Was ist Nationalphilologie – und wenn ja, wie viele?

Ein Sonderheft der Zeitschrift für Deutsche Philologie hinterfragt die Deutsche Philologie

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zahl derer, die heute beim Wort ‚Philologie‘ noch an eine allumfassende Liebe zum Wort denken (oder diese gar selbst empfinden), scheint abgenommen zu haben. Vielerorts ist eine Konzentration auf die Editionsphilologie erfolgt, die ihrerseits an vielen Instituten allein noch ein Nischendasein führt, temporär gerettet in arbeitsamen Projekten, die Manuskripte und Ausgaben ins digitale Medium überführen und sich damit irgendwie unter dem bereits löchrigen Schirm der Digital Humanities halten. Dieser Aussage würde vielleicht nicht jeder Beiträger des vorliegenden Sonderheftes zustimmen, und überhaupt werden dort beide Begriffe, die Editionsphilologie und die Digital Humanities, kaum aufgegriffen. Soll heißen: Was hier an Gedanken zu einem bereits vielbedachten Themenkomplex zusammengetragen wurde, ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt aus möglichen Fragen und Antworten.

Der offensichtlichen Schwierigkeit, auf die nur vermeintlich einfache Frage nach dem Wesen der Philologie, zumal als bedeutungsschwangere Nationalphilologie, eine Antwort zu finden, begegnen die versammelten Aufsätze durchaus unterschiedlich. Das betrifft wissenschaftliche Methoden und Theorien, aber auch politische Überzeugungen der einzelnen Beitragenden. Man könnte soweit gehen zu sagen, ohne das vorgegebene Schlagwort der (National-)Philologie wäre hier bisweilen nicht einmal vom selben Thema die Rede – zumal dieses Schlagwort nicht jedem Beiträger gleichermaßen attraktiv erschien, es jedenfalls nicht überall die explizite Aufmerksamkeit erfährt, die der Titel suggerieren mag. Theoretischen Reflektionen stehen universitäts- und gesellschaftspolitische Nützlichkeitsüberlegungen gegenüber (etwa in Rudolf Muhrs Appell für eine Austriazistik), philologische Detailanalysen (wie Peter Andersens Studie zum Anlaut in mittelhochdeutscher Überlieferung) treffen auf oberflächliche Textvergleiche (so in Sabine Häuslers Zusammenschau von Tacitusʼ Germania und einiger altnordischer Quellen), Gedanken zu einer deutschen Germanistik stehen neben Beobachtungen aus Luxemburgistik (von Peter Gilles) und Fennistik (von Christian Niedling). Anglistik, Romanistik oder Skandinavistik haben hingegen offensichtlich nichts zu sagen gehabt.

Für die wissenschaftliche Diskussion steckt in dieser selektiven Vielfalt natürlich etwas Anregendes, und diese mag überhaupt symptomatisch und zugleich umso aussagekräftiger sein. Aber nicht alles ist als Lösungsansatz gleichermaßen überzeugend. In einem Fall schlicht deshalb, weil die wissenschaftliche Qualität nicht gegeben ist: Die „idealisierten Fremd- und Selbstbilder der Germanen“, die Häusler thematisiert, zählen zu den am besten untersuchten Forschungsgegenständen der letzten Jahrzehnte, aus guten Gründen, und die herangezogenen Texte haben Regalmeter an Forschungsliteratur motiviert – die Verfasserin, anhand einer arbiträren Textauswahl auf der Suche nach „ethische[n] Normen aus dem germanischen Kulturraum“, ignoriert diese Forschung völlig und verweist kommentarlos allein auf zwei (!) Publikationen, darunter Eduard Nordens Die germanische Urgeschichte in Tacitusʼ Germania aus dem Jahre 1922 (im Nachdruck von 1959)! Die Lektüre dieses Beitrags hat mich, ehrlich gesagt, ratlos zurückgelassen.

