Erfahrungen und Objektivität

Der erste Band einer „Jünger-Debatte“ überzeugt durch fachkundige und breit gefächerte Diskussion sowie wertvolle Materialien

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese erste Ausgabe der Jünger-Debatte die als Publikationsorgan der Ernst und Friedrich Georg Jünger-Gesellschaft e.V. firmiert, widmet sich dem Themenkomplex „Ernst Jünger und das Judentum“. Dem Band liegt eine entsprechende Jahrestagung vom März 2016 zugrunde.

Ernst Jüngers über Jahrzehnte hinweg anhaltende Autorenschaft bildete auf indirekte Weise das 20. Jahrhundert mit all seinen Katastrophen und Tragödien ab. Nicht zuletzt richtet sich die Aufmerksamkeit seiner Leserschaft in besonderer Weise auf seine Haltung, mit der sich der Schriftsteller seine Unabhängigkeit unter den extremen Bedingungen der Nazi-Diktatur, die auch von einem mörderischen Antisemitismus gekennzeichnet war, zu bewahren suchte.

Der Jünger-Biograph Helmuth Kiesel eröffnet seine Betrachtung Ernst Jüngers Verhältnis zu Juden und zum Judentum mit einem kurzen „historischen Überblick“. Aus gegebenem Anlass verweist er in einem kurzen geschichtlichen Abriss darauf, dass es eine „deutsche Staatsbürgerschaft“ erst seit der Gründung des Deutschen Reichs im Jahr 1871 gegeben hatte. In der Folge gab es „im staatsrechtlichen Sinne“ keine Juden mehr, sondern Deutsche „jüdischer Konfession“ oder „mosaischen Glaubens“. Wenn fortan von Juden gesprochen wurde, waren immer „deutsche Juden“ oder „jüdische Deutsche“ gemeint, die eigentlich gemäß des Gleichstellungsgesetzes von 1871 „Deutsche“ waren: „Andererseits bedeutet diese terminologische Einebnung aber doch auch eine Verleugnung einer ethnisch und religiös geprägten Besonderheit, die von vielen Deutschen jüdischer Konfession bewußt gepflegt […] wurde“.

Neben Jüngers Kindheit und Jugend geht Kiesel einschlägigen „Erinnerungen an Begegnungen in Jüngers Schriften“ nach. Das Thema „Judentum“ schien keine besondere Rolle gespielt zu haben, was angesichts des äußerst geringen Anteils jüdischer Deutscher an der Gesamtbevölkerung nicht weiter verwunderlich ist.

Kiesel nimmt Jüngers nationalrevolutionäre Publizistik der 1920er Jahre ins Visier und wendet sich den zweifellos zwielichtigen Aussagen vor allem Anfang der 1930er Jahren zu. Hier hatte sich Jünger auf Drängen einer polemischen Debatte in unentschuldbarer Weise bezüglich der Juden in Deutschland geäußert. Ein nachhaltiger Antisemitismus, noch dazu in rassebiologischer Ausrichtung, bildet jedoch kein konstitutives Kennzeichen in Jüngers Büchern und Schriften.

Eine klare Zäsur tritt zudem nach 1933 ein. Nach der sogenannten Machtergreifung durch Adolf Hitler und seiner nationalsozialistischen Bewegung war es Jünger wichtig, keinerlei Zweifel hinsichtlich seiner ablehnenden Haltung aufkommen zu lassen. Bereits im Frühjahr 1933 fand sich die Gestapo in Jüngers Berliner Wohnung zu einer ersten Hausdurchsuchung ein. Die ihm angetragene Aufnahme in die Abteilung für Dichtkunst an der Preußischen Akademie der Künste lehnte Jünger ab und brachte damit ein weiteres Mal den Reichsminister Joseph Goebbels gegen sich auf.

