Falsche Fährten auf Korsika
Ludwig Steinherr schreibt in seiner Novelle „Judith“ über die Urlaubsbegegnung zweier Korsika-Reisender mit einer Jüdin
Von Florian Birnmeyer
Es scheint alles perfekt, als Johanna und Vincent, mit fünfzig, verheiratet, noch einmal nach Korsika reisen, um eine vergangene Reise zu wiederholen. Die beiden mieten eine Unterkunft in dem Feriendorf, in dem sie bereits 1993 Urlaub gemacht haben und verbringen schöne, nostalgische Tage zwischen Strand, Restaurant und Unterbringung. Sie essen Frutti di mare, trinken Rotwein und Lait sucré, wie Steinherr in genussvollem und manchmal etwas zu detailliertem Ton beschreibt. Alles scheint wie ein guter Urlaub auf Korsika.
Wenn nur die Erinnerung an den früheren Aufenthalt, an den die Gegenwart nicht heranreicht, bei Johanna nicht die Furcht auslösen würde, es käme nun, mit Fünfzig, nichts Neues mehr im Leben! Überhaupt lasse sich doch eine Reise aus der Jugend, meint Johanna, nicht in derselben Form wiederholen! Der „Nostalgie-Trip“, so ist sie sich sicher, war ein „Fehler“. Doch dieses Zweifeln wird von der Begegnung mit einer vergessenen Verwandten unterbrochen, die alles umwirft.
Nora, Johannas Cousine, tritt auf Korsika nach Jahren der Unterbrechung in einem Restaurant erneut in ihr Leben. Nora heißt inzwischen Judith und stellt sich als Jüdin vor. Aufgrund ihrer dunklen Augen und der tiefbraunen Locken hatte Vincent in ihr (aufgrund einer Marotte von ihm) eine junge Iris Berben gesehen, der Mann, der sie begleitete, hingegen schien in seinen Augen einem jungen Jean-Paul Belmondo ähnlich zu sein. Johanna und Vincent, die als Rechtsanwältin und Lehrer in München leben, können es nicht fassen: Nora beziehungsweise Judith ist unerwartet jüdisch.
Sie hat, wie sie den beiden berichtet, nach der Entdeckung einer jüdischen Großmutter ihren Namen gewechselt, um ihre Verbundenheit mit diesem Erbe zum Ausdruck zu bringen. Die Großmutter habe Anfang der 1930er Jahre einen Katholiken geheiratet und sei mit ihm in eine kleine Stadt gezogen. In kurzen Kapiteln entfaltet sich nach und nach ein Urlaubs-Kammerspiel der Gefühle, Zuschreibungen und Zugehörigkeiten zwischen Judith, Vincent und Johanna, bei dem die Gewissheiten infrage gestellt werden.
Vincent verguckt sich aufgrund ihres flimmernden Charmes und ihrer künstlerischen Ader in Judith und beginnt eine heimliche Affäre. Johanna hingegen ist fasziniert davon, dass in ihrer Familie jüdische Vorfahren existierten und wird ebenfalls von Judiths Ideen mitgerissen. Die beiden lassen sich von Judith in ihre Welt einführen, wo das Judentum eine kulturelle und künstlerische Komponente hat, aber auch ein Gefühl, dazuzugehören, ist. Aber es kommen vor allem bei Johanna auch Fragen auf, die sich zuspitzen, als Jerry, ebenfalls jüdisch, aber aus Amerika und nun in Deutschland lebhaft, im Ort auftaucht. Er ist eine vor Lebensmut sprühende und emanzipierte Person, lebt wie Johanna und Vincent in München und engagiert sich dort gegen Antisemitismus und für das Gedenken an den Holocaust. Rasch freundet er sich mit Vincent und Johanna an, was Judith zunehmend in Bedrängnis bringt…
Es ist die unterschiedliche Anlage der Figuren und die außergewöhnliche Situation, die Steinherrs Novelle lesenswert machen. Die Kontraste zwischen Judith und Johanna und Jerry und Vincent und Johanna sind so gezeichnet, dass sie schnell hervortreten. Die Figuren sind als Gegensatzpaare angelegt, die aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig anziehen bzw. abstoßen. Vielleicht könnte man die Kontraste noch etwas feiner ausarbeiten, aber die dicken Pinselstriche sind vermutlich dem Genre Novelle geschuldet.
Was Steinherr beherrscht, ist die Anlage einer klassischen Erzählung mit Anfang, Mitte und Ende, wobei der Wendepunkt und die Auflösung des Knotens relativ nah beieinander liegen. Nach der Ankunft Jerrys löst sich alles plötzlich ganz schnell auf, man hat kaum Zeit, um die neu eingeführte Figur kennenzulernen, abgesehen von einem Abendessen und einigen kurzen Begegnungen. Jerry bleibt zu sehr Funktionsträger, gleich einem deux ex machina, der das Ende herbeiführt.
Der Gegenstand und die Fragestellungen der Novelle von Ludwig Steinherr sind nicht nur lesenswert und anspruchsvoll, sie bleiben auch lange in der Erinnerung haften. Der Text stellt Fragen wie die nach Identität, kultureller Aneignung, die Frage der Sprechhaltung und die mehr als aktuelle Frage, wer für wen sprechen darf, die auch im Zentrum der Identitätsdebatten steht. Insofern thematisiert Steinherr in einem gehobenen Setting – dem Korsika-Urlaub eines akademischen Paares – Fragestellungen, die auch in Büchern wie Identitti von Mithu Sanyal oder Ich bin ein japanischer Schriftsteller von Dany Laferrière aufgeworfen werden.
Es ist die Frage vom Scheinjuden, die anhand von Judith fiktional verhandelt wird. Wie flexibel und ausdehnbar ist das Konzept des Judentums? Am Ende steht die Erkenntnis: Nicht jede und jeder kann und darf vor allem jede beliebige Identität annehmen, und tut man es doch, muss man mit den Konsequenzen, die der Identitätswechsel bei anderen und gesellschaftlich auslöst, leben können.
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