Nur Jungsein war schlimmer
Elke Heidenreichs „Altern“ ist eine sehr persönliche Reflexion über das Älterwerden
Von Miriam Seidler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWir leben in einer alternden Gesellschaft. Was es bedeutet, wenn immer mehr Menschen im Ruhestand sind und mehr oder weniger gesund die letzten Lebensjahrzehnte genießen können, beginnen wir erst langsam zu verstehen, auch wenn die Wissenschaft schon lange auf die Gefahren der schleichenden Umkehr der Gesellschaftspyramide hinweist. Mit der Zunahme der älteren Bevölkerung steigt auch das Lesepublikum, dass sich auf diese Lebensphase vorbereiten oder sich mit ihr auseinandersetzen möchte. Und so wundert es nicht, dass die vom Team Hanser Berlin konzipierte Reihe „Das Leben lesen“ mit einem Band zum Thema Altern und einem zum Schlafen ihren Auftakt findet. Beides sind Themen, die ein älteres Lesepublikum ansprechen dürften. In der neuen Reihe – so kündigt es die Verlagsseite an – werden sich „einige der interessantesten deutschsprachigen Autor:innen“ mit zentralen Themen des Lebens beschäftigen. Während das Bändchen zum Schlafen von Theresia Enzensberger beigesteuert wurde, hat den Band zum Altern Elke Heidenreich verfasst.
Heidenreich tritt hier in die Fußstapfen von Jean Améry, Hannelore Schlaffer oder Silvia Bovenschen, die sich alle auf sehr persönliche Art und Weise mit dem Älterwerden auseinandergesetzt haben. Hatte die Literaturwissenschaftlerin Bovenschen einmal die These geäußert, dass das Altern ein prädestiniertes Thema für die Gattung Essay wäre, so wählte sie für ihren Band letztlich die Bezeichnung Älter werden. Notizen. Während des Schreibprozesses – so räumte sie ein – wurde ihr bewusst, dass sowohl die persönliche Involviertheit (sie war bereits 60 und an Multipler Sklerose erkrankt), als auch das Thema selbst der Gattung Essay nicht angemessen wären. Interessant wäre zu wissen, warum Bovenschen die zwischen wissenschaftlichem und literarischen Text angesiedelte Gattung, die in der Regel in irgendeiner Weise den Dialog mit den Leser:innen sucht als dem Thema unangemessen empfunden hat. Sie scheint vor allem das Fehlen von – sowohl für sie als auch für die Leser:innen – überraschenden Aspekten und neuen Denkräumen davon abgehalten zu haben, an der Gattung Essay festzuhalten. Dass das Thema des Älterwerdens teleologisch auf den Tod ausgerichtet ist und Fragen nach dem Umgang mit der zunehmenden Gebrechlichkeit und den Erwartungen der Gesellschaft die Auseinandersetzung mit der letzten Lebensphase bestimmen, lässt sich nicht leugnen. Aber lässt das Thema deshalb wenig Raum für Innovation? Und ist es tatsächlich problematisch über das Alter zu schreiben, ohne die eigenen Erfahrungen als solche kenntlich zu machen?
Den Versuch, einen theoretischen Zugang zu ihrem Thema zu wählen, unternimmt die 81-jährige Schriftstellerin und Literaturkritikerin Elke Heidenreich in dem gerade erschienenen Band nicht. Der Text setzt mit zwei kurzen biographischen Skizzen ein, die einen je unterschiedlichen Blick auf das Leben der Autorin werfen. Hier geht es ihr nicht nur um das Altern als lebenslangem Prozess, der bereits mit dem ersten Atemzug beginnt, sondern auch darum, ihrem Lesepublikum ein Gespür dafür zu vermitteln, dass jede Geschichte aus ihrem je eigenen Blickwinkel erzählt werden kann. Heidenreich bevorzugt einen optimistischen Blick auf das Leben und die Zukunft – auch wenn am Anfang ihres Lebens jede Menge Unglück und Verzweiflung ihren Weg steinig machten. Ihre Lebenserfahrung hat sie gelehrt, dass nur das Jungsein eine Lebensphase war, die sie zur Verzweiflung getrieben hat – insofern kann das Alter nicht so schlimm sein. Ihre Reflexionen über das Älterwerden trägt Heidenreich in saloppem Plauderton vor, der die Autorin wie eine alte Freundin erscheinen lässt, die gute Ratschläge erteilt:
Und auch wichtig ist: nie bitter zu werden über Fehler, Verpasstes, falsche Entscheidungen. Seltsame Entwicklungen. Ändern kann man es nicht mehr. Nur akzeptieren. Mir fällt der unfassbar traurige Satz ein, den der alte Komponist Camille Saint-Saëns zum Schriftsteller Romain Rolland gesagt hat: „Ich bin die Zukunft gewesen.“ War alles andere denn nichts?
