Nach dem Brexit ist vor dem Weltuntergang

In Sibylle Bergs „schöner neuer Welt“ starten vier Jugendliche ihre ganz eigene Revolte gegen die Verhältnisse

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

GRM, Sibylle Bergs achtes und bislang umfangreichstes Prosawerk, das unter der Genrebezeichnung „Roman“ daherkommt, spielt in England nach dem Brexit. Rochdale heißt die kleine Stadt nördlich von Manchester, in der Bergs Helden – vier Kinder aus der Unterschicht – am Anfang leben. Don, Hannah, Karen und Peter wachsen in hoffnungslosen Verhältnissen auf. Konfrontiert mit einer Welt, in der kein Platz für ihre hochfliegenden Träume mehr ist, der Arbeitslohn – falls man überhaupt noch welchen bezieht – nicht zur Existenzsicherung reicht und Solidarität wie Mitmenschlichkeit in den tagtäglichen Kleinkriegen auf den Straßen verdreckter Viertel verloren gegangen sind, orientieren sie sich an dem „Grime“ (GRM) genannten Musikstil und dessen dank des Internets wie Pilze aus dem Boden schießenden Interpreten.

Zornige junge Musiker, die sich Stormzy, Bugzy Malone oder Wiley nennen und über „die besten Turnschuhe, Ketten und Autos“ verfügen, haben sich über Plattformen wie YouTube schnell zu Vorbildern und Helden einer ganzen Generation gemausert. Ihre „wütende  Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben“ gibt wenigstens zu der Hoffnung Anlass, es eines Tages auch unter jene schaffen zu können, die der Gesellschaft musikalisch den Mittelfinger zeigen und damit auch noch gut verdienen.

Allein Don, am Anfang des Romans eine zornige Achtjährige voller Hass auf die Welt, in der sie aufzuwachsen gezwungen ist, Hannah, verzärteltes Kind zweier Absteiger aus der „untergehenden Mittelschicht“, Karen, hochbegabt und ihr Leben „im Netz und in Büchern“ zubringend, und Peter, mit seiner alleinerziehenden Mutter aus Polen auf die Insel gekommen und damit zu jenen „armen Leuten aus dem Osten“ zählend, denen von den Einheimischen so gern die Schuld an allem aktuellen Elend zugeschoben wird, halten es in Rochdale nicht lange aus. Ihr Weg führt – über eine kurze Episode im örtlichen Obdachlosenheim – nach London, wo sich nach dem Brexit eine hochtechnisierte, rund um die Uhr jeden Einzelnen per eingepflanztem Chip überwachende Lebensordnung herausgebildet hat. Die dringendsten Bedürfnisse werden mit einem bedingungslosen Grundgehalt abgedeckt, dessen Höhe abhängig ist vom Wohlverhalten jedes registrierten Bürgers.

Doch wer sich nicht registrieren lässt, wie Bergs vier Protagonisten das tun, wer darauf besteht, sein eigenes, medizinisch wie sicherheitstechnisch von niemandem überwachtes Leben zu führen, ist außen vor, profitiert nicht von den als „Errungenschaften“ verkauften Neuerungen, sondern muss ohnmächtig zusehen, wie sich sein Land wirtschaftlich an die Chinesen und lebenspraktisch an eine IT-Clique verkauft, die die Politik nach ihren Bits und Bytes tanzen lässt. In einer heruntergekommenen Fabrikhalle in Londons Eastend hausend – eine Gegend, „wo es verwunschene Seen gibt, deren Oberfläche von grünen Schlieren bedeckt ist und auf der kleine Gasblasen ploppen“ –, beobachten Don, Hannah, Karen und Peter als bewusste Außenseiter eine kollabierende Gesellschaft, in der alle rennen, „um zu zeigen, dass man noch mithalten konnte“, und konsumieren, um sich lebendig zu fühlen: „Ich kauf den Scheiß. Sagt mir nur, welchen. Ich kauf das alles.“

Erzähltechnisch ihren ersten Romanen verwandt – Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997) und Sex II (1998) warfen einen collagenartig und vielstimmig orchestrierten sowie bitter akzentuierten und kompromisslosen Blick auf die Gesellschaft –, setzt Berg GRM als dunkles Stimmenkonzert in Szene, in dem sie alle zu Wort kommen lässt: Gewinner und Verlierer, Männer und Frauen, die da oben und die da unten, Junge wie Alte. Die Äußerungen eines Geheimdienstmitarbeiters – „MI5 Piet“ – finden sich neben denen einer Kommunikationsberaterin, der „durchschnittliche Engländer“ darf sich genauso in die Kakophonie der einander ablösenden, einander durchdringenden, aufeinander eingehenden Meinungen und Kommentare einmischen wie „der Journalist“, dessen Intelligenz mit „geht so, Journalist halt“ umschrieben wird. Man begegnet neben vielen anderen dem Frauenhasser Carl und dem Computer „Ex 2279“, der sich natürlich nur in Form von unverständlichem Code auszudrücken vermag.

