Wunde Semantik

Roman Seifert forscht zu den Versehrungen der Körpergrenze bei Franz Kafka

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Haut überzieht als geschlossene Hülle die gesamte Oberfläche des menschlichen Körpers. Als solche tritt sie mit der Umwelt in Verbindung und entwickelt vielseitige Leistungen. Vor allem aber schützt sie den Körper, die Haut bändigt das fließende Innere. Risse, Verwundung, eine Öffnung der Körpergrenze kann tödliche Folgen haben. Roman Seifert forschte seit 2015 an der Universität Basel zur Ästhetik der Versehrung, der Porosität und Vulnerabilität der Körpergrenze. Sein Fokus lag dabei auf Franz Kafka; Wunden gehören „fraglos zum Kernrepertoire seiner Motive“, schreibt Seifert in Die wuchernde Wunde, seinem neuen Buch, welches aus Seiferts Dissertationsschrift mit demselben Titel hervorgegangen ist. Die wuchernde Wunde erscheint nun als Band Nummer 963 in der Reihe Literaturwissenschaft der „Würzburger Wissenschaftlichen Schriften“ – und reiht sich damit ein in eine Vielzahl von Studien und biografischen Skizzen im Jahr des hundertsten Todestags von Franz Kafka.

Seiferts Arbeit lässt sich in zwei in ihrem Umfang beinahe identische Abschnitte einteilen: einen theoretischen Teil zur Struktur, Semantik und Typologie von Wunden sowie eine diesem als zweitem Teil folgende Auseinandersetzung mit der Körpergrenze und der Bedeutung von Wunden in ausgewählten Texten Franz Kafkas. Im theoretischen Teil erklärt Seifert neben einer Kulturgeschichte der Körpergrenze und bildtheoretischen Ansätzen ausführlich, welche Wundtypen es gibt, von authentifizierenden, weiblichen und männlichen Wunden bis zu Stigmata und Opferwunden. Wunden als konkrete Verletzung und als Metapher. Dem Lesenden soll der Blick geschärft werden, um „möglichst viele Bezüge, Assoziationen, Bedeutungsfelder und ästhetische Funktionen erkennen und daraus eine kontextsensitive Lektüre ableiten“ zu können. „Wunden laden zum Wühlen ein“, lautet schon der erste Satz des Buches. Entsprechend fleißig sammelte Roman Seifert Erwähnungen von Wunden. Er zeigt wunde Semantiken auf, auch in Kinofilmen wie dem Drama „127 Hours“ und dem Horrorfilm „Ready or Not“. Trägt in einer US-amerikanischen Fernsehserie ein Charakter eine Wunde zur Schau, nimmt er diese Entdeckung in seine Arbeit auf und zitiert die auf Twitter geäußerte Meinung des Regisseurs. Warum allerdings Georg Trakl und Georges Bataille und nicht Marquis de Sade für obszöne sexuelle Verletzbarkeit und für vaginale Wunden ausgewählt wurden, bleibt offen.

Im zweiten Teil seines Buches widmet sich Roman Seifert – man ist nach einem langen Weg versucht, aufzuatmen und leise ein endlich hinzuzufügen – Franz Kafka. Seifert wählte für seine Untersuchungen Kafkas Tagebücher und die Erzählungen Der Geier, In der Strafkolonie sowie Ein Landarzt aus. Unbeachtet bleiben andere Werke und damit beispielsweise die blutige Bestrafung des Landvermessers durch eine kratzende Katze im Roman Das Schloss. Das Motiv der unheilbaren Wunde und ihr Rätselcharakter in Kafkas Erzählung Ein Landarzt sollte dem Lesenden bekannt sein, schließlich würde kein Kafka-Neuling zuerst zu Seiferts Buch greifen, zumindest sollte davon abgeraten werden. Der Geier ist ein bislang kaum erforschter Text, der mit seinem Verwundungsakt einen erfolglosen Schreibprozess abbildet. Die Erzählung In der Strafkolonie enthält „die expliziteste und am präzisesten ausformulierte Verbindung einer Wunde mit einer Schreibszene innerhalb von Kafkas Werk“, betont Seifert. Und seine Analyse eben dieser, der minutiösen Beschreibung, wie eine Maschine einem Verurteilten das übertretene Gesetz in den Leib schlitzt und stanzt, ist ein Höhepunkt seines Buches. Seifert stellt die These auf, die Wunde sei zentral für zwei Erzählstrategien: „Partikularisierung und Rekursivität“ oder auch Destabilisierung und ständige Wiederholung. Im Detail erklärt er entlang bildtheoretischer Begriffe, die zuvor im theoretischen Teil herausgearbeitet worden sind, die „funktionelle Partikularisierung des Gesetzes“, das vermutlich gar nicht die Gestalt von Buchstaben habe. Das Gesetz existiere nur in der ständigen Bildproduktion, im „zyklischen Vollzug“. Der Körper des Verurteilten werde zum Bildträger, der nach Vollendung entsorgt wird, sodass ein neuer Zyklus beginnen muss. Roman Seiferts sprachlich ausgezeichnete Analyse stellt die schmerzhafte „ästhetische Dimension der Wunde“ in den Vordergrund und zeigt die Bezüge zum zentralen Opfermythos des Christentums auf, der Kreuzigung Christi.

