Auf der Suche nach der eigenen Identität

In seinem Roman „Der letzte große Trost“ verarbeitet Stefan Slupetzky die bewegende Geschichte seiner Familie

Von Allegra-Anna ReifenbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Allegra-Anna Reifenberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der letzte große Trost: Das ist es, was Daniel Kowalski in Stefan Slupetzkys gleichnamigem Roman verzweifelt sucht. Was schon die jüdischen Vorfahren seiner Mutter auf ihrer Flucht vor den Nazis suchten. Während Johann Kowalski, Daniels Großvater väterlicherseits, als Besitzer einer Chemiefirma und überzeugter Nationalsozialist selbst Tausende Juden vergaste. 

Diese dramatische Familiengeschichte, die an die des Autors angelehnt ist, holt den Protagonisten immer wieder ein – insbesondere, als seine jüdische Großtante ihn 1997 in einem Brief bittet, das Haus auszuräumen, in dem er seine Kindheit verbracht hat, da dieses verkauft werden soll. Während er die letzten Habseligkeiten der Familie durchsieht, kommt alles wieder hoch: die konträren Biographien seiner Vorfahren zur NS-Zeit. Die alltäglichen familiären Probleme zwischen ihm, seiner Mutter und seinem älteren Bruder. Die unzähligen gescheiterten Liebesbeziehungen, bis er endlich seine zukünftige Frau kennenlernte. Die guten Erinnerungen an seinen Vater, der an Daniels 22. Geburtstag unerwartet an einem Herzinfarkt starb und den Sohn damit in eine schwere Krise stürzte – genauso wie der Großvater Johann plötzlich verschwand, als Daniels Vater 22 Jahre alt war. Als die Hauptfigur nun das Tagebuch ihres Vaters im Keller des Hauses findet und die Einträge liest, bringt sie ein beunruhigender Verdacht erneut ins Wanken.

Dass der 1962 in Wien geborene Stefan Slupetzky zuvor neben preisgekrönten Kinder- und Jugendbüchern sowie Bühnenstücken und Kurzgeschichten außerdem erfolgreiche Kriminalromane verfasst hat (die Lemming-Reihe, Polivka hat einen Traum), lässt sich auch an der Erzählweise dieses Romans erkennen. So gelingt es ihm, die berührende Geschichte mit einer Spannung zu erzählen, die den Leser durch das offene Ende nachhaltig beschäftigt. Allerdings erschwert es der Aufbau, dem Geschehen zu folgen: Das Buch ist in zwei Teile gegliedert, die mit „1997“ und „2008“ betitelt sind, die Handlung innerhalb dieser beiden Teile ist jedoch durch häufige Zeitsprünge wie in die NS-Zeit oder in Daniels Kindheit und Jugend geprägt, die eher verworren als gelungen wirken.

Damit verbundene plötzliche Wechsel von der dominierenden Vergangenheits- in die Gegenwartsform sind ebenfalls irritierend. Man kann solche Techniken natürlich auch als Beweis für Slupetzkys erzählerische Virtuosität betrachten.Hinzu kommt dann aber noch, dass eher nebensächlichen Erzählsträngen wie Daniels Frauengeschichten schlichtweg zu viel Platz eingeräumt wird. Dass das verzweifelte Stürzen in lauter zukunftslose Affären dessen vergebliche Identitätssuche widerspiegeln soll, versteht der Leser auch ohne derart detaillierte Schilderungen. Letztere lenken von der Haupthandlung leider vielmehr ab, als dass sie sie untermalen.

Trotz dieser Schwächen ist Der letzte große Trost aber beispielsweise im Hinblick auf die jüngste Antisemitismus-Debatte eine wichtige und in jedem Fall lesenswerte Familienchronik. Auch losgelöst von der Zeit des Dritten Reichs werden auf gefühlvolle Weise Themen vermittelt, die uns Menschen zu allen Zeiten beschäftigen: die Bürde der Vergangenheit, der Schmerz des Verlusts, die Suche nach einem Sinn und einer eigenen Identität und Heimat, um gegen die innere Leere anzukämpfen. Auf die Frage, wie viel von ihm in Daniel Kowalski stecke, antwortete der Autor mit „60 – 70%“ – und umgekehrt steckt auch sicher vieles von Daniel Kowalski in uns.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2018 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2018 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Stefan Slupetzky: Der letzte große Trost. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
255 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783498061524

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