Weibliche Irrfahrten
Sabine Scholls Roman „O.“ über Mythos und Migration
Von Sabine Haupt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Secession Verlag ist bekannt für seine schönen Einbände. Auch der neue Roman von Sabine Scholl ist da keine Ausnahme: Auf einer in zartem Türkisblau schimmernden Wasseroberfläche, deren Lichtreflexe einen großen, weißen Kreis mit Punkt umspielen, erscheint das Zeichen „O.“. Das ist der Titel. Was auf den ersten Blick wie ein Rettungsring mit Boje aussieht, erweist sich bei fortschreitender Lektüre als überaus anspielungsreiches Symbol. Zunächst steht O. als Abkürzung für die Odyssee, für die Irrfahrten des Odysseus beziehungsweise für die weibliche Heldin des Romans, deren eigene Irrfahrten die des Homerischen Epos nachzeichnen.
Doch das runde Ei des Anfangs, des archaischen Erzählens ab ovo, ist nicht nur ein optisches Signal. Der Buchstabe „O“ bedeutet noch viel mehr. Ursprünglich steht er für das menschliche Auge, im griechischen Alphabet wird daraus „Omega“, der letzte Buchstabe und Symbol für das Ende aller Dinge. Doch „O“ verweist auch auf „Ondeís“, das griechische Wort für „niemand“. Niemand, Null, Nichts, ein Kreis, der sich öffnet, dreht und wieder schließt. Odysseus macht sich diese Klangähnlichkeit mit seinem Namen zunutze, um den Kyklop Polyphem zu überlisten.
Doch damit ist die Liste der literarischen Anspielungen noch lange nicht beendet. Eine belesene Autorin wie Sabine Scholl kennt natürlich auch die einschlägige feministische Literatur zu den klassischen psychoanalytischen Hysterie-Studien, in denen Sigmund Freud und Josef Breuer ihre Patientin, die österreichische Frauenrechtlerin Bertha Pappenheim, als „Fräulein Anna O.“ auftreten lassen. Und sie weiß auch, dass ihre LeserInnen bei dieser neuen Geschichte der O. zwangsläufig an den sadomasochistischen Edelporno von Pauline Réage alias Dominique Aury aus dem Jahr 1954 denken. Beides sind vermutlich durchaus beabsichtigte Assoziationen, denn auch in Scholls Roman geht es um weibliche Sexualität, um Lust und Leid in oftmals undurchsichtigen, höchst ambivalenten libidinösen Verstrickungen.
Wer will, kann den Roman aber auch als politische Parabel lesen, als klugen, sowohl „welthaltigen“ wie bildungsgesättigten Beitrag zu einer von patriarchalen Zumutungen und Unterschlagungen befreiten Her-Story, die nicht nur geschichtliche und politische Ereignisse, sondern auch den Mythos an seine Protagonistinnen zurückgibt. Und welcher Mythos könnte, von Homer bis Adorno, das abendländische Denken und seine Kultur exemplarischer vertreten als der Mythos von den Irrfahrten des Odysseus? Dass dieser de facto im Orient seinen Ursprung hat, spielt dabei keine Rolle.
Politisch ist in diesem Roman aber nicht nur die gegenderte Umbesetzung des mythologischen Personals. Aus dem männlichen Helden und seinen legendären Gefährten wird eine Heldin mit Gefährtinnen, die auf den einzelnen Stationen ihrer Irrfahrt nun aber keineswegs auf männliche Nymphen, verführerische Königssöhne und Zauberer stoßen. Im Gegenteil: Heterosexuelle Präferenzen spielen nur eine Nebenrolle, Calypso, Nausikaa und Kirke sind und bleiben weibliche Verführerinnen, deren wie selbstverständlich erzählte bi- oder gleichgeschlechtliche Orientierung dem Roman eine markante sexualpolitische Note verleiht.
