Die amerikanische Nacht
„Jenseits von New York“, ein Band mit Reportagen und Fotografien Annemarie Schwarzenbachs, ist in einer überarbeiteten Ausgabe erschienen
Von Behrang Samsami
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit ihrer Wieder- beziehungsweise Neuentdeckung im Jahre 1987 in ihrem Heimatland, der Schweiz, ist Annemarie Schwarzenbach vor allem als Schriftstellerin, Reporterin und Fotografin bekannt geworden, die den Nahen Osten bereist und ihre dortigen Erfahrungen immer wieder verarbeitet hat. Winter in Vorderasien, Tod in Persien oder Das Glückliche Tal sind Beispiele dafür. Dass sie in den 1930ern und 1940ern auch in den USA war, fällt in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich weniger ins Gewicht. Dabei hat sie während ihrer Amerika-Aufenthalte zwischen 1936 bis 1938 ihre journalistisch vielleicht besten und engagiertesten Artikel geschrieben und Fotos gemacht.
2018 hat Roger Perret mit Jenseits von New York eine überarbeitete Ausgabe mit Reportagen und Fotos von Schwarzenbach aus den USA zur Zeit der Großen Depression publiziert. Sie ergänzt die 1992 von ihm herausgegebene um einige bisher unveröffentlichte Texte, lässt einen weg und zeigt fast doppelt so viele Fotoaufnahmen. Wie Perret im Anhang schreibt, war die Veröffentlichung der über 3.000 (Reise-)Fotografien aus ihrem Bildnachlass im Schweizerischen Literaturarchiv nach dem 75. Todestag im November 2017 im Internet der Anlass für die vorliegende Neuausgabe.
In ihren Artikeln, die 1936 bis 1938 in diversen Schweizer Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind, lernen wir Schwarzenbach als neugierige, mutige und engagierte Journalistin kennen, die sich für die Menschen „jenseits von New York“, abseits der lärmigen, glitzernden Großstadt interessiert. Nach New York und Washington reist die Reporterin in den Osten und Süden des Landes, in stark industriell und agrarisch geprägte Gebiete, in denen sich Gewerkschaften und Unternehmer gegenüberstehen, weil letztere nicht selten auf Kosten der Arbeiter große Gewinne machen. Schwarzenbach reist nach Pennsylvania, West Virginia, Tennessee, Alabama, Georgia, North und South Carolina und Ohio. Sie sucht vor allem Abgehängte auf, Weiße wie Schwarze, die ihre Arbeitsstelle infolge der 1929 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise verloren haben:
Was wird aus den Menschen, die in den Gruben gearbeitet haben, in elenden Baracken wohnten, heirateten und Kinder haben und beim besten Willen keine Ersparnisse machen konnten? Kein Gesetz schützt sie, kein Gesetz verbietet einer Gesellschaft, eine Grube zu schliessen, wenn sich die Ausbeutung nicht mehr lohnt – und manche Gruben wurden aufgegeben, weil Organisatoren der Arbeitergewerkschaften in die Grubenstädte kamen, um die unter elenden Lebensbedingungen abgestumpften und hoffnungslosen Männer aufzurütteln, aufzuklären, in einer ,Unionʻ zu vereinen.
Schwarzenbach nutzt auch ihre Kontakte zu wohlhabenden Freunden, deren Empfehlungsschreiben ihr die Tore von Fabriken öffnen. Wie etwa in Pittsburgh: „Ingenieure begleiten mich auf meinem Rundgang, bewaffnete Privatpolizei kontrollierte alle nasenlang die Papiere.“ Schwarzenbach trifft zudem auf Gewerkschaftler und linke Aktivisten wie Myles Horton (1905–1990), den sie in einer von ihm 1932 mit gegründeten Schule in Tennessee besucht: „Neue Gäste kommen – und obwohl das eigentliche Semester noch nicht begonnen hat, ist ein Teil der Betten in der ,Highlander Folk Schoolʻ immer besetzt. Das alte Farmhaus scheint so etwas wie ein Zuhause und sicherer Hafen zu sein – für alle Verfolgten, alle Wissensdurstigen, alle zuverlässigen Freunde der Arbeiterbewegung.“
Die mitveröffentlichten Notizen einiger Aufenthalte in dieser Region der USA machen deutlich, wie genau die Reporterin recherchiert. In ihren Texten schildert sie die Lage, in der die mittellosen Gruben- und Baumwollarbeiter leben, mit knappen, präzisen Worten und lässt stets durchblicken, dass ihnen ihre Sympathie gehört. Sie sucht ihre Häuser und Arbeitsstätten auf, fotografiert sie. Und sie gibt die Abgehobenheit und Arroganz der Upper Class den unteren Schichten gegenüber wieder: „Aber sie brauchen kein Bargeld, – was würden sie schon damit anfangen? Bestenfalls würden sie es vertrinken. Nein, wir wissen am besten, wie man mit diesen Leuten umgehen muss. Wir sorgen schon für sie“, zitiert Schwarzenbach zwei Damen, die sie mit einem jungen Rechtsanwalt zu einer Baumwollspinnerei eskortieren.
