Findet man das wahre Leben auf einer langen Reise?

Gary Shteyngarts großer amerikanischer Roman „Willkommen in Lake Success“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was erwarte ich von einem guten Gegenwartsroman? Ich möchte etwas über die Welt von heute erfahren, möchte verstehen, wie Menschen aus anderen sozialen Schichten ticken, was sie umtreibt, welche Jobs und Beziehungsstrategien sie haben, welche Fehler sie machen. Und mich interessiert, wie äußere Umstände, wie Politik, Wirtschaft, Technik und Schicksal Einfluss nehmen auf die Menschen, ihre Situation verändern. Ein solches Buch sollte mich von Anfang an packen, seine Sprache, seine Form sollten den Themen, dem Stoff angepasst sein. Doch die Abbildung der Gegenwart allein ist nicht ausreichend, es müssen Elemente wie Spannung, Dramaturgie und Überraschung hinzukommen, ohne dass mir das aufgesetzt vorkommt – all das muss organisch sein und ein stimmiges Ganzes bilden.

Willkommen in Lake Success bietet vieles davon und noch mehr. Gary Shteyngarts Roman dringt tief ein in die amerikanische Seele (die es so sicher nicht gibt, da sie in sehr viele „Unterseelen“ zersplittert ist, hierzulande hat ein Soziologe einst den Begriff von der „Parallelgesellschaft“ geprägt, viele davon werden im vorliegenden Buch vorgestellt).

Barry Cohen verkörpert wie kein anderer den amerikanischen Traum. Sein Vater war Poolreiniger in der Bronx, er selbst hat es nach Princeton geschafft, erfolgreich die einzelnen Karriereabschnitte in der amerikanischen Finanzwelt bewältigt, als da wären Morgan Stanley und Goldman Sachs. Vor ein paar Jahren hat er seinen eigenen Hedgefonds gegründet, „This side of Capital“, benannt nach einem Roman von F. Scott Fitzgerald, den Barry ebenso bewundert wie Ernest Hemingway. Seine Gattin Seema, eine außergewöhnlich schöne Frau mit indischen Wurzeln, Yale-Absolventin, die danach Karriere als Anwältin machte, bewundert Luis Goodman, einen aus Guatemala stammenden Schriftsteller, der mit seiner Frau, einer Ärztin, im selben Haus lebt wie die Cohens.

Und dort, in deren Wohnung, beginnt das Buch. Die beiden Frauen treffen sich bei den Aufzügen, kommen ins Plaudern und verabreden ein Abendessen. Trotz eines 33.000 Dollar teuren japanischen Whiskys, den Barry aus seiner Wohnung holt, um den Abend gebührend zu beenden, wird es ein Fiasko, das vor allem für Seema sehr peinlich ist und zuhause bei Barry und ihr zu einem heftigen Streit führt. Dieser wiederum endet mit vielen hässlichen Worten und massiven Handgreiflichkeiten – sogar das Kindermädchen der Cohens verletzt Barry in diesem Chaos.

Die Cohens haben ein Kind, den dreijährigen Shiva. Shiva ist Autist. Diese Diagnose hat das gesamte Leben von Seema und Barry umgekrempelt, fast alles dreht sich, vor allem bei ihr, um den Jungen. Da sie dieses Handicap als enormen Makel betrachten, verstecken sie ihr Kind vor anderen, zeigen kaum Fotos von ihm und weichen allen Vorschlägen bezüglich gemeinsamer Familientreffen mit Kindern aus. Als Ehepaar kommen sie damit nicht klar, letztlich macht jeder mit sich selbst aus, wie er oder sie damit umgeht und dieses „Problem“ kompensiert.

Der beschriebene Streit führt dazu, dass Barry Hals über Kopf die Wohnung verlässt, lediglich einen Rollkoffer mit den wichtigsten Exemplaren aus seiner exquisiten Uhrensammlung nimmt er mit, da er ohne diese Fetische nicht leben kann. Nun steht er also, bezecht und verletzt, am Busbahnhof von Manhattan, wo er zuletzt als Student war, als er eine Reise zu seiner damaligen Freundin mit dem Greyhound unternahm (der eigentliche Beginn des Buches ist die komödienhafte Szene, wie Barry versucht, mitten in der Nacht am Port Authority Busbahnhof ein Ticket zu bekommen; hier zeigt Shteyngart bereits, wie kompliziert menschliche Interaktion für jemanden ist, der solcherlei Kontakte nicht mehr kennt und erst wieder mühsam erlernen muss).

