Empathie als narratives Prinzip

In seinem Roman „Die Passagierin“ imaginiert Franz Friedrich einen Ort, an dem sich traumatisierte Zeitreisende begegnen

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zeitreisen sind seit jeher ein Thema, das die Literatur beschäftigt hat. Viele verbinden sie mit der Science-Fiction, aber sie müssen nicht zwangsläufig den Fokus auf technische Innovationen der Zukunft legen. Vielmehr bietet das Genre die Chance, die Bedingungen und Möglichkeiten der Gegenwart zu diskutieren und zu fragen, ob diese nicht auch ganz anders sein könnte beziehungsweise was das Fundament unserer Kultur ausmacht. Insofern ist der Zeitreiseroman oft auch ein literarisches Experiment, das dazu einlädt, sich mit alternativen Gegenwartsszenarien auseinander zu setzen.

Franz Friedrichs Roman Die Passagierin, der auch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 stand, nimmt das literarische Motiv der Zeitreise auf und entführt uns in eine utopische Welt. In einer nicht näher bestimmten Zukunft ist es möglich, durch ein Wurmloch in der Zeit zu reisen. Wie hier dieser Baustein der Relativitätstheorie konkret genutzt wird, wird nicht näher erläutert und die technischen Details spielen auch keine Rolle. Es wird lediglich angedeutet, dass eine Rückreise nach einem Aufenthalt von 7 Jahren in der Vergangenheit wieder möglich ist, wobei der Zeitreisende exakt an dem Punkt der Zukunft „landet“, von dem aus er aufgebrochen ist. Mit diesem Konstrukt stellt Friedrich unser Konzept von Zeit in Frage: Verläuft sie noch linear, wenn ein Zeitenwechsel im 7 Jahresrhythmus möglich ist? Was bedeutet dies für andere Begriffe, die eng mit dem der Zeit verbunden sind wie Fortschritt, Wachstum oder Tradition? Ist die Entscheidung, die eigene Zeit zu verlassen und in die Zukunft zu fliehen, der Aufklärung verpflichtet – also gewissermaßen ein Ausgang aus der mehr oder weniger selbstverschuldeten Unmündigkeit – oder ist sie vielmehr das Gegenteil: die Abgabe der Verantwortung für das eigene Leben an eine nicht näher bestimmte Macht?

Auf diesen Überlegungen aufbauend entwirft Friedrich ein moralisch spannendes Konzept: Menschen aus der Vergangenheit werden ausgewählt, um in der Zukunft zu leben. Dabei wird denjenigen ein Leben in der Zukunft angeboten, denen Unrecht widerfährt: ein Landsknecht, der mehr oder weniger unverschuldet in die Kriegswirren der Bauernkriege gerät, eine Frau, die im ausgehenden Mittelalter als Hexe angeklagt wird, oder ein in der Gewerkschaft aktiver chilenischer Arbeiter, der der Verfolgung nach der Ermordung Salvador Allendes im Jahr 1973 entkam. Trotz des erfahrenen Leids, aus dem diese Exilanten befreit wurden, leiden viele von ihnen daran, dass sie auserwählt wurden und nicht gemeinsam mit ihren Leidensgefährten evakuiert werden konnten. Die Flucht in die Zukunft ist daher für viele mit dem aus der Exilliteratur bekannten Trauma verbunden, ihre Freunde und Angehörigen nicht ebenfalls retten zu können.

Erzählt wird der Roman aus der Perspektive der Protagonistin Heather Hopeman. Heather wurde im Jahr 1998 als Jugendliche aus Ostdeutschland evakuiert. Das ist in der Fiktion der Erzählgegenwart schon mehrere Jahre her. Sie hat inzwischen mit anderen Kindern und Jugendlichen ein Eingliederungsprogramm in einem Sanatorium auf Kolchis durchlaufen und im Anschluss eine Ausbildung absolviert, die es ihr ermöglichte, selbst an den Rettungsmissionen mitzuwirken. Warum Heather evakuiert wurde, wird nur angedeutet.

Obwohl Heather mit der Evakuierung in die Zukunft gewissermaßen eine zweite Chance bekommen hat und vor allem die erste Zeit im Kindersanatorium sehr positiv erlebt, leidet auch sie zunehmend unter psychischen Problemen, die auch mit der Einstellung der Evakuierungsprogramme in Verbindung gebracht werden: Sie hat sogenannte Phantomerinnerungen, das heißt, sie erinnert sich an Ereignisse in allen Details, weiß aber zugleich, dass sie diese selbst nicht erlebt hat. Dies führt zu einer Verunsicherung und inneren Unruhe, der sie – auf Anraten ihrer Freundin Tezeta – durch eine Reise nach Kolchis entkommen möchte. Diese Phantomerinnerungen scheinen prädestiniert für ein unzuverlässiges Erzählen, doch Friedrich wählt für seinen Stoff einen anderen Weg.

