Im Gepäck: Der Führer durch das Patriarchat für Fortgeschrittene

Über Elif Shafaks Roman „Der Geruch des Paradieses“

Von Anja BeisiegelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anja Beisiegel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Istanbul 2016: Alles beginnt an einem „ganz normalen Frühlingstag“. Nazperi – von allen Peri genannt– ist auf dem Weg zu einer Dinnerparty der besseren Gesellschaft. Sie steckt nicht nur im üblichen Feierabendverkehr fest, sondern auch in den üblichen Auseinandersetzungen mit ihrer pubertierenden Tochter Deniz. Peri ist moderne Muslima, westlich orientiert. Lippenstift, Frappuccino und kurze Designer-Kleider. Eine ganz normale Straßenszene, wie sie auch in New York, Paris oder Berlin stattfinden könnte. Aber Peri lebt eben nicht in einer westlichen Großstadt, sondern in Erdogans Türkei. Und weil die türkische Gesellschaft – auch in ihrer Metropole Istanbul – keine gleichberechtigte ist, hat Peri immer ihren „ungeschriebenen Führer durch das Patriarchat für Fortgeschrittene“ im Gepäck.

Als Peri im Verkehrschaos ihre Designerhandtasche aus dem Auto gestohlen wird, denkt sie nicht lange darüber nach, welche Verhaltensweise dieser Führer von einer türkischen Ehefrau und Mutter erwartet; sie rennt los, um den Dieb zu verfolgen. Während ihres Studiums in England war Peri eine begeisterte Läuferin gewesen. Dieser Lauf und ein altes Foto in ihrer Handtasche katapultieren Peris Gedanken zurück ins Oxford der Jahrtausendwende.

Die eigentliche Romanhandlung bildet nur wenige Stunden ab: die Zeit vom nachmittäglichen Stau bis zur abendlichen Dinnerparty, diesem „letzten Abendmahl des türkischen Großbürgertums“ und dessen abrupten Ende. In die Handlung ihres Romans Der Geruch des Paradieses hinein schaltet Elif Shafak Rückblenden, die Peris Vergangenheit Stück für Stück aufdecken. Nach und nach erschließen uns diese Rückblenden auch die gesellschaftlichen Umstände, unter denen die Protagonistin aufwuchs. Da ist Peris Kindheit in Istanbul in den 1980er-Jahren. Ihre Eltern könnten unterschiedlicher nicht sein: Die Mutter ist überzeugte Muslima, unerschütterlich in ihrem Glauben. Peris Vater, ein einfacher Mann, erträgt die Frömmigkeit seiner Frau nur schwer und versucht Peri zu einer eigenständigen und kritischen Person zu erziehen. Diese Ehe, in der es immer wieder zu Konflikten kommt, bildet die Spannbreite türkischer Wirklichkeiten zwischen einer Öffnung zum Westen einerseits und überkommenen Sitten andererseits ab. Shafak gelingt mit den launig geschilderten alltäglichen Streitereien ein vitales Porträt einer Gesellschaft zwischen Moderne und Tradition.

Der Bruch innerhalb der Familie verschärft sich, als Peris Bruder Hakan in den 1990er-Jahren einen Posten in einer ultranationalistischen Zeitung bekommt, wo er „bei ungeniert laxem Umgang mit Grammatik und Orthografie“ Hetzreden verfasst. „Der Nationalismus passte Hakans Gemütslage wie ein maßgeschneiderter Anzug“. Ihr anderer Bruder wird inhaftiert, weil er sich mit den Einschränkungen des politischen Systems nicht arrangieren kann. Peri flüchtet sich in die Literatur und verschlingt alles, was die kleine Schulbibliothek bietet.

Schließlich gelingt es ihr, ein Studium in Oxford aufzunehmen. Sie schließt Freundschaft mit zwei Kommilitoninnen: der aufgeklärten Muslima Mona und der modernen und säkularen Shirin. Peri muss auch in dieser Situation ausloten, wo sie selbst sich als junge Frau verortet, wie sie sich selbst zwischen Tradition und westlicher Freiheit positioniert. Shirin, Mona und Peri: die Sünderin, die Gläubige, die Verwirrte.

Ein Seminar an der philosophischen Fakultät, dessen Ankündigung „Vorsicht: Dieses Seminar könnte sich für Sie als ungeeignet erweisen“ sich wie ein Beipackzettel liest, wirkt sich für Peri tatsächlich als ein Medikament mit vielen Nebenwirkungen aus.

Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche und Verwerfungen der Türkei in den letzten 40 Jahren muss sich Peri einem Geschehen stellen, das zwar lange zurückliegt, aber immer noch seine Schatten wirft. Es nimmt in ihrem Denken immer mehr Raum ein. Sukzessive erinnert sie die längst verschütteten Ereignisse. Schuld, Skandal, Liebe und Eifersucht. Elif Shafak gelingt es, die Reise in die Vergangenheit zu einer spannenden Spurensuche auszugestalten.

Bei aller Vergangenheitsbewältigung ist der Roman aktuell und betrachtet auch die Türkei der Gegenwart. Der muslimus modernus scheint zu einer aussterbenden Art zu gehören. „Statt vieler Farben schien es nur mehr Schwarz und Weiß zu geben“, analysiert Shafak die Situation. „Man war entweder ,streng religiös‘ oder ,streng säkular‘, und diejenigen, die sich noch irgendwie in beiden Lagern gesehen und mit dem Allmächtigen ebenso leidenschaftlich auseinandergesetzt hatten wie mit der Gegenwart, waren entweder verschwunden oder auf gespenstische Weise verstummt.“

Die Autorin spielt mit Elementen der Genreliteratur. Sie greift auf Kniffe des Kriminalromans zurück, wenn sie die Umstände Peris lange zurückliegender Tat enthüllt, und sie zückt Versatzstücke des „frechen Frauenromans“, wenn es um Designer-Taschen, Kopftücher und Verschleierung geht. Diese Elemente und Elif Shafaks ironische und humorvolle Schreibweise machen den Stoff zu einem unterhaltsamen Roman, der jedoch nie oberflächlich wird. Das Buch zeigt die vielen möglichen Halbtöne zwischen Schwarz und Weiß, es macht erlebbar, wie Peri und ihre Freundinnen sich ihre unterschiedlichen Wege bahnen, den Führer durch das Patriarchat für Fortgeschrittene in ihren Designertaschenund das MWM, das nicht verfasste Manifest der weiblichen Muslime in ihrem Kopf.

Titelbild

Elif Shafak: Der Geruch des Paradieses. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Michaela Grabinger.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2016.
560 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783036957524

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