Jenseits der Lösung von Problemen

Eine Einführung zur globalen Migration macht es sich zu leicht und zu schwer

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei einem Buch, das den Titel Globale Migration zur Einführung trägt und dessen Autorin Professorin für Migration und Gesellschaft an der Universität Osnabrück ist, könnte man erwarten, dass es einer gespaltenen, irritierten und – zumindest hier und da – Orientierung suchenden Öffentlichkeit auf Basis ihrer Forschung erklärt, wer von wo nach wo migriert, warum er das tut und welche Auswirkungen das hat. Helen Schwenken tut das nicht. Ihre Einführung beruht auf zwei Prämissen, die sie einen anderen Weg einschlagen lassen. Erstens: Wir dürfen Migration nicht immer nur als ein Problem verstehen, das nach Lösungen verlangt. Die weit verbreitete „Problemlösungsorientierung“ der Migrationsdebatte fordere von der Wissenschaft etwas, was diese nicht leisten könne. Das liege, zweitens, schon daran, dass darüber, was „Migration“ ist, keinerlei Einigkeit herrsche.

Uneinigkeit besteht in der Öffentlichkeit. Die Einen werfen alle und jeden, der irgendwie von anderswoher kommt, in einen Topf und machen ihn zum Objekt der Begrüßung oder der Ablehnung (an den Enden des politischen Spektrums), während die Anderen, die traditionell von der politischen Mitte repräsentiert werden, sich um eine Differenzierung bemühen, um aufenthaltsrechtliche Entscheidungen, wirtschafts-, sozial- und sprachpolitische Maßnahmen, alltagskulturelle Fragen und andere Themen mit einer gewissen Behutsamkeit angehen zu können. Sie wollen beispielsweise „Flucht“ und „Fachkräftemangel“ unterscheiden, um sowohl ethisch verantwortlich als auch sachlich vernünftig agieren zu können.

Die vorliegende Einführung hält sich aus diesen Aspekten der „Migrationsdebatte“ heraus – und lokalisiert Uneinigkeit noch auf einer zweiten Ebene: in der Wissenschaft. Es könne gar keine Antwort „der“ Wissenschaft auf Fragen der Migration geben, weil „die“ Wissenschaft zu viele verschiedene Vorstellungen davon hat, wie man Migranten zählt, kategorisiert, abbildet, beschreibt oder zu Wort kommen lässt. Mindestens drei Viertel des Buches wollen also nicht primär das Wissen, das Verständnis oder die Handlungsfähigkeit des Lesers stärken, sondern seine methodische Kompetenz im Umgang mit Definitionen und Daten (Kapitel 2), Erklärungsansätzen (Kapitel 3), Debatten und vorgeschlagenen oder schon in Kraft getretenen ein- oder auswanderungspolitischen Maßnahmen (Kapitel 4) sowie der Frage nach Migration und Geschlecht (Kapitel 5). Nur Kapitel 6 beschäftigt sich nicht primär mit Methoden, sondern mit Menschen, und zwar mit Bezug auf „Migration als Emigration“, womit einmal nicht, wie so oft in der medialen und politischen Debatte der letzten und sicher auch der kommenden Jahre, die Zuwanderung, sondern die Auswanderung profiliert wird, die schließlich die andere Seite der selben Medaille ist.

Ziel der „sozialkonstruktivistischen Herangehensweise“ der Einführung mit ihrem Schwerpunkt auf Diskursstrategien in einem sehr weiten Sinne sei es zu erläutern, dass und inwiefern Migration „hergestellt“ wird. Damit werde es perspektivisch möglich, eine Migrationsforschung zu betreiben, „ohne Migration und Migrant_innen als etwas von der Norm Abweichendes, als ‚das Andere‘ zu denken“. Gleichzeitig könne so das „Noch nicht“ und das „Nicht mehr“, also die Defizitfixierung vieler Migrationsdebatten, abgefedert werden.

Wichtig sei also vor allem, das „Etikettieren (Labeling)“ von Menschen kritisch zu analysieren.

Der Verfasser dieser Rezension lebt als EU-27-Bürger in England und kann von diesen Etikettierungsprozessen („labelling“: in Großbritannien mit drei „l“) ein Lied singen. Ist er „migrant“, gar „economic migrant“, „foreigner“, „second-class citizen“, „European“, Teil einer „wave of immigrants“ oder doch im Wesentlichen „researcher“ und letztlich „alright, because you are not here illegally like all these Poles“? Ist umgekehrt die englische Kollegin, die als Lehrerin aufgrund besserer Berufsaussichten gerade nach Berlin gezogen ist, ein Wirtschaftsflüchtling? Ihr Vater jedenfalls sagte kategorisch: „You are not an economic migrant! You are English!“ Was auch nicht mehr ganz stimmt, da sie aus aufenthaltsrechtlichem Selbstschutz und unter Aufbietung aller Blutreserven die irische Staatsangehörigkeit erworben und sich damit die europäische gesichert hat.

Diese anekdotischen Ausführungen illustrieren, dass die Etiketten eminent politisch sind. Damit ist es auch deren Hinterfragung. Meine Kollegin und ich sind darauf angewiesen, dass Politik, Medien und Öffentlichkeit mit Etikettierungen behutsam umgehen. Für Migranten aus Eritrea gilt das erst recht. Sie haben akute Probleme, die mit Migration zu tun haben.

Hinter Helen Schwenkens sozialkonstruktivistischem Ansatz verbirgt sich eine normative Position mit politischen Implikationen. Wäre es zu viel verlangt, dass diese im Krisenjahr 2018 klarer artikuliert werden? Setzt sich gerade eine Einführung nicht sonst dem Vorwurf aus, es sich (in einem ethischen Sinne) zu leicht zu machen, indem sie es sich (auf epistemologischer Ebene) schwer macht? Nicht nur ein vielfach (halb-)öffentlich beschworener „Regelungsbedarf“, auch die tatsächliche Situation von Menschen mit Lebensläufen zeigt an, dass Sicherheit und Chancen zwar mit einem „Nachdenken“ zu tun haben, dass aber dieses Nachdenken unvermeidlich auch ein Handeln ist.

Titelbild

Helen Schwenken: Globale Migration zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2018.
236 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783885068051

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