Ein Wunderkind zwischen „Welt“ und „Unwelt“
Karin Smirnoff lässt in ihrem Roman „Wunderkind“ ein Neugeborenes seine ersten Lebensjahre mit erschreckender emotionaler Distanz reflektieren
Von Ayleen Weiß
Agnes ist ein Wunderkind. Sie perfektioniert bereits im Kleinkindalter durch bloßes Zuhören das Klavierspielen. Ihre Mutter kann sie damit aber nicht beeindrucken – eher im Gegenteil. Anita ist seit dem Zeitpunkt von Agnes Geburt regelrecht sauer auf ihre Tochter und lässt sie dies deutlich spüren, indem sie ihr nichts zu essen gibt oder sie in Klamotten steckt, die ihr nicht passen. Agnes ist der vermeintliche Grund für ihr persönliches Unglück. Denn auch sie galt früher wegen ihres Gesangs als Wunderkind. Doch durch ihre frühe Schwangerschaft fand ihre musikalische Karriere ein jähes Ende, weshalb sie ihre Frustration darüber auf ihre ungeliebte Tochter projiziert. Agnes erwidert diesen Hass, denn sie merkt schnell, dass sie von ihrer Mutter niemals Liebe oder Fürsorge erfahren wird. Sie wünscht ihrer Mutter den Tod, spielt im Roman immer wieder mögliche Todesursachen für ihre „Anitamama“ durch.
Als „Wunderkind“ ist Agnes nicht nur überdurchschnittlich musikalisch begabt, sie kann auch mit Tieren kommunizieren. Sie verfügt zudem über eine außergewöhnliche Auffassungsgabe und analysiert ihre Umwelt und die Vorgänge, in die sie involviert ist, bereits im Kleinkindalter mit einer ungewöhnlich erwachsenen Sachlichkeit und emotionalen Distanz.
Sie unterscheidet die „Welt“ von der „Unwelt“ und verortet sich selbst in ebenjener „Unwelt“. Sie betrachtet ihre Umgebung, wie durch einen Schleier, der sie von der „Welt“ trennt und sie selbst in der hoffnungslos erscheinenden „Unwelt“ gefangen hält.
Wunderkind ist nicht die klassische Geschichte eines Kindes am Klavier, das die traumatische Kindheit hinter sich lassen kann (wie der Klappentext zunächst vermuten lässt). Im Verlauf des Romans wird mehr und mehr deutlich, dass diesem Wunderkind nur noch weitere, schrecklichere Unglücke in seinen jungen Jahren bevorstehen. Jedes einzelne Kapitel steigert dabei regelrecht die Tragik in Agnes’ Schicksal. Auch mit dem Musiklehrer tritt in Agnes’ Leben und dem ihrer Schulfreunde Kristian und Miika zunächst nur eine augenscheinliche Verbesserung ihrer aller Schicksale ein. Denn der Musiklehrer hat ein anderes Interesse an den Kindern, als er behauptet.
Karin Smirnoff erzählt eine Geschichte von mütterlicher Überforderung, die in Hass umschlägt und das Verlorengehen eines Kindes zur Folge hat. Bis auf den Punkt am Satzende verzichtet sie dazu völlig auf Satzzeichen und trägt damit erzähltechnisch zur Beschleunigung der schlimmen Ereignisse, die Agnes dauerhaft widerfahren, bei. Es bleibt kaum Zeit, um zwischen den Kapiteln Luft zu schnappen, denn auch für Agnes folgt ein Schicksalsschlag auf den nächsten. Mit ihrem lakonischen Ausdruck sucht die Autorin das Tragische der Geschichte genau so abzubilden, wie Agnes es erlebt, und verzichtet dabei auf poetische Umschreibungen oder hochtrabende Metaphern. Einfachheit und Sachlichkeit sind Smirnoffs Stilmittel, womit sie die eindringliche Thematik des Romans sehr gut abbildet.
Spaß stellt sich bei der Lektüre von Wunderkind kaum ein, wohl aber eine erschreckende Hellsicht auf die furchtbaren Dinge, die auch außerhalb der Fiktion in unserer Welt Wirklichkeit sind. Mit der Lektüre des Romans stellt der Leser sich dieser Realität. Smirnoff schafft dabei auch ein Bewusstsein für das Thema sexueller Missbrauch und setzt dazu auf eine schonungslos offene Erzählweise, indem sie nicht nur die Perspektive des Opfers schildert, sondern auch Einblicke in die Gedankenwelt des Täters gibt.
Wunderkind ist die Darstellung des Lebens eines ungewollten Kindes und seines Umgangs mit dem Ungeliebtsein. Es ist die Reise in eine außergewöhnlich schreckliche Kindheit, welche durch die erwachsenen Einsichten der Protagonistin erst ihre völlige Grausamkeit deutlich werden lässt.
Die Lektüre gestaltet sich durchweg bedrückend, jedoch bietet Agnes’ Stärke im Umgang mit ihrem Schicksal auch Raum für Hoffnung. Sie blickt in Anbetracht ihres Lebens nicht nihilistisch in die Zukunft, sondern greift konsequent nach jedem Funken, der sie einem glücklicheren Leben näherbringen könnte. Agnes steht dafür, stets den Willen und den Mut aufzubringen, vermeintliche Sackgassen im Leben nicht als solche zu akzeptieren und v. a. niemals zu resignieren. Damit hält Wunderkind schließlich doch einen versteckten Optimismus bereit, der sich aber erst im Laufe der Lektüre erschließt.
Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2023 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2023 erscheinen.
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