Fiktion als Mittel der Klimabewegung
In seinem Debütroman „Wut“ denkt Raphael Thelen über den Status der Aktivisten in der Gesellschaft nach
Von Miriam Seidler
„Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.“ Dieses Erich Kästner zugeschriebene Bonmot sagt nicht nur etwas über unsere alltägliche Wahrnehmung aus, sondern auch über die Bedeutung der Fiktion für die Betrachtung unserer Gegenwart. Wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie gesellschaftliche Strukturen oder natürliche Umwelten anders sein könnten, dann habe ich nicht das Bedürfnis, sie zu verändern. Ein besonderes Maß an Phantasie bedarf es bei Entwicklungen, bei denen Ursache und Wirkung nicht unmittelbar erfahren werden können. Das zeigt sich gegenwärtig vor allem bei der Klimakrise. Dass sich der unbedachte Umgang mit natürlichen Ressourcen erst Jahrzehnte später bemerkbar macht, erschwert nicht nur die Ursachensuche, sondern scheint in erster Linie den Unbedarften in die Hände zu spielen, die trotz der heißen Sommer der vergangenen Jahre und der mit ihnen einhergehenden Unwetter noch immer nicht davon überzeugt sind, dass sich unser Klima nachteilig für die Spezies Mensch verändert.
Schaut man in die Literatur – sei es Ulrich Becks Untersuchungen zur Risikogesellschaft (1996), Gernot Böhmes Ideen einer ökologischen Naturästhetik (1989) oder Michel Serres‘ Überlegungen zum Naturvertrag (1990) – so wird einem bewusst, wie sehr die aktuelle Diskussion von Themen geprägt ist, die alle vor dreißig Jahren schon gedacht wurden – bereits damals ohne durchschlagenden Erfolg, denn die Phantasie jenseits des wissenschaftlichen Umfelds der Forscher wurde nicht angeregt. Der Traum von blühenden Landschaften, wie sie die CDU im Hinblick auf den ökonomischen Aufschwung in Ostdeutschland 1990 versprach und damit den Wirtschaftsaufschwung als oberstes Ziel definierte, ließ damals das Klima in den Hintergrund rücken.
Im Unterschied zu damals ist heute jedoch eine phantasiebegabte Jugend nicht mehr bereit, der Idee der blühenden Landschaften bedingungslos zu folgen. Sowohl die Aktivistinnen und Aktivisten der Fridays for Future-Bewegung als auch diejenigen der Letzten Generation haben vor Augen, wie sich unsere Umwelt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln wird. Statistisch gesehen, da ist sich die Wissenschaft einig, werden heute geborene Kinder mehr Hitzewellen und Naturkatastrophen erleben als ihre Eltern und Großeltern. Dieses Wissen versuchen Aktivistinnen und Aktivisten für sich mit Bildern zu füllen: verdorrte Äcker, auf denen kein Getreide oder Gemüse mehr wachsen kann, kahle Wälder, in denen die Bäume nicht mehr mit ausreichend Wasser versorgt werden oder sinkende Grundwasserspiegel, die dazu führen, dass nicht mehr genug Trinkwasser für alle zur Verfügung stehen wird. Das sind nur einige wenige Beispiele, die sehr plakativ vom Wissen um den Klimawandel ausgelöste Ängste beschreiben.
Weit ausführlicher sind literarische Darstellungen, die meist im Bereich der Science Fiction oder in ferner Zukunft verortet werden. Da sich bereits in der Gegenwart die Auswirkungen des Klimawandels beobachten lassen, stellt sich die Frage, warum in der Fiktion nicht die nahe Zukunft stärker in den Blick gerückt wird. Der Ruf nach einem Klimawandelroman ist in den letzten Jahren immer wieder laut geworden. Hier stellt sich die Frage, wie in der Literatur den Ängsten der jungen Generation eine Stimme verliehen werden kann. Wie kann ihren Ängsten begegnet werden? Welche Möglichkeiten gibt es, sich literarisch für Veränderungen einzusetzen?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Autor Raphael Thelen, selbst Aktivist bei der Letzten Generation, in seinem Debütroman Wut. Er hat einen Roman vorgelegt, der um Verständnis für die Ängste einer jungen Generation wirbt, die befürchtet, die letzte Generation auf dieser Erde zu sein. Der Roman beginnt mit einer „Latschdemo“. Angeführt von Lisa, Sara, Vallie und Wassim bewegt sich ein Demonstrationszug durch Berlin. Die Stimmung bei den Demonstrierenden ist gespalten. Vor allem Wassim und Sara sind zunehmend unzufrieden damit, dass die Sorgen der klimabewegten Menschen zwar von Wirtschaft und Politik mit sorgenvollen Gesichtern wahrgenommen werden, dass aber ihr Protest keinerlei Konsequenzen zu haben scheint. Dabei hat sich das Klima in der Erzählgegenwart bereits verändert. Die Sommer sind heißer und ein Symbol für die Veränderung ist der ausgetrocknete Landwehrkanal. Zwei Hiobsbotschaften erreichen die vier kurz vor dem Potsdamer Platz. Ihr Demonstrationszug muss früher als geplant enden, weil ein Politikerkonvoi in den überfüllten Straßen der Hauptstadt Vorrang hat. Härter trifft die Aktivistinnen und Aktivisten aber die Information, dass der Konzern DE – Deutsche Energie – seine Firmenzentrale ins Ausland verlegen möchte. Das ist eine direkte Kampfansage an die Klimabewegung, deren Klage gegen den Verstoß des Konzerns gegen das Pariser Klimaabkommen stattgegeben wurde, weshalb die DE richterlich aufgefordert wurde, ihre Emissionen in den kommenden Jahren um die Hälfte zu senken.
