Weltläufigkeit und Belesenheit, Hingabe und Poesie als Schlüssel zur Welt.
Brita Steinwendtner stellt andere vor – und sich selbst.
Von Günter Helmes
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDa wundert man sich denn doch: Brita Steinwendtner, seit über drei Jahrzehnten mit Romanen, Erzählungen, Essays, Drehbüchern, Lyrik und mit Hörfunkarbeiten dauerhaft nicht nur in der Kulturlandschaft Österreichs präsent, als Herausgeberin, Regisseurin und als Intendantin der Rauriser Literaturtage (1990-2012) einschlägig profiliert und mit etlichen Preisen und Auszeichnungen bedacht, ist auf literaturkritik.de bislang nur ein einziges Mal Aufmerksamkeit geschenkt worden. Für ihre „poetische Annäherung“ Du Engel Du Teufel. Emmy Haesele und Alfred Kubin – eine Liebesgeschichte aus dem Jahr 2009 nämlich. Hingegen blieben auch jüngste Veröffentlichungen – der von imponierendem Einfühlungsvermögen, tiefer Humanität und mitreißender Sprach- und Gestaltungskraft zeugende historische Roman Gesicht im blinden Spiegel (2020) und das ebenso intensiv durchdringende wie leichtfüßig daherkommende „Geflecht“ aus Autobiographie, „Landschaften und Lebensgeschichten“ An den Gestaden des Wortes. Dichterlandschaften (2022) – an dieser Stelle unbeachtet.
Woran mag das liegen? An einer den Einzelfall weit übersteigenden, sich selbst das Zentrum wähnenden ‚Sehschwäche‘ der dem Identitätsgehabe nach immer noch alten Bundesrepublik Deutschland für das nun schon gut ein Jahrhundert lang ‚kleine‘ Österreich vielleicht? Dem hat die deutschsprachige Literatur allein der letzten 130 Jahre allerdings im Wortsinn unendlich viel zu verdanken. So in unserer Zeit auch Brita Steinwendtner.
Anlässe, Fragen und Träume, eine kleine Auswahl aus hunderten von Beiträgen der Autorin über die Jahrzehnte – diese handeln unter anderem über so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie beispielsweise Ingeborg Bachmann, Tania Blixen, Bruce Chatwin, Hans Magnus Enzensberger, Barbara Frischmuth, Marlen Haushofer, Friedrich Hölderlin, Ruth Klüger, Elfriede Jelinek, Archibald MacLeish, Arthur Miller, Ippolito Nievo, August von Platen, Adalbert Stifter, Peter Turrini, Carl Zuckmayer oder Stefan Zweig –, besteht aus 27 das literarische und politische Leben der letzten Jahrzehnte wiedergebenden, zu ganz unterschiedlichen Anlässen verfassten Einzelbeiträgen: mehrheitlich bereits Veröffentlichtes, darunter auch drei gekürzte Fassungen, zwei davon zudem bearbeitet. Aufgenommen wurden aber auch der den Band beschließende Originalbeitrag Träume dir dein Leben schön … sowie acht Erstveröffentlichungen. Der älteste Beitrag, eine Laudatio auf Karl-Markus Gauß, stammt aus dem Jahr 1998.
Der Band handelt von Etlichem, von Historischem (Kap. „Zerstörte Hoffnung“), von der Kindheit (Kap. „Kindsein)“, vom Schreiben im Besonderen und von der Kunst im Allgemeinen (Kap. „Fabulieren und fragen“). Vor allem aber, in den Kapiteln „Spurensuche“ und „Anlässe“, von einer ganzen Reihe von Autorinnen und Autoren und deren Leben und Schreiben. Denn: „Unter den Variationen des Widerstands ist die Literatur eine der wirkmächtigsten.“
Um mit diesen Autorinnen und Autoren, deren Porträts hier im Zentrum stehen, zu beginnen: Diese reichen, was das Geburtsjahr anbelangt, von den um 1900 das Licht der Welt erblickenden Theodor Kramer und Erich Landgrebe über die den 1920ern angehörenden Rudolf Bayr, Ilse Aichinger, H.C. Artmann und Friederike Mayröcker zu den um 1940 geborenen Walter Kappacher, Peter Handke und Bodo Hell; mit Peter Stephan Junck, Hubert von Goisern, Erwin Einzinger, Christoph Ransmayr und Karl-Markus Gauß dann geht es in die 1950er und mit Ilija Trojanow und Juri Andruchowytsch schließlich in die 1960er Jahre.
