Die Würde der Beduinenmädchen
Danach sucht in Adania Shiblis „Eine Nebensache“ eine traumatisierte Palästinenserin
Von Martin Schönemann
2017 erschien Tafṣīl Ṯānawī, ein kleiner Roman der palästinensischen Autorin Adania Shibli, der schon bald in mehrere europäische Sprachen übersetzt wurde und internationale Aufmerksamkeit erfuhr. 2022 wurde er unter dem Titel Eine Nebensache auch auf Deutsch veröffentlicht und sollte auf der Frankfurter Buchmesse 2023 einen kleinen Preis bekommen, den „LiBeraturpreis“ für Texte aus dem globalen Süden.
Leider lag der Termin der Preisverleihung nur wenige Tage nach dem monströsen Überfall der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023. Die deutsche Öffentlichkeit stand unter Schock, niemand wusste, wie in dieser Situation das Buch einer politisch engagierten Palästinenserin geehrt werden könne – und überdies ein Buch, das genau dort spielt, wo der Überfall stattgefunden hatte. Reflexhaft wurden auch Antisemitismus-Vorwürfe laut, die eine aufgeregte mediale Debatte auslösten. Schließlich wurde die Preisverleihung auf einen unbestimmten Termin in der Zukunft vertagt. Bis heute hat sie nicht stattgefunden. Eine Nebensache aber wurde durch den Medienaufruhr in Deutschland noch bekannter, 2024 konnte eine Taschenbuchausgabe herauskommen – Anlass, den Text hier noch einmal in Ruhe zu betrachten.
Er besteht aus zwei in sich geschlossenen Erzählungen, die eng miteinander verzahnt sind. Es geht um die Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Beduinin durch israelische Soldaten in der Negev-Wüste des Jahres 1949. Diese Ereignisse werden zunächst aus der Sicht des verantwortlichen Kommandeurs geschildert. Es ist eine Erzählung von kaum erträglicher Grausamkeit, nicht nur durch die detailgenaue Beschreibung des Geschehens, sondern auch durch die Erzählweise, die jegliche Gedanken, Gefühle und Beweggründe des handelnden Täters ausspart. Die zweite Geschichte spielt in der Gegenwart: Die Ich-Erzählerin, eine Palästinenserin aus Ramallah, liest in einer israelischen Zeitung von dem Verbrechen und macht sich auf, die Geschichte des Opfers zu ergründen, ihm die Würde zurückzugeben. Es wird eine Irrfahrt, auf der die Suchende, je mehr sie die gedankliche und geografische Orientierung verliert, umso deutlicher auf Anzeichen verborgenen beduinischen Lebens stößt. In der Verirrung kann sie sich dem namenlosen Opfer von damals immer mehr annähern, bis sie diesem in den Tod folgt. Und dem Leser wird klar, dass die erste Erzählung die wäre, die diese Palästinenserin geschrieben hätte.
Denn auch in der ersten Erzählung verfehlt das faktisch Erzählte den Kern des Geschehens: Wie die Ausrüstung der Soldaten aussieht, welchen Tätigkeiten sie im Einzelnen täglich nachgehen, wenn sie ihre Patrouillenfahrten unternehmen, das erfahren wir allzu genau. Was sie eigentlich in der Negev-Wüste wollen, welchen konkreten Auftrag, welche persönlichen Beweggründe sie haben, das bleibt vage. Das Wesentliche, die Bedeutung des Geschehens, erweist sich erst im Symbolischen: Die Negev-Wüste wehrt sich gegen die unwillkommenen Eindringlinge. Ein Skorpion beißt den Kommandeur, Spinnen und Insekten unterwandern seine Hütte, lauthals klagt ein Hund die Verbrechen der Soldaten an und selbst der Sand der Dünen verschwört sich gegen sie.
In dieser Symbolik spiegeln sich die Erfahrungen der Protagonistin aus der zweiten Erzählung, die schnell begreift, dass sie die Faktensammlungen israelischer Museen nicht weiterbringen. Das beduinische Leben, dem der Einsatz der Soldaten 1949 galt, ist auch in der Gegenwart bedroht. Es wird nicht dokumentiert, bleibt versteckt in der Wüste und zeigt sich nur zufällig, etwa wenn unvermittelt ein Beduinenmädchen aus einer Tür in einer namenlosen Siedlung herauslugt oder eine alte Beduinin mitten in der Wüste auf einem Trampelpfad ins Ungewisse verschwindet. Entsprechend formt die Protagonistin die Darstellung der Ereignisse von 1949 als romantischen Widerstandsmythos einer unterlegenen, aber vitalen naturhaften Region gegen die fremden Eindringlinge, die israelischen Soldaten.