Was nun folgt, ist Shteyngarts Variante von Jack Kerouacs Unterwegs. Wir schreiben das Jahr 2016, Donald Trump kandidiert für das Amt des US-Präsidenten. Politik kommt in vielen Gesprächen vor, Barry bezeichnet sich selbst als gemäßigten Republikaner, gesellschaftlich und kulturell liberal. Er hat Hillary Clintons Wahllager Geld gespendet, wovon er sich unter anderem eine Karrierechance für seine Frau Seema erhoffte. Die Jahre unter Barack Obama waren für ihn als Mitglied der zu Reichtum gekommenen Finanzelite offenbar eine Katastrophe, mit Hillary könnte nun alles anders und besser werden. Das Buch steuert auf eine Klimax zu, die die Leser, nicht aber die Protagonisten kennen. Zum Ende hin beschreibt Shteyngart den Schrecken und die Agonie während einer Wahlparty, bei der auch Barry und Seema sind.

Erst einmal lernt dieser Mann ohne Eigenschaften, der endlich wieder das wahre Leben erleben möchte, der sich nach und nach allen Schnickschnacks entledigt (abgesehen von seinen Uhren), seine Mitreisenden kennen, ihre Art zu reden, ihre Gerüche, ihre Lebensentwürfe. In Baltimore angekommen, zeigt sich ihm schnell eine andere Seite Amerikas, wo sich niemand für Verletzungen oder schwarze American Express-Kreditkarten interessiert. Shteyngart schickt seinen naiven und voller Pathos durch das neue Leben stolpernden Helden in ein Viertel, wo er einen jungen Dealer trifft, den er gern aufbauen würde, ihm alles über Uhren beibringen und ihn zu einem erfolgreichen Geschäftsmann machen möchte. Er ist sogar bestrebt, eine Stiftung zu gründen. Dieser Barry ist so weit weg von der Realität, so unbeleckt, dass man sich wundert, wie er es geschafft hat, Vermögenswerte von 2,5 Milliarden US-Dollar zu verwalten – offenbar haben diese verschiedenen Welten nichts miteinander zu tun. Doch sein tatsächliches Ziel ist es, Layla, seine erste echte Liebe wiederzusehen, er malt sich ein Leben mit ihr aus, hat Seema (und fast auch Shiva) beinahe vergessen, eilt Layla entgegen, ohne auch nur eine Sekunde daran zu denken, dass sie mit ihm möglicherweise gar nichts mehr zu tun haben möchte.

Derweil geht Seemas Leben zuhause in New York weiter, sie bändelt mit ihrem Nachbarn Luis an, verwaltet Shivas Krankheit, die sie schließlich doch allmählich offenbart. Erst gegenüber ihren Eltern, die daraufhin zu ihr ziehen, als auch gegenüber Luis und dessen Frau, mit der sie sich trotz ihrer Affäre weiterhin trifft.

Willkommen in Lake Success ist ein temporeiches, komplexes Buch, das für seine Leser – ähnlich aktuellen Büchern von Jonathan Lethem, James Sallis oder Jennifer Clement – Eindrücke aus den USA parat hat, die eilige Nachrichten und schnelle Verallgemeinerungen nicht imstande sind zu liefern. Gerade deshalb sind diese Geschichten so wichtig, weil ihre Autorinnen und Autoren Seismografen gleich Veränderungen und Erschütterungen wahrnehmen und in teilweise bestechende Romane übertragen. Shteyngart bedient sich einer gängigen und äußerst gut funktionierenden Technik, er wechselt mit unterschiedlichen Gewichtungen die Erzählebene, öfter und ausführlicher ist er bei Barry, seltener und kürzer, doch genauso intensiv, schreibt er vom Fortgang der Dinge, die Seema beschäftigen. Dabei ist er immer empathisch und witzig, souverän und stilsicher. Auf diese Weise behält dieser umfangreiche und mit vielen ortsspezifischen Details gespickte Roman seine Dynamik und seine Überraschungen, er erfüllt die eingangs formulierten Erwartungen, übertrifft sie sogar und wird somit zu einem Buch, das auch hierzulande zu Recht erfolgreich ist und das man dereinst, wenn man wissen möchte, wie die allererste Zeit unter Trump in den USA erlebt wurde, als kompetente literarische Quelle heranziehen sollte.

Titelbild

Gary Shteyngart: Willkommen in Lake Success. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ingo Herzke.
Penguin Verlag, München 2019.
432 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783328600695

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