Was unter anderem auffällt: Dass sich die Autorin, selbstverständlich auch mit jüngeren ‚Semestern‘ wertschätzend vertraut, für die hier zur Rede stehende Auswahl mehrheitlich doch für solche Autorinnen und Autoren entschieden hat, denen – die Jüngeren schon zumindest auf der Schwelle zum Alter – so oder so bereits eine gewisse Klassizität anhaftet. Mag diese sich nun in Auszeichnungen wie insbesondere im Fall von Handke und Kappacher, im Urteil von be- wie erlesenen Insidern wie im Fall von Rudolf Bayr oder aber in einer literatursoziologischen Sonderstellung wie im Fall von Andruchowytsch und Trojanow niederschlagen.
Nicht zu übersehen ist zum anderen, dass es sich mit Ausnahme der beiden zuletzt Genannten allesamt um Österreicherinnen bzw. Österreicher handelt. Den beiden Ausnahmen haftet von daher etwas Programmatisches – Polit-Programmatisches – an, ebenso wie dem Buch selbst, das in zweifachem Sinn, auf die Autorin bezogen wie auf die von ihr Porträtierten, einen gewissen Vermächtnischarakter hat. Aber vielleicht ist dieses Buch ja auch ,nur‘ ein Zwischenprodukt auf dem Weg zu einem weiteren Roman – zu hoffen wäre das jedenfalls.
Zum dritten wird man bei der Lektüre rasch gewahr, dass Steinwendtner bei aller professionellen Distanz und partiellen Kritik – „Verstrickung“ beispielsweise von Landgrebe und Bayr „in den Nationalsozialismus“ – diesen ihr meist persönlich bekannten oder eng verbundenen Autorinnen und Autoren als Bewundernde begegnet. Als eine empathische, unter anderem vom Existentialismus von Sartre und Camus geprägte Leserin und Kollegin nämlich, der es ein tief empfundenes Anliegen ist, insbesondere die bereits Verstorbenen – sie machen die Hälfte der Portraitierten aus – in Erinnerung und im Gespräch zu halten.
Nachfolgend Schlaglichter auf die bei aller Anlass geschuldeten Engführung doch wesentliche Züge des Menschen, des Werks oder der jeweiligen Zeit herausstellenden, selbst immer wieder poesiedurchdrungenen, doch stets analytisch grundierten Ausführungen Brita Steinwendtners über die zuvor genannten Autorinnen und Autoren. Verbunden mit dem Hinweis, dass der Friederike Mayröcker gewidmete, dreiseitige Text Für Friederike in Gänze reine Poesie ist und um jene „4. Stunde des Tages“ kreist, da „man illuminiert“ ist.
Folgt man Brita Steinwendtner in ihren im Übrigen wohlbegründeten Perspektiven auf diese in Deutschland bedauerlicherweise z.T. weniger oder gar nicht bekannten Autorinnen und Autoren wie Bayr oder Landgrebe, könnte man diese tendenziell drei Gruppen zuordnen – Berührungspunkte und Überschneidungen zwischen den Gruppen verstehen sich dabei von selbst: Einer solchen zum einen, die mehr metaphysisch-existenzialistisch ausgerichtet ist, einer zweiten zum anderen, die man ob ihres gesellschaftlich-politischen Grundimpulses der engagierten Literatur zuschlagen würde, einer dritten schließlich, für die Wahrnehmungsmodalitäten und Ästhetisches im Vordergrund stehen. Wie prekär diese Gruppenbildung freilich ist, kann man beispielsweise an den verhandelten Juri Andruchowytsch, Erwin Einzinger, Peter Stephan Jungk und Ilija Trojanow erkennen, deren Werk sich auf je eigene Weise einer Gruppenzuordnung entzieht.
Juri Andruchowytsch zum einen, zugleich „Botschafter der ukrainischen Widerstandsbewegung“ und „Zauberkünstler mit Stilen, literarischen Formen und globalen Traditionen“, habe mit seinen frühen Romanen das „Chaos der Welt kennenlernen“ wollen, heißt es. Im aktuellen Roman RadioNacht werde „immer wieder die gegenwartsgesättigte Frage nach Schuld, Verstrickung, Flucht und nach dem Sinn unserer Existenz“ gestellt.