All das ergibt in toto einen – vielleicht um ein-, zweihundert Seiten zu langen – Blick auf eine Welt, in der man nicht unbedingt leben möchte, die aber, schaut man genauer hin, der unseren gar nicht so unähnlich ist beziehungsweise heute bereits erkennbare gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und technische Tendenzen in naher Zukunft Realität werden lässt. Eine Zukunft, in der die „Länder des Westens von absurd albernen Diktatoren regiert“ werden, denen niemand mehr vertraut, das Wahlvolk – immer auf der Suche nach einer „Gruppe von armen Deppen“, denen man die Schuld am eigenen Versagen aufbürden kann – sich wieder nach „Führern“ umsieht und Männer sich in der Bewegung der „Abgehängten“ organisieren und ihre „Weltanschauung auf der Vernichtung von Frauen“ begründen.

Eine Zukunft auch, in der niemand und nichts mehr unbeobachtet bleibt. Nicht die Gesundheit, nicht das Familienleben, nicht die Mediennutzung und auch nicht die Sexualität jedes Einzelnen: „Man konnte sich sozusagen zu seinem nächsten Bonusurlaub bumsen.“ Nichts Wichtigeres scheint in jener „schönen neuen Welt“ – ein Romantitel, der besser zu dem gepasst hätte, was Sybille Berg ihren Lesern mitteilen will, als GRM, aber leider schon vergeben war – zu existieren als das jeweils angesagteste „Endgerät“:

Die Angehörigen der Generation Z lebten in ihren Endgeräten, wo immer mehr los war als auf den langweiligen Straßen in ihrem Nest. Sie unterhielten sich in Chatgruppen, starrten Selfie-Accounts an, sie verbrachten acht Stunden am Tag mit dem Glotzen auf Displays und hatten keine Ahnung, was daran falsch sein sollte, weil die Welt im Netz aus Fotos, Filmen und Spielen bestand, die Offline-Welt jedoch aus schlechtem Wetter und Drogenabhängigen, aus renovierungsbedürftigen Häusern und Langeweile.

Hingegen träumt „vom Weltfrieden, von nachhaltig ökologischen Wohnanlagen, funktionierenden Abwassertransporten“ oder der Rettung des Klimas schon lange keiner mehr.

Man könnte seitenlang weiterzitieren aus einem Buch, mit dem sich Sybille Berg, deren literarische Analysen unserer Gegenwart – mit einer Ausnahme, dem 2009 erschienenen Roman Der Mann schläft – noch nie rosig waren, in eine Reihe begibt mit Autoren wie Aldous Huxley (Schöne neue Welt, 1932) und Ray Bradbury (Fahrenheit 451, 1951), George Orwell (1984, 1948) und Anthony Burgess (Uhrwerk Orange, 1962) oder in jüngerer Zeit Juli Zeh (Corpus Delicti, 2009), Dave Eggers (Der Circle, 2014) und Michel Houellebecq (Unterwerfung, 2015). GRM  freilich wie die genannten Werke unter dem Oberbegriff  „Dystopie“ einzusortieren, griffe wohl zu kurz. Denn Bergs Rundumschlag ist nichts weiter als die Verlagerung höchst aktueller Problemlagen in eine nicht in allzu weiter Ferne liegende Zukunft und als solche ebenso besorgniserregend wie aufrüttelnd.

Im Übrigen ist es nicht die Musik, auf die der Titel hauptsächlich anspielt, sondern die Reproduktion des Gefühls, das diese Musik ausdrücken und bei ihren Zuhörern erwecken will, mit literarischen Mitteln, die Bergs Roman versucht. Grime als Text – grimmiges Aufrechnen desaströser Leben in einer zerstörten Welt. Deshalb auch immer wieder das Abgehackt-Harte in der Diktion, die Zeilenumbrüche, die Punkte mitten im Satz, die Klippen, an denen sich die Gedanken brechen, das Stakkatohafte.

Wo es am Ende weder Hoffnung noch Liebe mehr gibt, Träume „eine stark vernachlässigte Größe“ darstellen und das Netz von einer universalen Auskunftei und Orientierungshilfe zu einem „Ort der Verblödung, Verhetzung, der Manipulation und Frustration“, kurz: zur „Leni Riefenstahl der Welt“, geworden ist, geht auch die Chance, all das mit einer großen Anstrengung noch zu ändern, zum Besseren zu wenden, endlich lebenswerte Verhältnisse zu schaffen, in Bergs Romanwelt gegen Null. Gerade deshalb ist der Blick dieser Autorin auf unsere Gegenwart so unerbittlich und illusionslos hinsichtlich dessen, was bleibt: „Ein paralysiertes, glückliches, hirnloses Volk. Alles, woran die Jugendlichen geglaubt hatten, also daran, die Welt zu verändern, sie nach ihren Ideen zu formen, Humanismus, Gerechtigkeit, Privatsphäre und all das Zeug – ist der Gewissheit gewichen, dass sie – Nichts verändern können.“

Titelbild

Sibylle Berg: GRM. Brainfuck. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
637 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051438

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