Zuerst einmal konfrontiert er seine Figur Heather mit ihren Erinnerungen nach der ersten Ankunft in Kolchis. Hier ist nichts mehr so, wie sie es im Gedächtnis gespeichert hat. Mit der Einstellung der Rettungsmissionen hat der Ort seine Bedeutung als „Hafen der Zeit“ verloren. Da keine neuen Evakuierten mehr nachrücken, verwaisen die als Sanatorien bezeichneten Auffangeinrichtungen nach und nach. Die Natur erobert sich die Kulturräume zurück und wird so zum Sinnbild eines gescheiterten Experiments. Nur einige wenige Bewohner:innen und nostalgische Besucher:innen bevölkern die Region. Hinzu kommt eine Gruppe Kinder, die als Parodie auf das Beamtentum von der Post bis zur Bahn das öffentliche Leben durch ihre Dienste aufrechterhalten.

Heather quartiert sich im Sanatorium Böhmisch-Locarno ein, wo noch rund 20 Bewohner:innen in einem ehemals beeindruckenden Komplex leben. Sie vertreten verschiedene Jahrhunderte vom Landsknecht aus dem 15. Jahrhundert bis zur Schriftstellerin Elizabeth Bishop. Gemeinsam ist ihnen, dass sie noch auf der Schwelle zwischen ihrer Vergangenheit und der Gegenwart stehen und nicht wirklich angekommen sind. In ihrer Sprache und vor allem den gewählten Sprachbildern ist ihre Herkunftszeit eingeschrieben:

Miss Bishop stampfte mit den Beinen. Wasser spritzte auf. „Was ist euer Lieblingsschwimmstil?“
„Der Kraulschlag“, sagte Matthias, „wie ein Mühlrad. In keinem anderen Stil bin ich so schnell.“
„Da schließe ich mich an. Beim Brustschwimmen kann man sich zwar gut unterhalten, aber ich muss mir dann immer so einen Typen mit Pickelhaube vorstellen. Es ist ein so militärischer, so einfallsloser Stil, steif und immer schön das Köpfchen hoch, das Gegenteil von Eleganz, kein Vergleich zum Delfin, Butterfly. Außerdem bekomme ich nach einer Weile immer Rückenschmerzen davon. Wisst ihr, wie eine Pickelhaube aussieht?“, fragte Edgar und drehte sich zu mir um. „Heather, du könntest es wissen. Wann bist du evakuiert worden? Noch im zwanzigsten Jahrhundert? Nein, sag es nicht. Ich habe gleich gesehen, dass wir aus demselben Jahrhundert stammen, dich würde ich aber etwas später einordnen, eher gegen Ende, in die neunzehnhundertneunziger Jahre?“

Es verbindet sie ein Misstrauen den Menschen und dem Leben gegenüber. Die Evakuierung wie auch die Erlebnisse, die ihr vorausgingen, haben tiefe Spuren hinterlassen. So treffen hier Menschen aufeinander, die „das gesellschaftliche Leid [ihrer] Vergangenheit“ in sich tragen. Ihre Erzählungen wie ihre Handlungen erzählen davon. So wird Kolchis in Friedrichs Roman zu einem Ort, an dem die Verfehlungen der Menschheit und die von diesen ausgelösten Traumata ebenso präsent sind wie eine emphatische Gesellschaft, die Menschen früherer Epochen ein Leben in Würde und Freiheit ermöglicht.

In genauen Beschreibungen von Heathers Tagesablaufes, ihren Gesprächen und ihrer Erkundung von Kolchis ergibt sich nach und nach ein Bild der Erzählgegenwart. Wie sich bereits angedeutet hat, ist das Leben in der Zukunft nicht per se glücklich. In Gruppensitzungen werden im Sanatorium Böhmisch-Locarno daher die Lebensgeschichten bearbeitet, wobei sich die Teilnehmer:innen nicht eins sind, wie sinnvoll diese Erzählungen sind: Werden nur alte Wunden aufgerissen oder stoßen sie tatsächlich einen Heilungsprozess an. Heather vergleicht sie, mit den gruppendynamischen Prozessen im Kindersanatorium nach ihrer Ankunft:

Stuhlkreise hatte es bei uns früher in Kolchis nicht gegeben. […] Die Annahme, dass man sich ausgerechnet in einem Kreis – einer Sitzordnung, aus der man nicht so einfach wieder ausbrechen konnte, in der man der Gruppe völlig ausgeliefert war –, dass man sich ausgerechnet im Stuhlkreis den anderen öffnen, sein Inneres nach außen kehren, sich geborgen und verstanden fühlen sollte, wäre uns damals absurd erschienen. Wenn jemand seine Eltern vermisst hatte oder von Ängsten geplagt war, dann waren wir spontan zusammengekommen, dort, wo es sich eben ergeben hatte, auf der Terrasse liegend, ein Kissen unter dem Kopf, in der Turnhalle, manchmal auf einem Zimmer.