Jenseits von New York macht Schwarzenbachs politische Nähe zur New-Deal-Politik von US-Präsident Roosevelt genauso deutlich wie ihre von der Dokumentarfotografie der „Farm Security Administration“ (FSA) beeinflusste eigene Fotoarbeit. Der von Perret herausgegebene Band enthält zudem Aufnahmen in Schwarz-Weiß, die mit den Texten korrespondieren: Leere, weite und öde Landstraßen, an Häusermauern oder an Autos lehnende Arbeitslose, Kinder und Jugendliche, die herumstreifen, vor ihren Holzbaracken sitzende Familien, Gefängnisse und Autofriedhöfe. Dazu konträr Auslagen von Geschäften, die Waren anbieten, Kinoplakate mit lächelnden Schauspielern. Über allem liegt eine düstere Stimmung, Leere und keine Hoffnung, dass sich etwas ändern könnte.
Der vorliegende Band ist aufgrund der atmosphärischen Dichte der Reportagen und Fotografien und der erkenntnisreichen Analyse der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lage im Osten und Süden der USA Mitte der 1930er Jahre nur zu empfehlen. Im Anhang finden sich darüber hinaus ausgewählte Briefe an Arnold Kübler, Klaus Mann und Otto Kleiber, die die schwierige Entstehung und Platzierung der Reportagen in Schweizer Medien in jener Zeit vor Augen führen. Lesenswert für die Einordnung und Analyse der Reportagen und Fotos ist auch Perrets Nachwort. Zwei Kritikpunkte gibt es jedoch an seinem Beitrag: Wenn Perret die „vernichtende Pressekritik“ von Schwarzenbachs Mutter erwähnt, gegen die jene angeschrieben hätte, dann hätte er stärker herausarbeiten sollen, dass die Reporterin Tochter eines wohlhabenden und weltweit agierenden Textilfabrikanten mit New Yorker Dependance war. Gilt somit die Kritik, die die Reporterin an der Upper Class und ihrer arbeiter- und menschenfeindlichen Einstellung in den Südstaaten übt, auch ihrer eigenen Familie? Wohlwollend wird diese die Schilderungen sicherlich nicht gelesen haben.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft Perrets Betonung des Einflusses des New Deal und der FSA auf Schwarzenbachs journalistisches Eintreten „für die – oft sprachlosen – Entrechteten und Benachteiligten“. Es scheint zwar tatsächlich so, dass die Reporterin hier eine starke Orientierung gefunden hat. Für die Fotografin dagegen müssen die dokumentarischen Bildarbeiten der FSA eher wie eine Bestätigung ihrer bisherigen Arbeit gewesen sein. Betrachtet man ihre Aufnahmen im Vergleich, findet sich eine auffallende Kontinuität durch die 1930er Jahre: Bereits auf ihren Reisen in den Nahen Osten zwischen 1933 und 1935 fotografiert Schwarzenbach Straßenszenen etwa in Bagdad mit kurdischen Lastenträgern und anderen sitzenden oder wartenden Männern, Kinder in Lumpen oder (Haus-)Frauen, die am Fluss Wäsche waschen. Aufnahmen aus dem Iran zeigen weite Straßen, das harte Leben von Nomaden und das von Kindern und Jugendlichen in grober Kleidung, die wenig zu lachen haben, weil sie hungern oder arbeiten müssen. Wir sehen verfallene Gebäude, oft Moscheen. Annemarie Schwarzenbach interessiert sich daher nicht erst in den USA für den Alltag „einfacher“ Menschen, die unter schwierigen Bedingungen ihr Dasein fristen. Dies einmal an ihren Reportagen und Fotos genauer zu untersuchen, wäre ein eigenes, spannendes Unterfangen.
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