Die Leser:innen erfahren in diesem schmalen Bändchen einiges über die Autorin Elke Heidenreich. Von ihrer Beziehung zu einem wesentlich jüngeren Mann über die Bedeutung ihres Hundes bis hin zu Überlegungen, was mit ihrem Nachlass geplant ist, gibt es viele Einblicke in den Alltag und die Regelungen, die die Schriftstellerin für ihr Lebensende getroffen hat. Hinzu kommen unzählige Zitate aus literarischen Texten und Autobiographien, die den schmalen Band zu einer Fundgrube von Reflexionen über und Beschreibungen zum Alter machen. Da darf das gefühlte Alter ebenso wenig fehlen wie der kritische Blick in den Spiegel, der vor allem Frauen immer wieder mit dem Älterwerden konfrontiert. Vom Wunsch nach Unsterblichkeit über die immer noch als Tabuthema wahrgenommene Alterssexualität bis hin zu Einsamkeit, Krankheit und Tod werden alle Themen abgehandelt, die landläufig mit der letzten Lebensphase in Verbindung gebracht werden.
Heidenreich behält auch bei schwierigen Themen den leichten Ton bei. Es ist unverkennbar, dass sie sich hier an Leser:innen ihrer Generation richtet, denen sie Mut machen möchte. Dabei geht sie durchaus auch kritisch auf den gesellschaftlichen Blick auf „die Alten“ ein:
Aber wir sind doch nicht nur die alten selbstsüchtigen Deppen, die den heute Jungen das alles eingebrockt haben, verdammt noch mal. Wir haben Greenpeace gegründet und Amnesty International, wir haben die Grünen erfunden und gegen das Waldsterben gekämpft, und wir zahlen viel Geld an Ärzte ohne Grenzen. Wir haben demonstriert gegen Kriege und Waffen. Wir haben die unterdrückte Sexualität befreit, die Ehe von der Verbindlichkeit und die Schwulen vom §175. Und den §218 haben wir geknackt. Und wir haben, gewagte Behauptung, auch nicht persönlich die Klimakrise zu verantworten. Das waren und sind vor allem die Großindustrien, weltweit, und zwar seit dem 19. Jahrhundert, ab der beginnenden Industrialisierung. […] Schiebt uns Alten nicht die Schuld an allem zu. Und versucht, uns zu verstehen, wie wir versuchen, euch und euren Zorn zu verstehen.
Nicht nur dem Alter sagt Elke Heidenreich den Kampf an, sondern auch allen, die ihrer Generation die Lebensleistungen absprechen, die diese unbestritten vorzuweisen hat. Und so bleibt vor allem eine Botschaft am Ende des Buches im Gedächtnis: Vor dem Alter muss man keine Angst haben. Es ist eine Station des Lebens, die mit Gelassenheit und etwas Mut hervorragend zu bewältigen ist. Heidenreich präsentiert sich als Vorbild, das vorführt: Ich bin ein Mensch wie du und wenn es mir gelingt, so kannst Du das auch. Ein positives Signal für die ältere Bevölkerung, die dieses Buch als Hausmittel zu schätzen wissen wird.
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