Die Kinder und Jugendlichen haben ihre ganz eigene Art und Weise mit ihren Traumata und den Folgen der ‚Rettung‘ umzugehen. Zwar fühlen auch sie sich als „Displaced Persons“, sind allerdings besser in der Lage, spontan auf die Bedürfnisse zu reagieren und so Heilungsprozesse zu ermöglichen. Kann im Zusammenspiel von Empathie und Resilienz die Eingliederung in das Leben in der Zukunft gelingen? Wie kann durch Kommunikation und gemeinsame Erfahrungen ein Konzept entwickelt werden, das eine gelingende Gemeinschaft möglich macht? Diese Fragen klingen immer wieder an.

Eine besondere Rolle nimmt Matthias, ein Landsknecht aus dem 15. Jahrhundert, ein. Er ist ungemein wissbegierig und technikaffin. Dabei reflektiert er nicht nur, wie seine Zeit historisch verklärt wurde, seine technischen Erfindungen – wie ein Wärme ausstrahlender Regenschirm – bringen die Erfahrungen der Gegenwart und seiner Herkunftszeit zusammen. Er fühlt sich schuldig, für die Gewalttaten, an denen er beteiligt war, und sinniert darüber, welche Erfindungen das Leben der Menschen im 15. Jahrhundert erträglicher machen können:

Ich kam mir so kühn und fortschrittlich vor, als ich das erste Mal mit einem Regenschirm vor die Tür trat. Es war auch das erste Mal, dass mir bewusst wurde: Matthias, du bist angekommen. […] Diese ständige Gefahr: Es regnet, und du verkühlst dich, weil du das Wetter falsch eingeschätzt hast, als wäre das Wetter das Problem, die Wetterangst, von der niemand etwas hat. Niemand sollte an einer Lungenentzündung krepieren müssen, nur weil es hin und wieder regnet. […] der Regenschirm erinnert mich an das ungeheure Potenzial meiner Epoche – wie es hätte sein können, verstehst du?

Matthias größter Wunsch ist es, in seine Zeit zurückzukehren, um dem Menschen etwas von seinen Erfahrungen in der Zukunft zurückgeben zu können.

In Zeiten, in denen die Aufnahme von Flüchtlingen immer wieder kritisch diskutiert wird und der Eindruck entstehen kann, diese verlassen ihre Heimat lediglich, um im westlichen Wohlstand einem sorgenfreien Leben nachgehen zu können, zeigt Friedrichs Gedankenexperiment mit viel Empathie, welche Auswirkungen es hat, die Heimat zu verlieren. Wie in den Überlegungen von Matthias kommt immer wieder die Frage auf, wie es wäre, zurückzukehren. Dass aus den historischen Erfahrungen kein Lerneffekt für die Zukunft hergeleitet werden kann, steht in diesem Roman außer Frage, aber die neu gewonnen Erfahrungen aus der Gegenwart könnten in die Herkunftsgesellschaft eingebracht werden.

Stanislaw Lem legt in seiner Erzählung „Pirx erzählt“ seinem Protagonisten die Worte in den Mund:

Gute Bücher sind immer wahr, auch wenn sie Dinge beschreiben, die sich nie ereignet haben und sich nie ereignen werden. Sie sind wahr in einem anderen Sinne: Wenn sie, sagen wir, von der Kosmonautik handeln, dann lernt man etwas von der Stille kennen, die so ganz, ganz anders ist als die irdische Stille, von dieser Ruhe, die von so vollkommener Unbeweglichkeit ist…. Was immer sie auch schildern, sie sagen stets dasselbe, nämlich daß der Mensch dort nie zu Hause sein wird.

Dass ein entwurzelter Mensch kaum mehr Wurzeln schlagen kann, zeigt Friedrich mit seiner so stillen wie unaufgeregten Erzählung. „Die Passagierin“ ist ein Roman, dem man nicht mit einer Lektüre gerecht wird. Die historischen Erzählungen der Figuren wie auch die moralphilosophischen Fragen und sozialen Themen, die er verhandelt, eröffnen wie in einem Kaleidoskop immer wieder neue Facetten. Sie offenbaren sich erst langsam und regen dazu an, sich auf die verschiedenen Themen und Ideen einzulassen, um dann mit einem neuen Blick unsere Gegenwart zu bewerten: ein gutes Buch, dem gerade in der heutigen Zeit viele Leser:innen zu wünschen sind.

Titelbild

Franz Friedrich: Die Passagierin. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2024.
509 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783103971170

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