Sich selbst weist die Protagonistin die Rolle des wehrlosen Opfers zu, nach dem Vorbild der Beduinin von 1949. Dass sie die unter dem Regime der Besatzung üblichen Tricks zur Umgehung von Straßensperrungen und Grenzziehungen durchaus beherrscht, wird ihr nicht bewusst. Sie bleibt fixiert auf ihre vermeintliche Ohnmacht, beschreibt sich als unsicher und unbedeutend und wirft sich Narzissmus vor, sobald sie konkrete Willensäußerungen an sich bemerkt. Sie verbietet sich jede berechtigte Wut über die massive Einschränkung ihrer individuellen Freiheit und flieht in Gefühle von Angst und Unrast, in Orientierungslosigkeit. Kurz: Die Ich-Erzählerin zeigt alle Anzeichen von Traumatisierung. Ihre ganze gegenwärtige Wut verdrängt sie und lagert sie aus in die Erzählung über ein vergangenes Verbrechen aus der Zeit der Nakba.
Mit der Doppelerzählung Eine Nebensache liefert die Autorin also nicht nur eine wütende palästinensische Widerstandserzählung. Durch die zweite Geschichte zeigt sie auch, wie derlei Erzählungen entstehen, warum Palästinenser immer wieder auf die Verbrechen der Nakba zurückkommen, warum sie immer noch mit frischer Wut, als sei es gestern gewesen, die Schlüssel ihrer Häuser vorzeigen, die sie doch schon vor Generationen unwiederbringlich verloren haben: Durch das Andauern des Konflikts und seine Verschärfung gerade in den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Enttäuschung von 1948/49 zu einem nationalen Mythos geformt.
Dazu passt, dass der militärischen Gewalt durch Israel in dem Roman breiter Raum eingeräumt wird, die militärische Gewalt der palästinensischen Kämpfer jedoch selbst dort nicht erwähnt wird, wo sie historisch verbürgt ist. Das ist lesbar als ideologische Stellungnahme der Autorin für die palästinensische Kriegspartei, und niemanden würde angesichts der Verhältnisse eine solche Stellungnahme verwundern. Bei genauerem Betrachten handelt es sich aber um die selektive Wahrnehmung der Erzählerin, einer traumatisierten Zivilistin, die in ihrer Verzweiflung nichts als ihr eigenes Elend sehen kann. Shibli führt an dieser Figur vor, wie Gewalterfahrungen die Wahrnehmung verzerren und dass einer gedemütigten und bis an die Grenze des Existenzrechts bedrohten Bevölkerung nichts bleibt als die nationalistische Erzählung von einem als naturhaft verstandenen Widerstand einer ganzen Heimatregion.
Mit dieser Kombination von zwei individuellen Geschichten, der der Beduinin von 1949 und der der Palästinenserin der Gegenwart, umfasst Adania Shibli die große Tragödie, durch die die Palästinenser zu einem Volk wurden: die Geburt einer Nation durch äußere Gewaltanwendung. Dabei ist ihr ein Sprachkunstwerk gelungen, das weit über den Nahostkonflikt hinausweist: Eine Nebensache ist eine kluge, differenzierte und rhetorisch kraftvolle Reflexion über Gewalt, Traumatisierung und deren Folgen.
Umso mehr erschüttert, dass genau das, was Shibli so meisterhaft Literatur werden ließ, sich nun in der Wirklichkeit zu wiederholen scheint: Auf die Verschiebung der Preisverleihung in Deutschland reagierte die Autorin gekränkt. Sie bezeichnete die Preisverleiher als freundliche Monster, zog sich in eine Opferhaltung zurück wie die Protagonistin ihres Romans und weigerte sich, zu einer nachgeholten Ehrung zu erscheinen. Daraufhin wurde der „LiBeraturpreis“ vorerst ausgesetzt. Den Nachteil hat nicht nur die Autorin selbst, sondern auch der öffentliche Diskurs über den Nahostkonflikt in Deutschland, der Shiblis Stimme dringend nötig hat.
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