Wahrheit – gefühlt oder geprüft?

In „Wahrheit und Verschwörung“ analysiert Jan Skudlarek Merkmale, Ursachen und Folgen von Verschwörungstheorien – und wie man dagegen angehen kann

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich könnte man meinen, Begriffe wie post-faktisch, Fake-News, Verschwörungstheorie seien mittlerweile abgedroschen – und dann fällt einem Jan Skudlareks Büchlein Wahrheit und Verschwörung in die Hand. Der Autor ist promovierter Philosoph und Lyriker und beide Qualifikationen erweisen sich für den Leser als Gewinn: Die Aussagen sind durch Quellenangaben sorgfältig belegt. Die Argumentation ist klar gegliedert. Grundlegende Konzepte wie etwa Lüge, Verschwörungstheorie oder Zweifel werden präzise definiert und komplexe Sachverhalte durch einfache Beispiele plastisch veranschaulicht. Es finden sich pfiffige Formulierungen. Einige Passagen sind gesetzt wie moderne Gedichte. Der Text ist aufgelockert durch Einschübe von Karikaturen, Tweets (u.a. von Trump) und Kästen, in denen einschlägige Vorkommnisse oder wissenschaftliche Befunde dargestellt werden. Um nur zwei Kostproben zu geben: Skudlarek vergleicht den Verstand, dessen man sich – nach Kant – ohne Leitung eines anderen zu bedienen habe, mit einem Werkzeugkasten. Den wenden Menschen mehr oder weniger gut auf anstehende Probleme an:

Man muss eine Tür nicht eintreten, wenn man gelernt hat, ein Schloss zu knacken. Verschwörungstheoretiker sind nun Menschen, die hartnäckig behaupten, jemand habe heimlich ihr Wohnungsschloss vertauscht, während sie in Wahrheit lediglich den Schlüssel verwechseln (oder versehentlich vor der falschen Haustür stehen) […].

Auch muss man den ganzen Werkzeugkasten nutzen, sonst gilt: „Wenn man nur einen Hammer hat, sieht alles aus wie ein Nagel“. Und verschwörungstheoretischer Zweifel ist unproduktiv: Statt die verschlossene Tür zu öffnen sucht man so zu wirken, als würde man besonders geschäftig mit dem Werkzeugkasten hantieren. Noch ein Beispiel zu Skudlareks gewandter Schriftsetzung, in dem es um den Film Die Truman Show geht, worin Protagonist Truman als Kind von einer Firma adoptiert wird, und in der künstlichen Welt einer Show aufwächst, nonstop von Schauspielern geführt:

Sein ganzes Dasein: inszenierte Unterhaltung. Unecht. Die Truman-Show.
Das wussten auch alle.
Nur einer nicht.
Truman.          

An den Anfang seiner Überlegungen stellt Skudlarek eine Zeitdiagnose und das Beweisziel: Wir leiden unter Wahrheitsschwund. Aber Wahrheit gibt es. Diese Diagnose belegt er durch eine Vielzahl von Verschwörungstheorien: Klimawandel sei eine Erfindung; Impfung könne Autismus auslösen; die Migrationspolitik ziele auf Islamisierung und ‚Umvolkung‘; die ‚Chemtrails‘ von Flugzeugen seien giftig; Terrorakte wie auch die Mondlandung seien inszeniert; das Deutsche Reich existiere noch. Dann arbeitet er Gemeinsamkeiten solcher ‚Erklärungen‘ heraus. Sie erheben einen Wahrheitsanspruch. Sie entlarven Hintermänner, die böse Absichten verfolgen würden. Die Mächtigen etwa würden Anschläge inszenieren, um ihre Kontrollinstrumente auszubauen, Impfungen sollten Geld in die Kassen von Ärzten und Pharmaindustrie spielen – gesellschaftlich Relevantes geschehe nämlich nicht durch Zufall, Dummheit oder Irrtum. Und die Verschwörungstheoretiker arbeiten mit Umetikettierungen, Impfung beispielsweise sei keine sinnvolle Prävention, sondern eine gefährliche Körperverletzung.

Warum glauben Menschen solche Gegenerzählungen? Sozialpsychologische Experimente zeigen, dass Verschwörungsdenken einhergeht mit einem Gefühl individueller Machtlosigkeit („Ohnmacht heißt nicht, dass niemand Macht hat. Ohnmacht heißt, dass nicht ich die Macht habe, sondern jemand anderes“), einem hohen Einzigartigkeitsbedürfnis („Besondere Menschen befürworten besondere Theorien“), politischem Extremismus und eher niedriger Bildung (klare Freund-Feind-Schemata helfen, Komplexität zu reduzieren). Doch was ist das Problem? Verschwörungstheorien haben eine theoretische und eine praktische Orientierungsfunktion: Sie erklären die Welt nicht nur, sie sagen auch, wie man handeln soll. Und zwar erfolgreich: Menschen lassen ihre Kinder nicht impfen, Reichsbürger attackieren Polizisten. Zugleich bieten sie Sündenböcke an, auf die sich die eigene Frustration projizieren lässt.