Es erweist sich, dass die Zusammenstellung der Beiträge in diesem Jahrbuch klug konzipiert sind, zumal renommierte Fachgelehrte die Eingebundenheit Jüngers in die damaligen Umstände ebenso beleuchten wie auch deren ideengeschichtlichen Vorläufe. Eine Zusammenschau mit anderen Denkern aus dem konservativen und nationalen Umfeld wie etwa Martin Heidegger oder Carl Schmitt drängt sich geradezu auf. Zugleich ist es von entscheidender Bedeutung, Gemeinsamkeiten aber auch gravierende Unterschiede in Haltung und Position herauszuarbeiten.

Mit Reinhard Mehring legt ein ausgewiesener Kenner des Staatsrechtlers Carl Schmitt in seiner Betrachtung Der konkrete Feind und der Übermensch. Judentum und Antisemitismus bei Schmitt, Jünger und Heidegger eine differenzierte Analyse vor, der Jüngers „utopischen Nationalismus“ ebenso klar herausarbeitet wie „Heideggers utopischen Heideggerianer“. Dieser hatte nach dem gescheiterten Rektorat 1933 die Wirkmächtigkeit seines Denkens einer unmittelbaren Aktualität entzogen und auf eine unbestimmte Zukunft verlagert. Im Gegensatz zu Carl Schmitt lassen sich jedoch weder bei Heidegger noch bei Jünger ausgearbeitete Überlegungen zum Judentum finden. Mehrings Fazit ist deutlich: „Man kann die Werke von Jünger und Heidegger rekonstruieren, ohne von Judentum und Antisemitismus zu sprechen; bei Schmitt ist das nicht möglich“.

Peter Trawny deutet in seinem Artikel Der Einzelne und das Verbrechen. Jünger, Heidegger und die Shoah komplementäre Lesarten bezüglich Ernst Jüngers Haltung an. Er hebt nicht zuletzt den perspektivischen Charakter hervor, der Heideggers Schwarze Hefte von Jüngers Strahlungen unterscheidet: „Während Heidegger in Freiburg und Todtnauberg arbeitet und wenig reist, bewegt sich Jünger durch ganz Europa. Daß er auf diesen Reisen von Dingen erfuhr, die Heidegger allein entweder von Soldaten auf Heimaturlaub oder durch die nationalsozialistische Propaganda zur Kenntnis nahm, schreibt eine Differenz in die Texte ein, über die man sich klar sein muß“.

Christophe Fricker, der 2015 den Band Ernst Jünger – André Müller. Gespräche über Schmerz, Tod und Verzweiflung herausgegeben hat, greift in seinem Beitrag Freiheit in der Shoah. Sinn der Shoah? André Müllers kontroverse Fragen an Ernst Jünger noch einmal auf diese Gespräche zurück, um in besonderer Weise den Fokus auf die Möglichkeit einer Sinnfrage bezüglich der Vernichtung der europäischen Juden zu richten.

In seinen Büchern illustrierte Jünger seine trotzige wie vielsagende Selbstbeschreibung, auf „verlorenem Posten“ zu stehen. Während seiner Zeit im Kommandostab des Militärbefehlshabers in Paris hat er eindrücklich erfahren, dass man sich dem Zugriff des Regimes nicht entziehen kann. Neben Erschießungen von Geißeln wird Jünger auch Augenzeuge der Deportation französischer Juden: „Ein Ekel ergriff mich dann vor den Uniformen, den Schulterstücken, den Orden, den Waffen, deren Glanz ich so geliebt habe“.

Detlev Schöttkers Untersuchung Ernst Jünger, Sophie Ravoux und Joseph Breitbach, der als Beitrag „Zum deutsch-jüdischen Widerstand in Paris (1941–1944)“ Aufhellung verspricht, verweist bezüglich der Forschungslage auf Jüngers Nachlass und vor allem auf ein bislang unerschlossenes Briefarchiv: „Es handelt sich um etwa 90.000 Schreiben an Jünger (von etwa 5.000 Verfassern, die in einem Findbuch aufgelistet sind) und etwa 40.000 Schreiben von Jünger“.