Anderes überzeugt nicht deshalb nur bedingt, weil man ihm nicht zustimmen wollte, sondern weil der Mehrwert einer neuerlichen Diskussion gering erscheint. Vedad Smailagićs Überlegungen zu Textgeschichte als Kulturgeschichte etwa sind sicherlich nicht falsch, aber die formulierte Einsicht, dass Texte nicht allein nach ihrem Inhalt, sondern auch nach ihrer je konkrekten Entstehungssituation zu interpretieren sind, scheint mir keinesfalls neu. Wenn ich den Verfasser recht verstehe, plädiert er für größere Aufmerksamkeit gegenüber der Geschichte eines Textes im Sinne eines produzierten und rezipierten Gegenstandes; aber wie und wieso diese Textgeschichte vom Inhalt dieses Textes unabhängig sein kann und soll, erschließt sich mir nicht. Der Autor verweist ja selbst darauf, dass es eben doch die Inhalte sind, die die Produktion und Rezeption bestimmter Texte in Form bestimmter Textsorten in bestimmten Kontexten anregen. Textgeschichte ist also Kulturgeschichte – aber hat das jemand in Frage gestellt?

Vieles des hier Versammelten sollte also als individuelle Momentaufnahme zu einem aufgeladenen, weil seit Langem schwelenden Fragenkomplex verstanden werden und kann dann natürlich als Diskussionspunkt dienen. Eine Aufgabe, die wesentlich bestehen bleibt, ist hingegen die breitere, öffentliche Kommunikation. Albrecht Classen etwa erinnert in seinem mediävistischen Beitrag zu Recht daran, dass ein Sonderheft zur Deutschen Philologie in der Zeitschrift für Deutsche Philologie natürlich offene Türen einrennt, die angesprochene Leserschaft also ohnehin überzeugt sei, dass die Philologie als Geisteswissenschaft irgendwie wichtig ist oder sein soll – hier muss keine Überzeugungsarbeit geleistet werden. Zugleich betont dann etwa Daniel Fulda in seinem Beitrag zur möglichen Zukunft einer Nationalphilologie wiederholt, wie wichtig die Stimme der Germanistik-Studierenden sei, schon allein angesichts deren immer noch recht eindrucksvollen Zahl an deutschen Universitäten – aber wo ist diese Stimme? Interessant wäre es gewesen, nicht allein ausgewählte Meinungen einer akademischen Oberschicht zu versammeln, sondern einmal zu fragen, ob Begriff und Idee einer Nationalphilologie für die kommende Generation überhaupt noch Bedeutung hat. Mit Sylwia Kösser ist immerhin eine Beiträgerin vertreten, die, soweit ich sehe, nicht promoviert und/oder habilitiert ist – und in ihrer Fallstudie zu spätmittelalterlicher Literatur ist dann von irgendeiner Nationalliteratur oder -philologie auch überhaupt keine Rede.

Schließlich: Die versammelten Aufsätze berühren Diverses, dass ohnehin nicht allein im kleinen Fachkreis diskutiert werden sollte, sondern zu dem eine breitere Interessensgruppe eine Meinung haben kann. Auch wenn Philologie als wissenschaftliches Theorie- und Methodenkonglomerat von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden mag, so zeigen nicht zuletzt die hier versammelten Aufsätze doch Punkte auf, an denen eine solche Philologie direkt Dinge verhandelt, die einige öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, sei es die Black-Live-Matters-Bewegung, sei es die Mittelalterfaszination, sei es ein wie auch immer geartetes Germanenbild – hier steht die Philologie keiner unmündigen Masse gegenüber, die es allein zu belehren gälte, sondern hier findet sie eine Anbindung an ein geteiltes Hier und Jetzt und damit eine gewichtige Aufgabe und schließlich Daseinsberechtigung, nach der heute so oft gesucht wird. Damit sei der im Band teils vertretenen, teils widersprochenen Meinung, eine Nationalphilologie habe im 21. Jahrhundert keinen Platz mehr, nicht das Wort geredet. Aber manches Problem ist in seiner akademischen Dimension vielleicht doch hausgemacht. Solche Gedanken und Einsichten neuerlich anzuregen, ist Verdienst dieses Bandes.

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Hans-Joachim Solms / Jörn Weinert (Hg.): Deutsche Philologie? Nationalphilologien heute.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2021.
276 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783503199082

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