Essenzen der Brechung

Volker Sielaffs „Ovids Würfelspiel“ ist eine augenzwinkernde Grand Tour durch die Kulturen der kleinen Form

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich möchte so gern ein Gedicht schreiben,
das den Titel ‚Ovids Würfelspiel‘ trägt.
Es soll im Hafen von Constanta spielen.
Vielleicht schreibe ich das Gedicht.
Sein Titel ist so schön.

Mit diesen Worten löst der Autor das Geheimnis um den Titel seines neuen Gedichtbands auf, und zwar bereits auf Seite 13: Es ist ein unvollendetes, vielleicht ein gar unvollendbares Projekt, getragen durch vielfältige ästhetische Anregungen und den reinen Willen des unabhängigen Dichters, alles zum Thema machen zu können. Die feine Ironie, die auch vor der Dekonstruktion des eigenen demiurgischen Dichter-Daseins nicht haltmacht, scheint dabei ganz ungefiltert durch.

In sechs Kapiteln, also gewissermaßen auf den sechs Seiten des lyrischen Würfels präsentiert uns Volker Sielaff, Jahrgang 1966, der mit bedeutenden Preisen und Stipendien ausgezeichnete sächsische Poet aus Großröhrsdorf, der heute in Dresden lebt und arbeitet, sein aktuelles Werk. Es ist untertitelt mit Epigramme und andere kurze Gedichte, was die Lesegemeinde schon einmal einerseits auf lyrische Zuspitzungen, andererseits auf Bezugnahmen zu längst vergangenen Epochen einstimmt. Das Epigramm, als Aufschrift auf Grabmälern und Weihegeschenken für die Tempel der griechischen Antike, hat eine jahrtausendealte kultische Tradition. Im Lauf der Zeit erfolgte die konsequente Literarisierung und mit ihr auch eine thematische Ausweitung. Die klassische Form des Distichons bemüht Volker Sielaff dabei zwar nicht, doch spielen Klang und Rhythmus seiner Verse tendenziell häufig darauf an und erreichen dabei einen ähnlichen, gut memorierbaren Effekt:

Eine Einzelheit

Dass er nur leicht, schreibt Rufin,
beim Küssen Europas Lippen berührte.
Die Stelle lesend, sinke ich nieder zu dir.

Die ‚Grand Tour‘ stand einst als Begriff für die klassische Bildungsreise junger Adliger und Bürgersöhne. Im so betitelten ersten Teil spielt Sielaff auf viele reale und mythische Gestalten der Antike an (wie hier offenbar auf Rufinos, dem Mitautor der Antologia Palatina, einer antiken Epigrammsammlung). Wir begegnen all den Größen in ironischer Brechung, Catull, Archilochos, Kallimachos, Horaz oder Sokrates, von dem es heißt:

Ließ sich nicht initiieren, lehnte den Ritus ab.
Kein Orakel für den, der eigenem Geiste folgt.

Die ursprünglich rituelle Form des Epigramms wird hier zum Transportmittel eines Inhalts, der gerade gegen das Formelhafte, das unreflektiert Übernehmende gerichtet ist – ein reizvoller Widerspruch und gleichzeitig eine Öffnung in unsere Zeit der Nachmoderne.

Das zweite Kapitel Deutsches Literaturarchiv eröffnet mit einem gleichnamigen Epigramm voll hintergründiger Ironie, die auf die implizit ihr innewohnende vernichtende Kraft der Literaturwissenschaft in Bezug auf ihren Gegenstand anspielt – wie viele unbeschützte dichtende Seelen mögen ihr etwa durch kritischen Verriss oder schlichte Nichtbeachtung schon zum Opfer gefallen sein?

In den eisgekühlten Kellern von Marbach sah ich die Schriften der Toten
und holte mir, leicht bekleidet, selbst fast den Tod.

Es folgen neun kurze Texte zum Thema Poetik, aus denen die abgeklärten Erkenntnisse des reifen Dichters so leicht und -ismenfrei sprechen, dass Sielaffs Lesegemeinde nicht auf den Gedanken käme, einer spräche hier, der sie in irgend einer Form belehren wollte – und doch ist hier ganz Grundsätzliches verpackt, das allem guten poetischen Schreiben eigen ist:

Der, dem ihr begegnet
ist nicht derselbe,
der
Gedichte schreibt.
Der eine
tut nachts,
der andere
nichts
zur Sache.

