Eine neue Art der Überwachung

Die argentinische Schriftstellerin Samantha Schweblin imaginiert in „Tausend Augen“ ein bedrückendes, aber nicht allzu fernes Zukunftszenario

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kamera befand sich hinter den Augen des Plüschtiers, und manchmal rollte es auf den drei Rädern, die sich unter seiner Basis befanden, vorwärts oder rückwärts. Gesteuert wurde es von irgendwo anders, sie wussten nicht, von wem. […] Wer immer auf der anderen Seite der Kamera saß, versuchte, ihren Bewegungen zu folgen, um nichts zu verpassen.

Freiwillig lassen sich die Personen in Samanta Schweblins Roman Hundert Augen überwachen, freuen sich über ihre kleinen Plüschtiere, die es in verschiedenen Ausführungen gibt, und die sie teuer erworben haben. Sie werden Kentukis genannt und sind eine Art verkleideter Roboter. Jedenfalls sind sie der letzte Schrei, eine Modeerscheinung, die sich viral verbreitet. In allen fünf Kontinenten werden diese – Maskottchen? Begleiter? Spione? – bereits gekauft und von irgendwem irgendwo kontrolliert, je nachdem, ob man User ist oder Kentuki. Man wird beobachtet oder beobachtet.

Eine – noch – fiktive Welt, aber erschreckend vorstellbar. Ist das Smartphone die Vorstufe, braucht es nur noch laufen zu lernen? Die Besitzer können mit diesen Plüschtieren zwar nicht kommunizieren, denn sie sprechen nicht, entwickeln dennoch eine oft enge und sogar emotionale Beziehung zu ihnen. Wer jedoch versucht, mit dem fernen Beobachter irgendwie in Verbindung zu treten, scheitert. Kentukis verstehen ihre Besitzer und führen Befehle aus, aber sie sind so gebaut, dass man sie nie abschalten kann – nur wenn ihr Akku leer ist oder sie mutwillig zerstört werden, endet das Miteinandersein, die Kontrolle bzw. Beobachtung. Sind die Menschen so einsam, dass sie diese Art Zuflucht oder Hilfe suchen, der Kentuki zum Ersatz für fehlende Nähe und Kommunikation wird?

Die Autorin erzählt die unterschiedlichsten Geschichten solcher Beziehungen, es sind eher Mikrotexte, und in wechselnden Kapiteln führt sie die einzelnen Episoden weiter. Kann ein Kentuki ein nützliches Element für Voyeuristen oder gar Päderasten sein?  Kann man damit ein betrügerisches Geschäftsmodell errichten? Kann ein Sohn damit seine alte Mutter beschäftigen und so seine wohl fehlende Zuneigung kompensieren? Kann man eine Person vor einer Gefahr bewahren oder ihn/sie daraus befreien? Lernt man ferne Welten nicht nur virtuell kennen? Kann der Kentuki zu einem Liebesobjekt werden, ein Künstler damit neue Kreativität entfalten?

Die Freundin des Künstlers, die ihn gekauft hatte, fragt sich:

Worauf hatte sie denn in all den Tagen und Wochen gewartet […]? Auf etwas Einzigartiges? Und die Kentukis … Das machte sie am meisten wütend. Worum ging es eigentlich bei dieser blöden Idee mit den Kentukis? Was genau machten diese ganzen Leute, die durch fremde Wohnungen liefen und zusahen, wie die andere Hälfte der Menschheit sich die Zähne putzte? Warum ging es dabei nicht um mehr? Warum dachte sich niemand wirklich brutale Geschichten mit Kentukis aus? Warum notierte nicht ein Einziger dieser Tausenden von Usern, die gerade auf enorm wichtigen Papieren herumspazierten, eine entscheidende Information und löste in der Wall Street einen Börsencrash aus oder hackte sich in die Software irgendeines Systems ein […]. Warum waren diese Geschichten alle so klein, so ungeheuer privat, so armselig und vorhersehbar? So verzweifelt menschlich.

Komplexe Beziehungen können sich durchaus entwickeln, denn noch ist die Mode zu wenig erprobt, um potentielle Gefahren zu erkennen. Die fiktive ähnelt der realen Welt immer mehr. Die Technologie entwickelt sich in rasendem Tempo, wie wir alle wissen. Das hat die Autorin gedanklich weiter entwickelt, legt jedoch keine Dystopie oder Science Fiction vor, sondern versteht ihr Buch als einen Test, den nur die Literatur leisten kann, wie sie im Interview sagte: Sich aus der Sicherheit der Literatur heraus vorzustellen, was geschehen könnte, wie sehr all das schmerzen würde. Bei ihr lehnen sich jedoch viele Kentuki-Besitzer nach anfänglicher Begeisterung gegen ihre Plüschtierchen auf und versuchen, ihrer Überwachung zu entkommen. Was den Leser durchaus erleichtert.

Hundert Augen ist ein verstörender Text, dessen Anziehungskraft, Ablehnung und irritierender Faszination der Leser sich nur schwer entziehen kann. Wie in einem Zerrspiegel entfaltet sich eine neue Wirklichkeit, und unsere vertraute Welt erhält eine zusätzliche, beunruhigende Dimension.

 

 

Titelbild

Samanta Schweblin: Hundert Augen.
Aus dem Spanischen von Marianne Gareis.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
252 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429662

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