Doch die politischen Bezüge gehen noch weiter. Denn trotz seiner sehr genauen stofflichen Anleihen an den Mythos spielt der Roman in einem – poetisierten und stark verfremdeten – Hier und Jetzt. Sabine Scholl koppelt den archaischen Stoff mit den Erfahrungen heutiger Flüchtlinge. Damit werden das Mittelmeer und seine Inseln zum Schauplatz einer doppelten Tragödie, der antiken und der aktuellen. Bei ihrem Versuch, dem rachsüchtigen Meergott zu entkommen (soweit die Vorgabe des Mythos…), stranden die Gefährtinnen an Ufern, deren Bilder die LeserInnen aus den Fernsehnachrichten kennen, aus Reportagen über Flüchtlingskatastrophen und das Elend in den Lagern von Lesbos oder Libyen. Im bibliographischen Anhang des Romans werden über 30 Werke und Publikationen genannt, denen die Autorin nach eigener Auskunft „Inspiration und Anregungen“ verdankt, darunter nicht nur diverse Nacherzählungen des Homer-Epos und die großartige neue Odyssee-Übersetzung von Emily Wilson, sondern auch zahlreiche Beiträge zur sogenannten Flüchtlingskrise, denen der Roman sein detailreiches dokumentarisches Wissen und einige höchst eindringliche Passagen verdankt:
Menschen wurden aufgeladen. Das Warten auf weitere Passagiere dauerte Stunden. Die Kleider waren bereits jetzt mit salzigem Wasser vollgesogen. Als das Boot endlich losknatterte und Fahrtwind aufkam, zitterten sie alle. Das Schaukeln des Gummiboots auf der unruhigen See schlug ihnen auf den Magen. Einige lutschten Zitronen, andere schluckten Tabletten gegen die Übelkeit. Übergeben mussten sie sich trotzdem, und nur die, die am Rand saßen, konnten ins Wasser speien. Die anderen besudelten den Rücken der vor ihnen Sitzenden. Das Erbrochene in den Falten der Kleider trocknete erst am Morgen, als die Sonne endlich wärmte.
Oder, wenn es auf solchen Irrfahrten zu wahren Höllenvisionen kommt:
Alsbald erreichten sie den Eingang einer enormen Höhle, in der Meereswellen brausten und Tausende von Menschen gegen ihr Ertrinken kämpften. Immer und immer wieder versuchten sie, sich aneinander festzuhalten, zogen sich gegenseitig hinunter. Ihre Köpfe verschwanden, tauchten kurz wieder auf, die Wellenmaschine verdoppelte ihre Geschwindigkeit, die Seelen schrien um Hilfe, verschluckten sich, husteten, ihre Lungen wurden zerdrückt und sie ergaben sich dem Wasser, sanken. Frauen waren darunter, alte und junge; Kinder dazwischen, kleine und kleinste, den Armen ihrer Mütter entrissen, und junge Männer mit frischen Kräften gingen in den Fluten unter; die besten, die von den Dörfern ausgewählt und fortgeschickt worden waren in die verheißungsvollen Länder. Mit einem Mal trat Stille ein. Die Fluten hatten sie allesamt verschlungen.
Vorangestellt sind dem Roman ein Motto der syrischen Lyrikerin Lina Atfah und eines der deutschen Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete. Schon das sind eindeutige Statements. Und wenn die Gefährtinnen im 10. Kapitel (von insgesamt 30) von den Kyklopen, die von sich selbst behaupten: „Wir Einäugige sind uns selbst genug. Wir wollen keine anderen Wesen auf unserem Grund. Wir haben lange genug an unserem Reich gebaut und lassen uns von Fremden nichts zerstören“, verjagt werden, weil diesen Einäugigen der „Weitblick“ fehle, das Monster blicke nun mal „eindimensional in die Welt“, dann liegt die Analogie zur heutigen Xenophobie, zu Nationalismus und Chauvinismus auf der Hand. Laut dem marxistischen Philosophen Herbert Marcuse ist der „eindimensionale Mensch“ in ideologischen Täuschungen gefangen, „falsche Bedürfnisse“, Konsum und Massenmedien steuern seine „repressive Entsublimierung“, sprich: den Rückfall in eine zivilisierte Form von Barbarei. Folgt man dieser listigen Reihe von Anspielungen, zeigt sich die „Festung Europa“ in all ihrem monströsen Schrecken als tumber, einäugiger, stinkender, menschenfressender Riese.
Doch der Roman ist nicht nur eine politische Parabel und Vexierspiel mit dem Mythos. Es gibt noch zwei weitere Erzählstränge, die den zwischen seinen verschiedenen Ebenen mäandernden, hochkomplexen Text auf überraschend persönliche und poetische Weise durchdringen. Da sind zum einen die Rückblenden in eine traumatisierende, durch sexuellen Missbrauch und emotionale Kälte geprägte Kindheit in einem enthemmten Hippie-Milieu der 1970er Jahre, in dem man Überzeugungen pflegte wie die, es gäbe „nichts Heiligeres als den Orgasmus eines Kindes“. Die Mutter habe weggesehen, Bestsellerromane geschrieben statt einzugreifen, während der Vater seine Tochter unter dem Vorwand ganzheitlicher Kindesliebe jahrelang missbrauchte. Dass es O.s Anzeige war, die ihn schließlich hinter Gitter brachte, erfährt man erst am Schluss des Romans (inspiriert ist dieser Handlungsstrang wahrscheinlich von der Biografie Moira Greylands, der Tochter der amerikanischen Bestsellerautorin Marion Zimmer Bradley). Ihr Vater-Trauma wird O. erst bei einem wunderbar dicht und poetisch erzählten Gang zu den Dämonen der Unterwelt los, ein Besuch in der Hölle, der mit der geradezu kultischen Verfluchung des Vaters endet.
