst kalt. Ganz normal, mit ruhiger Stimme sagte er das. Nebenan im Badezimmer hat sie deshalb lange den Wasserhahn laufen lassen, und als sie nach einigen Minuten an sein Krankenbett zurückkam, war er schon nicht mehr am Leben. – Wissend um das Ende hat er sterben können. Vorbereitet, gefasst und ganz bei sich selbst.

Die Dame namens Dagmar ist Albrecht Schönes Ehefrau, die er in Münster kennengelernt hatte. Von der folgenreichen germanistischen Begegnung erzählt er: „Gleich im ersten Semester hat mich aber auch ein Kafka-Kolloquium angelockt, das der Privatdozent Clemens Heselhaus veranstaltete – zu meinem lebenslangen Glück. Denn dort begegnete ich der journalistisch tätigen, Publizistik studierenden jungen Dame, klug und bildschön, in die ich mich auf der Stelle verliebte.“ Nicht nur die Persönlichkeiten, denen er universitär begegnete – von Karl Jaspers über Walter Muschg bis zu Benno von Wiese und Hans Urs von Balthasar –, besaßen ein unvergleichliches Format, auch die Atmosphäre der Universität selbst unterscheidet sich deutlich von der Gegenwart. Selbst wer in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren studierte, erinnert sich gern an die Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten, „Studium generale“ genannt. So konnten sich Germanistenstudenten auch mit den Grundlagen der Physik vertraut machen, mancher Mathematiker hörte philosophische Übungen. Fächerübergreifende Kontakte zwischen den Lehrenden entstanden jenseits von Gremien.

Dass Albrecht Schöne nach Göttingen gelangte, war ebenfalls eine glückliche Fügung, nicht aber das Resultat eines zähen Ringens einer Berufungskommission: „Vakante Lehrstühle wurden zu meiner Amtszeit nicht öffentlich ausgeschrieben; einen Ruf von auswärts erhielt man ohne Bewerbung und in aller Regel auch ohne Vorerkundigungen.“ Eindrücklich schildert er das Wirken des Gastprofessors Lew Kopelew, der im Sommer 1981 in Göttingen lehrte:

Der jüdisch-russische Gastprofessor der Germanistik, eine imposante Erscheinung mit langem weißen Tolstoi-Bart, sprach in seinem überfüllten Göttinger Hörsaal über deutsch-russische Literaturbeziehungen und hielt zum Begriff „Weltliteratur“ ein höchst unprofessoral geführtes Hauptseminar ab, von dem seine studentischen „Kollegen“ mit Begeisterung sprachen. Er war ein gütiger, warmherziger Mensch.

Als Kopelew vor Ort war, hatte sich die Lage an den Universitäten ein wenig beruhigt. Die „68er-Unruhen“, später verklärt als „rühmliche Befreiungsbewegung“, hatten gleichwohl die Hochschullandschaft nachhaltig verändert. Albrecht Schöne wurde damals – wie viele andere – von den Aktivisten zu den „liberalen Scheißern“ gezählt. Als er eine Vorlesung in der Göttinger Paulinerkirche halten wollte, skandierten Studenten marxistische Parolen:

Mein Katheder-Mikrofon hätte ich allenfalls mit handfester Gewalt erreichen können. Dass ich’s auf diese Weise nicht wenigstens versuchte, habe ich später manchmal bedauert. Einer gegen zwanzig oder zwanzig gegen einen – vielleicht wären da doch nicht alle konsternierten, wohl auch ein wenig amüsierten Zuschauer sitzen geblieben. Mit der bloßen Stimme konnte ich mir kein Gehör verschaffen. So habe ich, nach heftiger Rangelei und nach längerem Zuwarten im Abseits, die Paulinerkirche wortlos verlassen.

Albrecht Schöne verfasste zahlreiche Bücher, hielt Reden und schrieb wissenschaftliche Aufsätze, die ausdrücklich auch an ein außergermanistisches, ja nichtakademisches Publikum adressiert sind. Das „Imponiergehabe eines selbstgefälligen und abschreckenden Fachjargons“ missbilligt er bis heute. Der „Fachjargon“ führe zur „Leserverabschiedung“: „In jedem Spezialjargon lässt sich Überflüssiges oder Unsinniges ebenso gut vorbringen wie mit konventioneller Sprache, in der das nur leichter bemerkbar werden kann.“ Eine verstiegene Sprache gelte aber als „Gradmesser von Wissenschaftlichkeit“: „Ungeschmälerten wissenschaftlichen Anspruch auszubalancieren mit dem Öffentlichkeitsanspruch auf angemessene Verständlichkeit, ist oft nicht leicht. Aber es gibt rühmliche Beispiele dafür. Mir haben meine studentischen Lehrer jedenfalls beigebracht, dass ich mich darum zu bemühen hätte.“

Albrecht Schönes Buch ist welt- und lebensklug, feinsinnig und kunstvoll erzählt – dem eigenen Anspruch entsprechend, so lesbar wie lesenswert. Die Erinnerungen des Göttinger Germanisten und Schriftstellers verdienen aufmerksame Beachtung.

Titelbild

Albrecht Schöne: Erinnerungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
334 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835338111

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