Erwin Einzinger zum anderen, in den 1970er Jahren der „Wilde“, der „Revolutionär der Sprache, der Jongleur der Form und der Zerstörer des gewohnten Blicks“, habe mit seinen dem „Fragmentarische[n]“, dem „Augenblick“, dem „Zusammenhanglose[n]“ und der „wahllose[n] Simultaneität des Lebens“ zugewandten Texten versucht, „im Leser Widerstand zu wecken gegen das gedankenlose Funktionieren im gesellschaftlichen Gefüge“.
An dem „begnadete[n] Erzähler“ Jungk zum dritten werden die seit Jugendtagen ausgeprägten Seiten „Aufbegehren“ und „Träumen“ hervorgehoben. Die Figuren seiner Romane und Erzählungen, seiner Hörspiele und Drehbücher seien allesamt „Suchende“. Sie forschten nach „der Realität und der Transzendenz, den Grausamkeiten der Historie des 20. Jahrhunderts sowie den schillernden Verführungen der Existenz.“
Schließlich der eminent „welthaltig[e]“ Ilija Trojanow. Der, misstrauisch gegenüber „großem Optimismus“ und von „unbändiger Freude am Kombinieren und der Lust am Fantasieren“ getragen, sei „besessen und beseligt zugleich vom Glauben an die Kraft des Menschen, sich eine bessere, gerechtere Welt zu erdenken und zu erarbeiten“.
Doch bei aller angesagten Skepsis zurück zu den drei behaupteten Gruppen.
Der ersten, metaphysisch-existenzialistisch ausgerichteten Gruppe sind der „Fischer-Dichter vom Attersee“ Hans Eichhorn, der „Schriftsteller, Musiker und Naturkundler“ Bodo Hell, der schon zu Lebzeiten „vergessen[e], verfemt[e] und bis wenige Monate vor seinem Tod verbannt[e]“ Theodor Kramer, der „Dichter-Maler“ Erich Landgrebe sowie der im Mai d. J. verstorbene „Meister der Andeutung“ Walter Kappacher zuzurechnen.
Sei für Eichhorn und dessen „Bestandsaufnahme des Alltags“ die Nähe zur „abgrundtiefen existenziellen Angst Georg Trakls […] und dem nüchtern-apokalyptischen Blick Franz Kafkas“ charakteristisch, mache es Hell aus – der wird aktuell seit Wochen im Dachsteingebirge vermisst, wo er als Sommerhirte tätig war –, das „mühsame, extrem arbeitsintensive Almleben“ und das Reflektieren „über das Leben in der Natur […] zu einem Kernthema seines Schreibens“ erkoren zu haben. Kramer habe den „Hymnus auf den Trost und den Zauber der Natur, den Abgesang auf jegliche Gewalt, die soziale und politische Geschichte seiner Zeit“ geschrieben, während es Landgrebe – Steinwendtner hat Texte von ihm ebenso herausgegeben wie solche von Rudolf Bayr – „um die Mühsal des Lebens, die Spuren von Irrtum und Weisheit im Ablauf der Tage, der Geschichte und im Ablauf eines Schicksals, das größer ist als wir“, gegangen sei. Kappacher mit seinem „illusionslosen Blick auf das Dasein“ schließlich – es geht um dessen Italienbild – sei es dank seiner Sprache und der „Scheu und Ehrfurcht seiner friedenssehnsüchtigen Fantasie“ gelungen, „ein Stück Land, eine Handvoll Menschen“ vor dem Vergessenwerden zu bewahren.
Die zweite, gesellschaftlich-politisch orientierte Gruppe bilden die Preisträgerin (1952) der Gruppe 47 Ilse Aichinger, der „große[] Dichter“, „brillante[] Essayist[]“ und „Kultur- und Gesellschaftskritiker“ Rudolf Bayr, der als „politischer Autor“ zugleich pragmatisch und moralisch argumentierende „Katalysator im Literatur- und Kunstbetrieb“ Karl-Markus Gauß, der „Klassiker der Musikszene“ („Alpenrock“) und – unter seinem Geburtsnamen Hubert Achleitner – Schriftsteller Hubert von Goisern sowie der in mehrfachem Wortsinn „ruhelos Reisende[]“ Christoph Ransmayr.
