Plansprachen als Erlösung der Menschheit

Clemens J. Setz erforscht die Utopie von der begrifflichen Schärfe

Von Marisa MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marisa Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pure meaning, pure poetry. Die Idee scheint immer wieder, durch alle Jahrhunderte, die Menschen umzutreiben und anzustacheln.“ Welche Abgründe und Höhenflüge mit dieser Idee einhergehen, dem geht Clemens J. Setz in Die Bienen und das Unsichtbare nach und beweist sich darin als guter Beobachter und grandioser Interpret mit großer Wissbegierde.

Setz beschäftigt sich eingehend mit Kunstsprachen, die auf eine mal mehr, mal weniger erfolgreiche Missionsarbeit verweisen können, wie Esperanto, Klingonisch, Volapük, Blisssymbolics, Lojban und aUI. Im Gegensatz zu natürlich gewachsenen Sprachen sind die sogenannten Plansprachen konstruiert. Im Stil eines Essays hinterfragt Setz anhand von Einzelschicksalen, Anekdoten, intertextuellen Verweisen oder Übersetzungen Gründe und Funktionen für den mündlichen als auch schriftlichen Ausdruck in konstruierten Sprachen. Das erzählende Ich spielt dabei nicht etwa wie in Setz’ Erzählband Der Trost runder Dinge mit Erwartungen der LeserInnen, sondern erscheint wie ein unmittelbarer Guide, der Vermutungen aufstellt, LeserInnen direkt adressiert und stets die eigenen Gedanken auf der Metaebene miteinfließen lässt:

Sehen wir uns diese Seite ruhig einige Augenblicke genauer an. Ein großer Teil dieses Buches wird so aussehen. Textblöcke aus unverständlichen Wörtern. Und die Leserinnen werden sich, so vermute ich, in zwei Kategorien teilen: Die eine liest sich zumindest ein paar Zeilen der unbekannten Buchstabenfolgen durch, betont sie vielleicht sogar laut, einfach um zu sehen, ob darin irgendetwas Unerwartetes versteckt ist, ein Anflug von Vertrautem oder Deutbarem, während die andere den Text einfach als homogen-fremdartigen Block wahrnehmen wird, als Gesamtes, als Bild.

Ein Interesse oder zumindest eine gewisse Neugier für Sprache ist also hilfreich. Nichtsdestotrotz halten LeserInnen mit diesem Buch keine trockene Abhandlung über Plansprachen in den Händen. Der Autor gestaltet die insgesamt sechs, inhaltlich meist unabhängig voneinander stehenden Kapitel abwechslungsreich und originell; SprachwissenschaftlerInnen womöglich (fast) zu unterhaltsam. Fiktion und Kulturgeschichte verschwimmen miteinander, teils wirken die Passagen wie Tagebucheinträge. Setz’ eigene Auseinandersetzung mit Plansprachen steht wiederholt im Zentrum, so dass sein Werk genau genommen kein reines Sachbuch ist. Der Autor macht sich vielmehr selbst zum Teil der Geschichten, indem er Interviews, Biographien, das eigene Erlernen sowie Übersetzungen von Plansprachen kommentiert. Er nutzt dabei sowohl linguistische Fachbegriffe als auch umgangssprachliche Ausdrücke. Kurz: Setz dokumentiert seine Begegnungen mit Plansprachen. Durch die Darstellung des Seelenlebens ausgewählter Spracherfinder nehmen LeserInnen Teil an solchen Begegnungen. Sie dürfen sich einreihen in die Runde, zu der „begnadete Dichter, einsam in ihrem Reich ausharrende Könige, vorübergehend Verlorene, Unsichtbare und Verfolgte, Roboter und Verbrecher, Helfer und Welterlöser“ zählen.

Trotz zahlreicher Anekdoten und kleinerer Abschweifungen schreibt Setz klug und auf den Punkt genau. Er vergisst in seiner Feldstudie nie die äußerlichen, soziohistorischen Aspekte, die jeden Menschen und damit sein Ausdrucksvermögen prägen. Eindrucksvoll fächert sich eine möglicherweise persönliche Erfahrung als Kind auf: Ob Setz hier mit der erzählenden Instanz gleichzusetzen ist, bleibt offen. In einer Geschichte geht es um den gehörlosen Jungen Frederic, der aus

mir unbegreiflichen Gründen ‚ohne Sprache‘ gelassen worden [war]. Niemand hatte ihm die österreichische Gebärdensprache beigebracht. […] Wie weit verbreitet diese institutionelle Form von Kindesmissbrauch damals gewesen ist, weiß ich nicht. Ich bin mir aber sicher, sie geschah, ähnlich wie gewisse heutige Formen des Missbrauchs, unter dem Leitgedanken der Fürsorge.