Von besonderem, auch poetologischem Interesse ist die symbolische Metaebene des Romans. Fast alle weiblichen Figuren sind Textilgestalterinnen: Kirke sitzt am Webstuhl, Ariadne verschenkt ihren magischen Faden, Nausikaa hingegen eine Häkelnadel, mit der O., die Flötenspielerin und Sammlerin von Geschichten, Bildern und Tönen, ihre verwickelten Tonbänder mit den Stimmen „ungehörter“ Frauen entwirrt, während im Meer nicht nur Ertrinkende, sondern auch gigantische Netze mit Abfällen treiben. Die gesamte Reise, O.s ganze Existenz, ist – so suggeriert der Text immer wieder – eine Variante des Topos von der weiblichen Kunst als Text(il)arbeit, eine Variante der an Scheherazades rotem Faden aufgefädelten Metapher für weibliches Erzählen: „Und war nicht O., ihr Name, selbst ein Loch, eine Schlinge, durch deren Tor die Welt fiel?“
Nun gehört textile Metaphorik zu den Grundbeständen von Rhetorik und Poetik, doch ist der Bezug in diesem Roman sehr viel konkreter, denn Scholl greift auch hier eine Vorgabe des Homer-Epos auf. Dort wird die Irrfahrt des Odysseus nämlich keineswegs linear erzählt, sondern stets narrativ verwoben mit den Geschehnissen im Hause der Penelope, die das Warten auf den Ehemann mit kunstvollen Webereien überbrückt. Schon in Scholls Roman Wir sind die Früchte des Zorns (2013) steht, „von Arachne bis Ariadne“, die textile Kunst für das Verbindende zwischen den Frauenfiguren, während die Autorin, die sich auch in einem kulturgeschichtlichen Essay (Kleine Geschichte der Kleider, 2019) mit dem Thema befasst, in ihren Krimis über Fashion Victims Giftige Kleider (2010) und Tödliche Tulpen (2011) zeigt, was passiert, wenn Frauen die Magie der Stoffe aus der Hand geben.
Eine zentrale Rolle bei solchen Anleihen an den Mythos spielt auch die schöne, langrhythmische Sprache, die durchaus diskrete Anklänge an antike Muster erahnen lässt: „Die Gestorbenen bestanden bloß aus Tüchern und Geheul, ein weißes Jammern ohne Hoffnung“ oder: „Von Weitem vernahm sie das Getöse lang gezogener Wellen, die gegen die felsigen Ufer der Insel schlugen.“
Der Anklang an den Mythos liefert zwar poetisches Potenzial en masse, das Scholl überzeugend zu nutzen versteht, er birgt aber auch diverse Risiken. Angefangen vom Bemühen um Vollständigkeit, wodurch der Roman bisweilen ein wenig auf der Stelle tritt, sodass die Leserin sich manchmal fragt, ob die lückenlose Berücksichtigung des mythologischen Stoffs hier tatsächlich ein sinnvolles intertextuelles Ziel sein kann. Hinzu kommen leise ethische oder philosophische Bedenken, beispielsweise bei der womöglich allzu selbstverständlichen und ungebrochenen Übertragung mythischer Muster auf das heutige politische Geschehen. Denn wer oder was heute allegorisch an die Stelle des zornigen Meeresgotts Poseidon, den „Monomanen des Meeres“ treten könnte, der sich – so die Erzählerin – einst an die Stelle der „verstoßenen Herrscherinnen des Meeres“ geputscht hat und heute „weitere Opfer unter den Freundinnen“ verlangt, weil es diesen nicht gelingt, ihr „Visa-Problem“ zu lösen, bleibt, wenn man nicht auch noch die alten Matriarchatsmythen des 19. Jahrhunderts bemühen will, eher im Dunkeln. Doch das ist angesichts der Fülle an Assoziationen, vieldeutigen und vielschichtigen Bezügen, überraschenden, mutigen und kreativen Anverwandlungen, kurz: angesichts des überwältigenden Anspielungsreichtums dieses Romans eine absolut verzeihliche, vielleicht sogar notwendige Leerstelle.
Dass der Mythos scheitert, ist, wie wir wissen, zu erwarten. Eine Rückkehr an den Ursprung, in die Heimat, die Geburtstadt, das Elternhaus, ist auch hier nicht möglich. Das hat Sabine Scholl schon in ihrer Essaysammlung Erfundene Heimaten (2019) eindrucksvoll gezeigt. Die Erfahrung, nirgends zu Hause zu sein, nirgends wirklich ankommen zu können außer vielleicht im Erzählen selbst, ist die nur noch angedeutete Restutopie, mit der der Roman seine LeserInnen entlässt.
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