Filme über die ostdeutsche Seele

Der Regisseur „Andreas Dresen“ wird von Jörg Schweinitz aus filmwissenschaftlicher Perspektive betrachtet

Von Stefanie LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andreas Dresen (*1963) hat sich seit dem Ende der DDR als Regisseur von Spiel- und Dokumentarfilmen konsequent der Darstellung der ostdeutschen Transformationsgesellschaft (Mau) gewidmet. Seine einfühlsamen Darstellungen des Überlebenskampfes seiner Akteure haben sich einen festen Platz in den Herzen seines Publikums, aber auch der Kritiker erobert.

Davon zeugen zahlreiche Filmpreise, zuletzt für Gundermann (2019), den Bergmann und Liedermacher im Braunkohletagebau von Hoyerswerda. Und während andere Filme nach einer kurzen Weile schon wieder vergessen sind, bleiben Dresens Filme im Gedächtnis haften, weil seine Inszenierungen und sein Schauspielensemble bei aller Vielfalt der eingesetzten künstlerischen Mittel eine innere Wahrhaftigkeit transportieren, die einzigartig in unserer Filmlandschaft sind. Sie verleihen seinen im wahren Leben oft überhörten Protagonisten eine eigene Stimme.

Höchste Zeit also, sich seinem Schaffen von filmwissenschaftlicher Seite zuzuwenden. Dieser Aufgabe stellt sich ein Sammelband der Reihe Film-Konzepte über Dresen. Er vereint mehrere Aufsätze, die sich seinem Werk unter unterschiedlichen Aspekten widmen und wird mit einem Dresen-Interview eingeführt, das dieser dem Herausgeber Jörg Schweinitz anlässlich seiner Tätigkeit als Professor für Schauspiel im Film an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock 2021 gab. Darin geht es um seinen aktuellen Film Rabiye Kurnaz gegen Georg W. Bush. Dresens Worte, dass dies eine „Geschichte über die Kraft der Schwachen“ ist, stellen seine Position als sozial engagierter Filmemacher von Anfang an klar heraus. 

Dennoch bilden seine Filme nicht etwa einen nackten Realismus ab, wie er selbst betont, sondern sie zitieren viele filmische Vorbilder, so etwa sein Film Nachtgestalten (1999), Short Cuts (1993) von Robert Altman oder Sommer vorm Balkon (2006) Werke des Finnen Aki Kaurismäki, sie können also vielmehr als „verfremdeter Realismus“ (Dresen) bezeichnet werden. Aber auch Filme von Walter Ruttmann aus den 1920er Jahren und von Woody Allen werden von Dresen als Vorbilder zitiert. Auch ein Dokumentarfilm über den Herr[n] Wichmann von der CDU (2003), der Don Quichotte nicht unähnlich in einer ostdeutschen Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit Wahlkampf für seine Partei betreibt, passt in sein Programm. In seinen Spielfilmen legt Dresen dagegen viel Wert auf die Distanz zwischen Schauspieler und Charakter, weshalb ein Schauspieler wie Axel Prahl aufgrund seiner Bekanntheit nur in der Verfremdung bei ihm agieren kann. Dies schlägt auch den Bogen zu Dresens seit Mitte der 1990er Jahre parallel laufender Arbeit als Theaterregisseur, bei der die Verfremdung ein bzw. das wesentliche Stilmittel darstellt.

Die folgenden Aufsätze fächern das ästhetische Programm Dresens weiter auf und widmen sich der detaillierten Analyse ausgewählter Filme, beginnend mit einem Beitrag von Stefanie Mathilde Frank zu Stilles Land (1992): Hier probt ein Theaterensemble zur Zeit des Mauerfalls am Theater in Anklam Samuel Becketts Warten auf Godot, was wie ein ironischer Kommentar zu der Dynamik zwischen den beteiligten Akteuren und den sich entwickelnden zeitgeschichtlichen Vorgängen vor ihrer Tür wirkt. Im Raum stehen zentrale Fragen, die jede Figur letztlich anders für sich beantwortet: Kommt die erhoffte gesellschaftliche Veränderung oder kommt sie nicht? Weggehen oder Hierbleiben?

Daniel Wiegand widmet sich den Montage-Konstruktionen in den Filmen Nachtgestalten und Die Polizistin (2000), hierbei handelt es sich um einen Begriff, der sich aus den Kinofilmen des russischen Avantgarde-Regisseurs Sergei Eisensteins ableitet: Bei den Nachtgestalten, zwei Obdachlosenpärchen, ist es der Blick nach unten auf den Asphalt und auf die Füße der vorübereilenden Passanten der bestimmend für die Perspektive der Protagonisten ist. Bei der Polizistin sind es die aneinandergereihten Fassaden der Rostocker Plattenbauten, die sie aus dem Auto erkennt. Beides sind Symptome für ihre Ausgeschlossenheit von der Begegnung mit anderen Menschen, die von Dresen virtuos als Leitmotive seiner filmischen Erzählung verwendet werden.

Hans W. Wulff wendet sich dem Schauspieler Axel Prahl zu, der in einigen Filmen Dresens eine tragende Rolle spielt. Er kann ausgehend von seiner durch vielfache berufliche Brüche und Umwege gezeichneten Biografie zeigen, dass dessen filmisches Rollenprofil als Kleinbürger mit einer steten Renitenz das kapitalistische Erfolgsdiktum unterläuft, aber seinen Figuren dennoch ihre Unsicherheit belässt: Mehr als bei anderen Akteuren verschwimmt hier die Grenze zwischen dem was Prahl im Spiel darstellt und dem was man sich als die private Person vorstellt.

Selina Hangartner untersucht die Ironie als Stilmittel in dem schon erwähnten Dokumentarfilm Herr Wichmann von der CDU, die mittels „Repetitionen, Über- und Untertreibungen geschickt montiert und inszeniert wird“. Den Abschluss bildet Andreas Kötzings Beitrag mit dem progammatischen Titel „Besser scheitern“, in dem es um die Bewältigung der Nachwendezeit in dem Film Als wir träumten (2015) nach einem Roman von Clemens Meyer geht. Im Zentrum stehen hier eine Gruppe haltloser Halbwüchsiger in Leipzig und ihre Erfahrungen in der Vorwendezeit, an die die Erfahrungen in der Nachwendezeit mit den daraus resultierenden Grenzverletzungen und Ausbrüchen von rechter Gewalt anknüpfen. Diese sind motiviert durch eine umfassende Orientierungs- und Verständnislosigkeit zwischen der Generation der Eltern und der Kinder.  

Es ist eine offene Frage, ob Kino gesellschaftliches Bewusstsein verändern kann, aber die Ernsthaftigkeit, mit der Dresens Filme sich schmerzhaften gesellschaftlichen Fehlentwicklungen und denen von ihnen Betroffenen zuwenden, übt vermutlich eine tiefere Wirkung als jede noch so gelehrte soziologische Studie aus. Die hier vorgestellten Beiträge untermauern das durch die Untersuchung der angewandten filmischen Stilmittel auf überzeugende Art. Dresen macht das Kino durch seine Filme zu einer moralischen Anstalt.

Titelbild

Jörg Schweinitz (Hg.): Andreas Dresen.
edition text & kritik, München 2022.
100 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783967075809

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