Ein Engel als Flugbegleiter
Michael Schroeders Erzählung „Halbmondzeit“
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Ich heiße Sappho. Ich komme von Lesbos. Meine Lieder sind schlicht.“
Michael Schroeders Erzählung schildert uns die antike Dichterin als moderne Frau – die Strandbegegnung auf Stöckelschuhen illustriert das vitale Vermögen der Literatur, Vergangenes ins Heute zu holen: „Papyrusfetzen sind es jetzt. […] Werfen Sie alles in eine Schüssel, rühren Sie gut um und kleben Sie die Reste auf Papierblätter. Dann haben Sie eine schöne Collage und moderne Lyrik.“
Die historische, zugleich gegenwärtige Sappho spielt hier auf die ungewöhnliche Überlieferungsform ihrer Lyrik an: Gefunden wurden ihre Texte in Form von Papyrus-Masken, die sich die vermögenderen Schichten des alten Ägyptens einst anfertigen ließen. Grundlage dieser Masken war, wir würden sagen, Pappmaché, teils aus beschriftetem Papyrus hergestellt. Da fast ausschließlich Lyrik-Fragmente aus diesen Masken herausgelöst werden konnten, ähneln die Texte der Sappho modernen Collagen.
Ohnehin überwindet Poesie Zeit und Raum (Sappho lebte um 600 v. Chr.) und ist, wie Papier (und Papyrus), geduldig. Mögen Sapphos Lieder auch „schlicht“ gewesen sein, durch das neue Arrangement der Textsicherung haben sie an Kühnheit der sprachlichen Bilder gewonnen. Und so ähnlich entsteht Weltliteratur wohl überhaupt: geduldsam, gemächlich-allmählich aus Realitätspartikeln und beiläufigen Notizen, aus existenziellen Fragestellungen, aus Tagesresten und einfachem Sprachmaterial – „Papyrusfetzen“ für die Ewigkeit.
Poesie entspricht dem Leben in all seinen Formen und Kulturen: Das Archaische bleibt gegenwärtig, die Moderne wurzelt im Mythos. Der Engel der Geschichte, der hier als Flugbegleiter gleichsam die Gestade des Mittelmeers ansteuert, der Wüsten durchquert und (vormals) prächtige Stätten der Antike überquert, weist in Vergangenheit und Gegenwart. Künftig nimmt er auch Züge des Freundes und Geliebten an: ein geflügelter Narziss, mit schön geschwungenem Mund.
Was für Sappho gilt – ihre gleichzeitige Verwurzelung im Hier und Heute und auch in der Antike –, gilt in dieser Erzählung analog für die „Männerliebe“, deren besondere „Gestalt“, der Eros, als jähe, engelsgleiche Offenbarung purer Schönheit erfahren wird. Gewiss gibt es Bedingungen, die ihr oder ihm nicht günstig sind, auch nicht auf dem Papier. Die gleichgeschlechtliche Liebe bleibt hier diskret, gleichsam distanziert, zumal sie mit Hindernissen zu rechnen hat – eine Traumbegegnung des Er-Erzählers mit einem Adonis „im klassischen Sinn“ führt zu Angst, Schweiß und Tränen: „Die Schönheit des Jünglings weckte tiefe Sehnsucht und Begehren in ihm.“ Ein intimes Zwiegespräch mit dem Vergötterten bleibt ihm versagt: „Es ist nicht vorgesehen für dich, es ist dir nicht erlaubt.“
Der exotische Raum, den der Autor abschreitet, von Istanbul über Damaskus bis hin zur Großen Syrte, steckt voller Gefahren – in Antike wie Gegenwart. Wenn hier also von (emotionalen) Stürmen, (metaphorischen) Fallwinden und (wirklichen) Schiffbrüchen erzählt wird, so vieldeutig und vielgestaltig, wie wir sie aus Homers Epen kennen, dann darf man sich nicht täuschen lassen: Die „orange-farbene[n] Schwimmwesten“, die – „angeschwemmt“ – an den Ufern sich „stapelten“, erzählen von der bitteren Gegenwart verfehlter Flüchtlingspolitik: „Manchmal gibt es weder ein Todesdatum noch einen Namen.“ Gleichgültig wie der Himmel registrieren wir den Verlust vielversprechender Geister und kostbarer Leiber.
Gleichwohl haben die Alten dem Kosmos „Harmonie“ attestiert: Im Brudersphären Wettgesang, so ihre Vorstellung, folgen die Sterne den Gesetzen des Wohlklangs, und die Grillen singen dazu ihr gleichförmiges Lied – bevorzugt in Griechenland und im Mittelmehrraum. Ein älterer Herr, hier Konstantinos genannt, beklagt indes das dunkle Schicksal der Ägäis und ihrer Inseln, die, „von der Sonne verbrannt“ und zum Verbannungsort erklärt, nur noch als Zeltlager für Entwurzelte, Gepeinigte und Gestrandete wahrgenommen werden. Ein Dichter auch er – Kavafis aus Alexandria vielleicht? Michael Schroeder hat Kavafis mit seinen Übersetzungen in die Moderne geholt.
Wo die Dichter mit Versklang von Versklavung erzählen, ist die Schönheit dem Tode schon anheimgegeben. Und dennoch bleibt ihre Poesie ein Hoffnungszeichen, das aus unserem Leben nicht wegzudenken ist.
|
||