Eine Sichtung dieses Quellenbestandes wird nach Schöttger manche vorliegenden Einschätzungen bezüglich des Lebens und Werkes Ernst Jüngers korrigieren, stellt allerdings bereits aufgrund seines Umfanges eine gewaltige Herausforderung dar: „Die Hochrechnung eines EDV-Experten im Deutschen Literaturarchiv ergab, daß man etwa 30 Jahre mit zehn Mitarbeitern benötigen würde, um Regesten (kurze Angaben zum Inhalt der Briefe sowie zu den erwähnten Namen und Werken) zu erstellen – von Editionen ganz zu schweigen“.

Diese archivalische Einlagerung noch unerschlossener Einblicke findet auch bei den übrigen Autoren des vorliegenden Bandes mehr oder weniger betont Erwähnung.

Unter dem Stichwort „Freie Aussprache“ werden im Mittelteil dieser verdienstvollen Ausgabe von Eckhard Köhn neue Hintergründe zu Jüngers Erzählung Afrikanische Spiele (1936)  sowie Anregungen zur Ernst Jünger-Forschung von Matthias Schöning, der bereits mit der Herausgabe des Ernst Jünger-Handbuches (2014) eine seriöse Markierung angebracht hat, angeboten. Erhellendes und Weiterführendes bietet eine kritische wie kundige Auswertung „Neuer Jünger-Literatur“ von Alexander Pschera.

Der Abschnitt „Aus dem Archiv“ hält neben einer aufschlussreichen Auswertung der „Widmungen in Büchern“ zwischen Ernst Jünger und Carl Schmitt kommentierte Materialien zum Verhältnis zwischen Ernst Jünger und Joseph Breitbach bereit, deren Briefwechsel in verspäteter Folge einer Veröffentlichung Jean Schlumbergers unter dem Titel Versuch einer Klarstellung (1945) eingesetzt hatte.

Ausgewählte Briefe zwischen Ernst Jünger und Joseph Wulf ermöglichen neue Erkenntnisse bezüglich Jüngers Reflexionsbereitschaft über die Verbrechen des Dritten Reichs. Die komplette Publikation dieses zwischen 1962 und 1974 geführten Briefwechsels, der ungefähr 150 Schreiben beinhaltet, wird von den Kommentatoren Anja S. Hübner und Detlev Schöttker in naher Zukunft in Aussicht gestellt.

Jünger hatte sich in seinen veröffentlichten Tagebüchern von der kritischen Forschungsarbeit Joseph Wulfs, einem deutsch-polnischen Historiker jüdischer Herkunft, wiederholt angetan gezeigt. Wulf, der im Gegensatz zu seiner gesamten Familie Auschwitz überlebt hatte, berichtet Jünger über sein „schweres Ringen“ in den Nachkriegsjahren, ehe er objektiv über die Zeit zwischen 1933 und 1945 zu schreiben beginnen konnte. Eine Haltung, die Jünger Respekt abnötigt: „Ich würde wahrscheinlich nach solchen Erfahrungen dieser Objektivität nicht fähig sein“. Wulf wiederum schätzte die in Jüngers Schriften „innewohnende Humanität“.

Nicolai Riedels sorgfältig recherchierte Bibliografie Ernst Jüngers Schriften in Übersetzungen (1996–2016) rundet diesen ersten Band der Jünger-Debatte ab. Neben dieser beeindruckenden Darlegung einer internationalen Jünger-Rezeption hatten die hervorragend recherchierten Jünger-Biografien von Helmuth Kiesel (2007) und Heimo Schwilk (2007) auch hierzulande ein anhaltendes Interesse an Ernst Jüngers vielschichtigem Werk belegt. Umso erfreulicher ist mit dem vorgelegten Band eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass eine vorzügliche Plattform in der Fortführung einer kritischen Jünger-Rezeption geschaffen ist.

Titelbild

Alexander Pschera / Detlev Schöttker / Thomas Bantle (Hg.): Jünger-Debatte. Band 1 (2017): Ernst Jünger und das Judentum.
Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2017.
255 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783465043126

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