Roman Seifert liest Texte „von der Wunde her“, er nutzt die Wunde, um „durch sie in das Geflecht von Bildern einzutauchen, es offenzulegen und zu kartografieren“. Im Falle der Strafkolonie lohnt sich dies. Doch wenn er – nachdem er Strukturmerkmale von Wunden herausgearbeitet hat – hernach jedes Aufscheinen der Dichotomien als Hinweis auf Wundbilder versteht, überzieht er möglicherweise. Es ist eine blutende, eine wunde Semantik. Die von Seifert stark strapazierte Dichotomie zwischen innen und außen sowie offen und geschlossen wurde von Februar bis Mai 2024 in einer Ausstellung des Literaturhauses Strauhof in der Züricher Altstadt thematisiert. Zu seinem 100. Todestag widmete der Strauhof Kafka eine beeindruckende Ausstellung unter dem Titel „Türen, Tod & Texte“. In einem dunklen Raum waren in ihr mit leuchtenden Streifen Türen an den Wänden angedeutet. Diese nur sichtbaren, aber nicht zu öffnenden Türen übernahmen die Funktion einer Grenze zwischen innen und außen. Auf ihnen waren weiß strahlende Zitate aus Kafkas Briefen und Tagebüchern angebracht, welche sich teilweise auch in Seiferts Arbeit finden, weil sie Kafkas Qualen, seine durchwachten Nächte und Schmerzen bis zum Blutsturz abbilden. Türen gliedern den liminalen Raum, ganz ähnlich der Wundsemantik bei Seifert. Türen sind geeigneter als Symbol für die Angst vor dem, was hinter ihnen wartet, und für die Unmöglichkeit, sie zu durchschreiten.

Kafka vermochte stets „präzise Bilder und verwirrende Stimmungen“ zu erzeugen, betonte auch der Begleittext zur Züricher Ausstellung. Seiferts Lesarten erlauben ungewöhnliche Blicke auf bekannte Bilder: Kafka halte die Landarzt-Erzählung jederzeit offen und ermögliche „ein Fließen poetisch kontaminierender Ströme, das nach innen wie nach außen wirkt“, schreibt Seifert. Die Wunde fungiere gar als „Inkarnation der poetischen Produktion auf allen Ebenen der Erzählung“. Dieser Text perfektioniere „die ikonische Produktivität der Wunde so weit, dass eine explizite Schreibszene“ wie in der Geier-Erzählung und der Strafkolonie „überhaupt nicht mehr nötig ist: Der Text ist nichts als Wunde.“ Man muss ihm nicht auf jedem Weg folgen, es ist aber ein Genuss es zu versuchen, dabei seine umfangreichen Zusammenfassungen bisheriger Forschungen zu lesen und pointierte Thesen und Gegenentwürfe abzuwägen. So entsteht ein Verständnis für das bildkritische Potenzial der Wunde – und die Vieldeutigkeit der Bilder Kafkas. Impulse verleiht Die wuchernde Wunde der Kafka-Forschung in jedem Fall.

Titelbild

Roman Seifert: Die wuchernde Wunde. Versehrungen der Körpergrenze bei Franz Kafka.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2024.
275 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783826079238

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