Sielaff hält sein Publikum bei aller direkten geistigen Ansprache auf Distanz – es geht nicht um den Schreiber, stets nur um das Geschriebene, und doch werden durch die aufgerufenen Dichtergrößen von Catull bis Charles Olson, von Schiller bis Les Murray Inspirationen, Quellen und Bezüge seines Schaffens offenbar, die mittelbar auch wieder Aussagen über Sielaff selbst zu machen imstande sind. Festlegungen von Werk und Autor aber scheitern, und zwar gewollt:

In die Richtung weiter, sagte im Traum zu mir der Kritiker.
Da schlug ich abseits der Straße munter mich in die Büsche.

Der dritte Zyklus des Buches, Nachtwörterbuch, versammelt Texte zur Liebe, zum sinnlichen Empfinden und ihrer Spiegelung in der literarischen Umsetzung. In vielen Anspielungen auf chinesische und japanische Schreibende und ihr Werk etwa ruft Sielaff die Ideengeschichte ganzer Volksliteraturen auf, die freilich in Kurzgedichten nur angetippt werden können, das Lesepublikum jedoch zu weiterer, eigener Recherche anregt, wie etwa zu einer Beschäftigung mit der bemerkenswerten Biografie des japanischen Autors Yukio Mishima oder zum Studium der Texte der chinesischen Dichterin Shu Ting. Und wieder findet Sielaff dabei zu so treffenden Charakterisierungen der ostasiatischen Literatur, die auch weit in unsere europäischen Kulturen hineinragen:

Aus dem Japanischen
‚Komorebi‘, Sonnenlicht scheint durch die Blätter der Bäume.
Blatt sei und durchlässig, du Künstler!

Höhleneingang, die vierte Abteilung in Sielaffs Kurzgedicht-Kompendium ist vor allem dem literarischen Einfangen von Natureindrücken gewidmet, und auch hier werden immer wieder Zusammenhänge zu Dichtenden und Malenden offenbar; neben Hubertus Giebe oder Günther Anders darf natürlich auch Karl May nicht fehlen:

In Radebeul
Der Hase liegt überhaupt nirgendwo im Pfeffer.
Er liegt auf der Wiese, lang ausgestreckt
wie der Skalp
eines sächsischen Indianers.

Im fünften und vorletzten Kapitel Opel Kapitän scheinen Kindheitserinnerungen auf, die freilich wiederum ostentativ literarisch bearbeitet werden – die bereits erwähnte Distanz zwischen Autor und Publikum wird aufrechterhalten. So schließt etwa das Titelgedicht, eine Aufzählung von Dingen, die es im elterlichen DDR-Haushalt gegeben habe, mit den Worten:

Ich habe mir dieses Gedicht
nicht ausgedacht.
Nur der Opel Kapitän
ist gelogen.

Gleichzeitig hinterfragt Volker Sielaff listig die Verklärung durch das Erinnern, den Verformungseffekt der Zeit durch das verarbeitende Wieder-Aufrufen. Und doch kann er, aus der Distanz der dritten Person letztlich auf sich selbst blickend, Camus‘ Sisyphos paraphrasieren:

Einer
Er hat kein Telefon. Er hat auch keinen Computer.
Er muss einem wohl erscheinen als ein glücklicher Mensch.

Dieses implizite „Es war nicht alles schlecht“ mündet abrundend in den letzten Kreis von kurzen Gedichten, betitelt mit Die Geschenke. Volker Sielaff reflektiert in ihnen – einerseits – besondere Momente; eine Feier des Augenblicks, jener Magie, die bei aller Gebautheit von literarischen Hervorbringungen doch immer wieder ausschlaggebend wirkt für deren Entstehen. Die anderen Geschenke beziehen sich, etwa in eingedampften Künstlerbiografien, in geradezu dichotomischer Weise auf das Große und Ganze, den Weitwinkelblick auf das Leben. Und so kommt der Dichter in den letzten Versen des Bandes zu der dann nicht mehr ganz so erstaunlichen Synthese, welche den Sisyphos im Geiste wiederaufnimmt und letztlich auch das Schreiben selbst infrage stellt, der Existenz als solcher das Wort redet:

Naturgedicht
Du sollst die Welt
nicht beglücken.
Nimm lieber
den Holzweg
hinunter
zum Fluss,
atme ein
und dann
wieder aus.

Volker Sielaff lotet in Ovids Würfelspiel alle Facetten einer nur scheinbar aus der Zeit gefallenen literarischen Form aus. Er erschließt seinem Lesepublikum das Epigramm und die ihm verwandten freieren Kurzformen des Gedichts auf seine eigenständige, frische und immer wieder belebende Weise.

Titelbild

Volker Sielaff: Ovids Würfelspiel. Epigramme und andere kurze Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2023.
80 Seiten , 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305161

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