Dass es durchaus sprachenlos existierende Menschen gibt, mag die ein oder andere LeserIn verblüffen. „Was immer jemand ausdrücken will, er muss es jedes Mal aus dem Nichts völlig neu erschaffen, durch geduldige pantomimische Wiederholung einzelner Sachverhalte und Szenen. Es gibt kein Reservoir vereinbarter Zeichen. Jede Äußerung ist ein Turmbau.“ Was fängt ein Mensch mit seiner eigenen Sprache an, wenn nur er oder sie diese sprechen, lesen und verstehen kann? „[D]er Dichter sei in diesem Fall so etwas wie der grenzenlos mächtige König in einem nur von ihm selbst verwalteten und bewohnten Reich, unangefochten von der Vergänglichkeit und den Missverständnissen des Ruhms.“ Gleichzeitig kann das Sprechen ungeteilter Sprachen tragisch sein. Das menschliche Wesen hat ein Bedürfnis nach Mitteilung und Verständnis. Zwei lebende Sprecher der australischen Aboriginalsprache Mati Ke, die isoliert voneinander leben müssen, verfallen in einen „Zustand vollständiger Anschluss- und Kontaktlosigkeit“. Neben einer solchen durch äußere Zwänge entstandenen Sprachvereinsamung existiert „die künstlich, mit voller Absicht und bei klarem Verstand“ entstandene Sprachvereinsamung: „Alle möglichen Menschen in der Geschichte erfanden sich eine eigene Sprache, erlernten sie und beschäftigten sich intensiv mit ihr und standen dann da: allein.“

Am nachhaltigsten beeindruckt in diesem Kontext das Kapitel Die schwer verfilmbare Geschichte des Mr Bliss, eine biographisch ausgeschmückte Geschichte über Charles Bliss (zunächst: Karl Kasiel Blitz), den Erfinder der sogenannten Blisssymbolics. Während des Zweiten Weltkriegs flieht Bliss ins Exil nach England. Dort wird

sein Nachname mehr und mehr zu einem Problem. Die Menschen zuckten vor ihm zurück, weil ‚Blitz‘ auf Englisch so viel wie ‚Bombardierung‘ bedeutet, ganz ähnlich vielleicht wie die Nationalsozialisten in Österreich Jahre davor zurückgezuckt waren, weil der Name Blitz jüdisch klang. Irgendwas stimmte nicht mit der Sprache. Nicht mit einer bestimmten Sprache, Deutsch oder Englisch, sondern mit allen. Allen, die Wörter verwendeten. Denn Wörter konnten, egal wie sie lauteten, missbraucht und pervertiert werden. Man konnte ihre Bedeutung in ihr Gegenteil verkehren. Man konnte lügen. Man konnte sogar, wie den Häftlingen in Buchenwald jeden Morgen neu aus den blechern schallenden Lautsprechern vorgeführt worden war, mit Wörtern riesige Mengen an Menschen töten. Solange die Sprache eine klangliche Oberfläche besaß, […] so lange war sie anfällig und korrumpierbar, so lange stand sie, letztendlich, im Dienste des Kriegs und der Vernichtung.

Dies wurde schließlich zum Beweggrund für Bliss, ein neues Sprachsystem ohne klangliche Oberfläche zu entwerfen. Als Inspirationsquelle diente ihm das Chinesische. Mit dem Entwurf einer konstruierten, stimmlosen Sprache ohne Missverständnisse, Lügen, Intrigen und Diskriminierung war Charles Bliss

auf die Heilung der Menschheit gestoßen. Heilung wovon? Vom Bösen. Das heißt von der Sprache. Der Stimmsprache. Dem hinterlistigen Spiel der Wörter. Ganz ohne Sprache ging es natürlich nicht, aber man brauchte etwas Neues, in dem sich Sinn sozusagen direkt übermitteln ließ. In mönchischem Schweigen ausgetauschte Zeichen, die ‚reine Bedeutung‘ enthielten.

Setz erklärt anhand von Beispielen die wichtigste Funktionsweise der Bliss’schen Sprachphilosophie: Die Tilgung alles Idiomatischen – sprich ‚wörtlich Gemeintem‘ –, sodass Zeichen eine ‚reine‘ Bedeutung transportieren; eine wahrhaft romantische Sichtweise auf die eigens erschaffenen Pikto- und Ideogramme. Setz nimmt das neue System genau unter die Lupe, stets mit humorvollen Anmerkungen, wie beispielsweise bei der deutschen Benennung von Pilzarten: 

Ich meine, schau dir diese Namen an: Filziger Milchling, Gedrungener Wulstling, Igel-Stachelbart, Krause Glucke, Rötelnder Wüstling, Säufernase, Schleimchen, Wolliger Milchling, Ziegenlippe. Wie soll man sich als Wissenschaftler mit solchen Benennungen befassen, ohne dass einem dabei ständig das Monokel in den Tee fällt?

