Der Mann mit der Zigarette international

Eine Annäherung von Kristina Spohr an den großen, immer etwas unterschätzten Politiker Helmut Schmidt, den „Weltkanzler“

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt am 10. November 2015 im Alter von 96 Jahren starb, gab es eine Flut von Nachrufen auf den „Jahrhundertmann“. Man zollte ihm Respekt und Bewunderung. In der Bewertung seiner Kanzlerschaft von 1974 bis 1982 war man jedoch deutlich zurückhaltender. Das Image des „Machers“, der in Deutschland beinahe Kultstatus hatte, reduzierte sich auf den nüchternen „Pragmatiker“ und kompetenten Krisenmanager. Seiner Kanzlerschaft schien es im Vergleich zu Willy Brandt und Helmut Kohl an besonderen historischen Qualitäten zu fehlen.

Die Historikerin Kristina Spohr, Professorin an der London School of Economics, kommt in ihrem neuen Buch Helmut Schmidt.Der Weltkanzler (eine zeitnahe Übersetzung der diesjährigen englischen Originalausgabe) jedoch zu einer anderen Einschätzung über Helmut Schmidts Platz in der Geschichte. Sie betrachtet dabei seine politische Leistung und Wirkung im globalen Kontext, befreit vom einengenden Blickwinkel der „deutschen Binnensicht und der Fixierung auf die Deutschlandfrage“.

Für ihre Einschätzung beleuchtet die Autorin immer wieder die internationale Politik in den 1970er-Jahren, die von wirtschaftlichen Krisen geschüttelt und großen Umbrüchen und Veränderungen geprägt waren. Im Gefolge der Finanz- und Erdölkrise geriet auch die politische und sozioökonomische Stabilität weltweit ins Wanken. Nach der Entspannungspolitik Anfang der 1970er-Jahre nahmen außerdem die Spannungen zwischen Ost und West wieder zu.

Ausführlich schildert Spohr, wie Helmut Schmidt diplomatische Mechanismen entwickelte, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Zunächst ging es für ihn darum, Deutschland und seine Verbündeten aus der Weltwirtschaftskrise durch internationale Zusammenarbeit herauszuführen. In Kooperation mit dem französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d‘Estaing schuf Schmidt 1975 den Weltwirtschaftsgipfel als Forum des Gesprächs der sieben wichtigsten westlichen Wirtschaftsmächte. In die Zeit seiner Kanzlerschaft fiel außerdem die Gründung des Europäischen Währungssystems EWS, um innereuropäische Wechselkursschwankungen zu begrenzen, die hohen Inflationsraten zu senken und die Position der europäischen Währungen gegenüber dem US-Dollar zu stärken.

Darüber hinaus wollte Schmidt im Interesse des Friedens das militärische Gleichgewicht im Kalten Krieg wahren. So war eine Verstärkung der nuklearen Waffen Teil der verteidigungsstrategischen NATO-Überlegungen – trotz der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). 1978 hatte Schmidt gegen den Widerstand der eigenen Partei und der Bevölkerung die Stationierung der Neutronenbombe auf deutschem Boden durchgesetzt. Auch der sog. NATO-Doppelbeschluss wurde unter maßgeblicher Mitwirkung des deutschen Bundeskanzlers formuliert. Nach westlicher Lesart ein Instrument der Friedenssicherung.

Detailliert analysiert Spohr Schmidts Beweggründe, sein politisches Handeln und seine ethischen Vorstellungen. Soziale Probleme seiner Kanzlerschaft werden jedoch kaum angesprochen, auch der propagierte Antikommunismus als politische Drohkulisse kommt nicht zur Sprache. Schmidts persönliche Kontakte zu seinen Partnern, Mitstreitern und Gegnern (von Valéry Giscard d‘Estaing bis zu Jimmy Carter) hingegen werden eingehend skizziert.

Während ihrer Recherchen hatte Spohr im Frühjahr 2013 Zugang zu Schmidts Privatarchiv und ein halbes Jahr später gewährte er ihr ein sehr ausführliches Interview. Das nun veröffentlichte politische Porträt des „Weltkanzlers“ vor dem Hintergrund seiner Zeit vermittelt gleichzeitig einen globalen Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik und auf die Neugestaltung der Weltordnung in den krisengeschüttelten 1970er-Jahren. Fazit: Eine durchaus lohnende, lesenswerte Biografie und eine Annäherung an einen großen, vielleicht immer etwas unterschätzten Politiker. Gelegentlich hätte man sich allerdings etwas mehr kritische Distanz gewünscht. Auch der Titel ist sicher überzogen – ein Kosmopolit ist noch kein „Weltkanzler“.

Titelbild

Kristina Spohr: Helmut Schmidt. Der Weltkanzler.
Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2016.
384 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783806234046

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