Die entscheidende Frage lautet natürlich: Woran erkennt man Verschwörungstheorien? Was unterscheidet Watergate, die Panamapapers, den VW Abgas-Skandal, Doping, CumEx-Betrug von der Leugnung des Klimawandels oder dem Vorwurf der Lügenpresse? Was ist wahr? Skudlarek plädiert für ein Konzept ‚sozialer Wahrheit‘. Es integriert sprach-, korrespondenz- und konsenstheoretische oder pragmatische Ansätze. ‚Wahr‘ bezieht sich nicht auf die Wirklichkeit selbst, sondern auf Beschreibungen der Welt. Deren Richtigkeit muss sich an der Wirklichkeit messen lassen – manche Beschreibungen passen besser als andere. Über die Plausibilität von Beschreibungen entscheiden wir gemeinschaftlich. Dabei stützen wir uns auf gesicherte wissenschaftliche Deutungen und glauben den Autoritäten, die auf ihrem Gebiet etwas von anderen Experten Anerkanntes geleistet haben, mehr als anderen. Denn wir wollen die Wirklichkeit möglichst genau beschreiben. Dabei können natürlich Zweifel auftreten. Hier ist der ‚gute‘, zielgerichtet Wahrheit suchende Zweifel vom ‚toxischen‘, verschwörungstheoretischen Zweifel zu unterscheiden. Letzterer ist Selbstzweck, antifaktisch und abstrakt, hyperintentionalistisch (alles ist ein großer Plan), dem Freund-Feind-Schema verhaftet und zirkulär (die Konklusion steht schon von Anbeginn an fest). Logische Widersprüche stören nicht (die Flüchtlinge liegen auf der faulen Haut, nehmen uns aber gleichzeitig die Arbeitsplätze weg). Der Verweis auf Fakten bleibt nicht hängen – widersprechende Informationen werden schlicht als Teil eines umfassenderen verschwörerischen Komplotts weginterpretiert. Verschwörungsdenken aber ist gefährlich: Die Unterstellung globaler Täuschungsabsichten untergräbt das für freiheitliche Gesellschaften unverzichtbare Basisvertrauen.

Was kann man tun? Extremisten wird man nicht zurückgewinnen („Der Verschwörungstheoretiker ist ein seltsamer Fisch, der nicht mehr beim Angler anbeißt, weil er längst einen anderen Köder geschluckt hat“). Man muss bei den Moderaten, Neutralen und Zweiflern ansetzen, die noch offen sind für den Dialog. Da sind frühzeitige Gegenreden geboten („nicht Widerworte, sondern Gegenargumente“) und erkenntnistheoretische Sensibilisierung sinnvoll – Aufklärung über Konformitätsneigung und Bestätigungsdenken, über wissenschaftliches Vorgehen und Fehleranfälligkeit.

Lässt solch ein vergnüglich und mit Gewinn zu lesendes Büchlein überhaupt etwas zu wünschen übrig? Einige Aspekte scheinen mir erwähnenswert. (1) Skudlarek diskutiert das zentrale korrespondenztheoretische Wahrheitskriterium nicht explizit: Erfolg oder Misserfolg von Vorhersagen indizieren die Angemessenheit einer Wirklichkeitsbeschreibung verlässlicher als der (je herrschende) Konsens der Experten. (2) Zur Verbreitung von Verschwörungstheorien haben wohl – neben den angeführten psychologischen Variablen – weitere Faktoren erheblich beigetragen. Der Nimbus der Unfehlbarkeit von Wissenschaft ist erodiert. In der Wissenschaft selbst werden Zweifel an absoluten Wahrheitsansprüchen erhoben (etwa in radikal konstruktivistischen sozialwissenschaftlichen Ansätzen). In der Öffentlichkeit ist die Expertengläubigkeit in Expertenschelte umgeschlagen. Dazu beigesteuert haben einerseits Expertenskandale (bei Fehlprognosen, Technikpannen, beim Bankencrash), anderseits die zunehmend beobachtbare Instrumentalisierung von Experten zu Propagandazwecken. So wird das Vertrauen in Wissenschaft unterminiert und der Boden für ‚alternative Wahrheitserzählungen‘ bereitet. (3) Dabei ist der Verdacht von Manipulationen nicht völlig unbegründet. (Einige) Verschwörungstheorien werden in der Tat aus ökonomischen Interessen auch intentional gesteuert: In den USA hat die fossile Energiebranche für Think-Tanks mit klimaskeptischen Forschungen, für Lobbytätigkeit und die Unterstützung klimaskeptischer politischer Kandidaten zwischen 2000 und 2016 2 Mrd Dollar ausgegeben –  zehnmal so viel wie Erneuerbare-Energie-Unternehmen und Umweltschutzorganisationen zusammen. (4) Letztlich – und das ist ein zentrales Problem – lassen sich Verschwörungstheorien wohl doch keineswegs so eindeutig identifizieren wie Skudlareks Diskussion nahelegt. Auf beiden Seiten zieht er klare Beispiele heran – völlig unbelegte Behauptungen (etwa die einer Inszenierung von Anschlägen) oder bereits überzeugend aufgeklärte echte Verschwörungen, wie etwa Watergate. Es gibt jedoch eine weite Grauzone von Deutungen, bei denen (noch) nicht entschieden ist und vor allem auch nicht leicht bestimmbar ist, ob es sich um gekaufte Expertisen, einen innovativen wissenschaftlichen Neuanfang (Popper: „Wir wissen heute noch nicht, was wir morgen wissen werden“) oder verschwörerisches Denken handelt. In diesem Zusammenhang ist eine Überlegung interessant, die der Journalist Ekkehard Sieker, Rechercheur für Die Anstalt, unlängst angestellt hat. Dank der aufgeregten Debatten über Fake-News und Täuschungen lässt sich das Wort ‚Verschwörungstheorie‘ mittlerweile gezielt als Kampfbegriff einsetzen. Wer offiziell vorgetragene Narrative (etwa das der Zuschreibung der NSU-Morde allein zu den beiden Uwes) kritisch hinterfragt, kann auf diese Weise schnell mundtot gemacht werden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jan Skudlarek: Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist.
Reclam Verlag, Stuttgart 2019.
208 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783150111994

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