Das Gefühl, die Mittel des Rechtsstaates geschickt für die eigenen Ziele genutzt zu haben, verkehrt sich mit einem Mal in eines der Machtlosigkeit. Wenn der Konzern seine Zentrale ins Ausland verlagert, um an seinen Geschäftspraktiken nichts ändern zu müssen, dann war der Sieg vor Gericht ein Pyrrhussieg, der letztendlich die Aktivitäten der besorgten jungen Menschen als einen Kampf gegen Windmühlen erscheinen lässt. Und so gewinnen die Unzufriedenen die Oberhand. Der Demonstrationszug verlässt die vorgezeichneten Bahnen. Die Aktivistinnen und Aktivisten stürmen die DE-Zentrale im ehemaligen Bundesbahn-Gebäude am Potsdamer Platz und besetzen die Baustelle für eine Gas-Pipeline, die mitten durch Berlin führen soll. Die Ereignisse auf der Demo werden ausführlich geschildert, wobei einfache Handlungsbeschreibungen mit den Motiven der Protagonistinnen und Protagonisten verknüpft werden:
Sara rappelte sich auf und sah, dass die Polizei sich zwischen sie und den vorderen Teil der Demo gedrängt hatte. Eine ganze Kette, Schlagstöcke und Pfefferspray im Anschlag. Lisa war neben ihr. „Da rüber!“, brüllte Sara und zeigte mit ausgestrecktem Arm nach links. Sie rannte los, die ganze übrige Demo hinterher, vorbei an Polizeiwagen, quer über rote Ampeln und rein in den Verkehr, ohne auf die Schreie der Fußgängerinnen und die Polizisten zu achten, immer auf die Stresemannstraße zu. […] Sara rannte, so schnell sie konnte. […] Hoch oben auf schlanken Masten saßen Überwachungskameras, starrten gierig auf Sara runter. Wie so oft trug sie einen weiten Schal um den Hals, den sie sich manchmal über den Kopf zog, um ihn vor der Sonne zu schützen, doch an diesem Morgen dachte sie nicht daran, sich zu vermummen. Warum auch. Sie hatte nichts zu verbergen. Sie hatte ihre Prinzipien. Zu denen stand sie. Zu denen hatte sie viel zu lange nicht gestanden.
Neben den aktuellen Ereignissen werden in Rückblenden zentrale Erlebnisse aus der Biographie der führenden Aktivistinnen und Aktivisten gegeben. Dabei wird weitgehend aus der Perspektive von Vallie, dem Gesicht der Klimabewegung, und ihrer Lebensgefährtin Sara erzählt. So gelingt es Raphael Thelen nicht nur, einen emotionalen Zugang zu seinen Protagonisten herzustellen, sondern zugleich deren Zerrissenheit aufzuzeigen. Eigentlich würde Vallie gerne ein normales Leben führen – Studium, Beziehung und ab und an einen Urlaub, um sich gemeinsam mit Sara fallen zu lassen:
Ich will bei dir sein, mich mit dir irgendwo verkriechen, ich will, dass du mich hältst, will dich küssen, deine Haut riechen, wenn ich einschlafe und wenn ich aufwache. Ich will deine Gedanken kennen und vielleicht Kinder mit dir großziehen, auf jeden Fall immer bei dir sein, also nein, irgendwie ist nichts okay, denn diese Scheißwelt geht unter, und das lässt mich nicht los, verfolgt mich, und das ist einfach Dreck und unfair, und ich habe Angst.