Das Werk von Ilse Aichinger sei eine „in der deutschsprachigen Literatur kaum je in dieser Schärfe formulierte Symbiose aus Aufklärung, Reflexion, Präzision, Sprachkunst und poetischer Bildfindung“. Der späte, mit „Thomas Bernhard’scher Negation“ zu Werke gehende Bayr habe „Hoffnung“ als „,Denkinfarkt‘“ gesehen und der „Illusions- und Trostlosigkeit dieser Erkenntnis […] seine Dichtung entgegen[gesetzt]. Gauß setze „den vergessenen Dichtern und Opfern der historischen Katastrophen der letzten beiden Jahrhunderte ein Denkmal“ und rege eine „vorurteilsfreie Reflexion“ über zentrale politische Begriffe wie „Europa“, „Regionalismus“ und „Nationalismus“ an. Bei aller Unterschiedlichkeit „in Stil, Motiv und den Geschichten, die sie erzählen“ sei doch von Goisern und Ransmayr mit Blick auf das oft zur Idylle zurechtgelogene Salzkammergut „die Thematisierung alltäglicher Missstände sowie historischer Katastrophen, das Überschreiten der engen geografischen und ideellen Grenzen dieses bergumschlossenen Gebiets sowie die Infragestellung dessen, was gemeinhin als Wahrheit angesehen wird“, gemeinsam.
Schließlich die dritte, aufs Wahrnehmen und auf Ästhetisches fokussierte Gruppe. Hier sind vor allem H.C. Artmann und Peter Handke zu verorten.
Während der „Klang-Zauberer“ H.C. Artmann „mit sich und uns […] sein heiteres, tiefernstes Spiel mit tausend Worten und Bildern“ betrieben und dabei „seine Dichtung wie der Komponist eine große Symphonie“ instrumentiert habe, mit dem Ergebnis, dass seine Poesie „widerständiger sein [werde] als die Beschränktheit moderner Pragmatiker“, habe Handke das „Festhalten durch Schreiben“ zur „Hauptsache“ seines Schaffens gemacht. Handke habe Salzburg „eine Topografie“ gezeichnet, „wie sie die meisten jener, die sich ‚Einheimische‘ nennen, nicht kennen, nicht einmal erahnen“.
Abschließend knappe Hinweise zu den zusammen ca. 70 Seiten umfassenden, hier aus Raumgründen stiefmütterlich behandelten Kapiteln Fabulieren und fragen, Zerstörte Hoffnung und Kindsein:
Fabulieren und fragen bringt einen zeitenthobenen Moment zu Bewusstsein, in dem Nussbaumblätter von einem Baum „(ge)sprengt“ werden (Das Nussbaumblatt), fahndet nach dem „Suchen und seinen Zusammenhängen“ (Das Suchen suchen), erzählt von einer in alten Häusern nicht ungewöhnlichen Mitbewohnerin(Die Maus. Kleine Parodie) und denkt – Stichworte u.a.: „Avantgarde” oder „Regietheater“ – über „[d]ie vielen Welten der Kunst“ (Titel) ebenso nach wie über Sprache, sprachliche Vielfalt und Literatur (Was bedeutet ein Wort?).
Kämpferische Reflexionen über Kriegerdenkmäler und deren Funktion, über die Bücherverbrennung als „Vorspiel“ (Es war ein Vorspiel nur) vor allem für heutige Gräuel (mit einem wohl Steinwendtners Redesituation 2022 auf dem Salzburger Residenzplatz zuzuschreibenden recht einseitigen, recht wohlfeilen Putin-Bashing) sowie, aus eben diesem Anlass, eine „Diskussion zum Thema Krieg und Frieden“ mit Julya Rabinowich (Nicht schuld daran zu sein) machen das Kapitel Zerstörte Hoffnung aus. Das letzte Kapitel Kindsein mit den Texten Stelzhamerstraßenland, Der Himmel über dem Stodertal und Träume dir dein Leben schön … handelt einerseits vom nicht idyllisierenden, vielmehr kritisch kommentierenden Erinnern:
[W]enn wir zurückdenken, knüpfen wir neue Zusammenhänge und formen eigene Bilder und glauben an eine Wirklichkeit, die wir uns erfinden.
Zum anderen weist es dem vorliegenden Buch – hier zitiert statt eines Fazits – seinen Ort zu:
Dieser Band gibt einen kleinen Einblick in die Arbeit von […] fast einem halben Jahrhundert. So sind die Geschichten und Überlegungen zugleich Zeitgeschichte, Teil des großen, vorübereilenden Stroms, den wir Leben nennen.
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