Schnell wird auch dem letzten Leser und der letzten Leserin klar: Ein neues Sprachsystem ohne ‚(sprich-)wörtliche‘, übertragende Bedeutungen oder Metaphern ist nicht nur aufgrund von Pilznamen reines Wunschdenken. Doch genau darin liegt nach der Bliss’schen Theorie der Sinn…

Mittels vieler abgedruckter Symbole lehrt der Autor die LeserInnen das äußere Erscheinungsbild der Blisssymbolics, anfänglich konfrontiert er die LeserInnen ohne jegliches Vorwissen mit der fremden, in den 1940er Jahren entwickelten Pasigrafie. Seite um Seite werden die Bedeutungen aufgeschlüsselt, sodass ein häufiges Zurückblättern – zumindest bei neugierigen LeserInnen – von Nöten ist. Diakritische Zeichen kennzeichnen die Wortarten Verb, Adjektiv oder Nomen und trotz ihres stimmlosen Wesens enthält die Sprache sogar Ausrufe wie zum Beispiel „Wow!“ oder „Igitt!“. Erfrischend ehrlich kommentiert Setz sein Lieblings-Bliss-Wort, jenes für Ukulele: „Das hier wirkt eher wie etwas, was dir nach einem Erdbeben aus dem Geschirrschrank entgegenkommt. Höchstens eine Ukulele im Traum könnte sich so darstellen, so kubistisch, fragmentiert und mysteriös. Die Stunde zwischen Form und Gitarre.“

Als in den 1970er Jahren die Lehrerin Shirley McNaughton auf Charles Bliss’ 800 Seiten schweres Werk stößt, passiert das scheinbar Unmögliche: Ihre SchülerInnen, die aufgrund der schweren Muskelerkrankung Zerebralparese weder eine Lautsprache noch gezielte Motorik beherrschen, können sich mit Hilfe der Bliss-Symbole zum ersten Mal mitteilen. Kurze Zeit später lernen die Kinder lesen und schließlich die englische Sprache. Die Reaktionen des Erfinders darauf überschlagen sich: ‚Seine Weltsprache‘ sei weder dazu da, ohne vorheriges Einverständnis neue Symbole aufzunehmen, sprich ausgebaut zu werden, noch als Sprungbrett für das Erlernen der ihm feindseligen englischen Sprache. Nach Jahren des Konflikts zwischen der Schule und ihm ist er letztendlich wieder alleiniger Herrscher über die Blisssymbolics; den Kindern hingegen ist es nicht mehr gestattet, damit zu lernen. Die Sturheit und Borniertheit des Mannes erinnert an das regressive Denken des Vereins Deutsche Sprache. Auch dessen Mitglieder verweigern sich dem dynamischen Wandel der Sprache, indem sie gegen das Gendern oder gegen Anglizismen vehement ankämpfen.

Was für den einen die Erlösung vom gelebten Albtraum bedeutet, ist dem anderen sein purer Stolz, der ihn isoliert. Dabei sollen Sprachen – unabhängig jeder Form – Menschen verbinden, ihnen zu gegenseitigem Verständnis verhelfen, sie zum „Tänzeln“ bringen. So kommt Setz auch immer wieder auf den Kern von Franz Kafkas Erzählung Eine Kreuzung zu sprechen, in welcher „unsere eigentliche Natur“ – das Verstandenwerden von anderen und das darauffolgende Tänzeln – dargestellt wird. „Das Chaos beginnt immer da, wo dieses Tänzeln des Verstandenwerdens nicht mehr existiert.“ 

Das Infragestellen unserer Kommunikation mit all ihren Zuschreibungen bildet den essentiellen Kern von Die Bienen und das Unsichtbare. Mit der Übersetzung des aUI-Wortes (eine weitere Plansprache) für Frau als passives, rundes Ding (!) demonstriert Setz, dass auch die konstruierten Sprachen sexistisch und diskriminierend sein können. Denn Vorurteile formen nicht nur unser direktes Verhalten, sondern auch unsere sprachlichen Ausdrücke – davon sind Plansprachen nicht ausgenommen.

Nach einem besonders fesselnden Auftakt strapazieren zunehmend ausufernde Exkurse den Geduldsfaden der LeserInnen. Anstatt wie anfänglich spannende Fragen und Implikationen auszuloten, gleicht das Buch immer mehr einer bloßen Aneinanderreihung von kulturhistorischen Fakten. Trotz dieser Schwäche gelingt es Setz, den originellen Reichtum, die lyrische Anmut dieser ‚unsichtbaren‘ Sprachen sowie die Gesichter der SprecherInnen, die ihrer Seele damit Ausdruck verleihen, zu beleuchten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Clemens J. Setz: Die Bienen und das Unsichtbare.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
300 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518429655

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