Doch die romantische Liebe taugt weder als Religionsersatz noch als Entschuldigung für den Rückzug ins Private. Im Angesicht der Ängste, die die Klimakrise hervorruft, muss das Private für das umweltpolitische Ziel hintenangestellt werden. Ihre Beziehung zu Sara ist nicht nur aufgrund der enormen Arbeitsbelastung, sondern auch aufgrund des Gefühls, nicht genug zu erreichen, kurz vor dem Zerbrechen. Dabei hat sich Vallie immer an die Ideale gehalten, die ihre Eltern ihr mit ihren Erziehungsmethoden vermittelt haben:
Was hatten ihre Eltern ihr mitgegeben? Äpfel und Möhren für die Schule, unverwüstliche Kleidung einer teuren Marke aus Österreich und Millionen Glaubenssätze, die die Tage auf dem Spielplatz füllten wie Sand: „Nicht streiten.“ „Sag immer schön Danke.“ „Sei lieb.“
Gerade Vallie fällt es schwer, ihre Gefühle zuzulassen und die Wut, die mit der Entscheidung der DE-Vorständin Nina Müller einhergeht, in die richtige Richtung zu lenken. Dabei ist die Tochter zweier Künstler, deren erstes Projekt sich kritisch mit dem Holocaust auseinandersetzte, eigentlich prädestiniert dafür, unkonventionelle Wege einzuschlagen, ist sie doch nach einer feministischen Künstlerin benannt, die gerade dafür bekannt ist:
Mich hatten sie nach der Performancekünstlerin Valie Export benannt, die berühmt geworden war, als sie ihren Lebenspartner an der Leine wie einen Hund durchs bürgerliche Wien ausführte. Als ich klein war, wurde aus Vallie V und daraus Pfauchen, und das hatten sie bis heute beibehalten.
Bereits die Tatsache, dass die Schreibweise des Namens sich von der Namensvetterin unterscheidet, sorgt für ein Schmunzeln beim Lesen. Ist das feiner Humor oder fiel erst beim Korrektorat auf, dass hier ein Fehler bei der Schreibweise der Künstlerin unterlaufen war? Wie dem auch sei: Thelens Roman ist nicht nur ein Roman, der die Protagonisten der Klimakrise in die Tradition von Valie Export und Peter Weibel stellt – auch wenn den Protesten der Letzten Generation sowie der Protagonistinnen und Protagonisten im Roman (noch) der Witz der politischen Aktionen dieser Vorbilder fehlt. Wut ist nicht nur ein Klimaroman, sondern zugleich auch ein Entwicklungsroman. Die Protagonistin Vallie muss sich ebenso aus dem Rollenmodell wie aus den Vorgaben früherer Protestbewegungen befreien. Das wird auch auf symbolischer Ebene angedeutet, wenn beispielsweise mit dem Landwehrkanal als dem Ort, an dem nach dem Spartakusaufstand die Leiche von Rosa Luxemburg aufgefunden wurde, ein historisch symbolträchtiger Ort gewählt wird.
Daneben werden auch eine ganze Reihe anderer Protestbewegungen im Roman angesprochen. War der friedliche Protest mit den über die Erziehung vermittelten Werten vereinbar, so muss sich Vallie mit der Eskalation neu orientieren und ihren eigenen Weg finden, die Ziele der Bewegung weiter zu unterstützen. Dabei macht ihr nicht nur die spontane Aktion zu schaffen, sondern auch die Erwartungen, die ihr via Telefon und WhatsApp mitgeteilt werden: Alle sind von der Klimabewegung enttäuscht, die nun ihr wahres Gesicht zu zeigen scheint. Die Mutter macht Vorwürfe, der Innenminister droht mit Gefängnis und Nina Müller sitzt unbewegt in ihrem Büro und signalisiert den jungen Menschen, dass sie für sie keine Gefahr darstellen:
Wut ballte sich in meinem Bauch, ich krümmte mich zusammen, damit ich nicht platzte, sie schoss hoch in meine Brust, und ich schlug mit der Hand auf die Marmorplatte. „Fuck!“, schleuderte ich mir selbst entgegen. Es hallte wider von den gefliesten Wänden. Sofort schämte ich mich; es schnürte mir die Kehle zu. Es gab genug Wut in dieser Welt. Die ganze Aggression hatte uns überhaupt erst an den Punkt gebracht, an dem wir waren. Aggression gegen andere Menschen. Aggression gegen die Umwelt. Aggression gegen uns selbst. Was half es, noch mehr kaputt zu machen, wo doch schon Krankheiten, Krieg, Hunger über den Planeten rollten?
Ob und wie der Ausbruch aus den gewohnten Bahnen der Klimaaktivisten ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Doch es lohnt sich durchaus, mit den Mitteln der Literatur über die Frage nachzudenken, wohin der Protest einer Generation führt, die ihre Ängste und Sorgen immer wieder thematisiert, dabei aber das Gefühl hat, dass ihre Stimme nicht gehört wird.
Raphael Thelen hat seine eigenen Ängste in einer fiktiven Erzählung Ausdruck gegeben, die mit seiner einfachen Sprache wie auch dem schematischen Weltbild keinen hohen literarischen Ansprüchen genügt. Der Roman ist vielmehr ein Thesenroman, der durch seine emotionale Strategie Verständnis und auch Sympathie für die Ideen der Klimabewegung wecken soll. Andererseits warnt er davor, die Klimabewegung nicht ernst zu nehmen, nicht nur um gesellschaftliche Verwerfungen und Gewalt zu verhindern, sondern vor allem um das gemeinsame Ziel, den Schutz unseres Lebensraumes nicht aus den Augen zu verlieren. Hierfür nutzt Raphael Thelen mit Wut eine neue Strategie: die der Narration.
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