Erst nicht mitmachen wollen und dann auch noch meckern

Wie ein Baugruppenprojekt für Zwist zwischen besten Freunden sorgt, erzählt Anke Stelling in „Schäfchen im Trockenen“

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Resi lebt in einer Altbauwohnung in einem hippen Innenstadtviertel in Berlin. Zwar ist die Wohnung nicht schick renoviert, aber sie bietet genug bezahlbaren Raum für sie, ihren Mann Sven und die gemeinsamen vier Kinder. Im Gegensatz zu ihren Freunden sind sie nicht mit sicheren Jobs gesegnet, Sven ist Künstler und Resi Schriftstellerin. Das Geld ist meist knapp und so müssen sie den Kindern einige Wünsche abschlagen, die in dem sie umgebenden Mittelstandsmilieu fast selbstverständlich erscheinen, so etwa Herbstferien im Süden. Aber Resi ist dennoch genau dort, wo sie immer sein wollte: Inmitten ihrer alten Clique aus Süddeutschland, mit der man den Traum vom freien Leben in der Großstadt geträumt hatte, kann sie in der Kammer neben der Küche ihrer Passion, dem Schreiben, nachgehen.

Doch wovon Generationen potenzieller Schriftstellerinnen nicht einmal zu hoffen wagten, wie es Virginia Woolf messerscharf auf den Punkt brachte, reicht Resi der „room of one’s own“ nicht zum Zufrieden- oder gar Glücklichsein. Denn sie stößt immer deutlicher auf Differenzen, die zwischen ihr und ihren Freunden zutage treten. War der einstige Traum vom gemeinsamen Leben und Arbeiten mit alternativen Strukturen verbunden, so findet die ersehnte Selbstverwirklichung nun auf individueller Ebene statt. Nach Partnersuche und Kinderkriegen sucht jeder für sich Erfüllung im familiären Rahmen und versteckt Unzufriedenheit wie Überforderung hinter der Fassade hipper Eltern, die mit Begeisterung Kinder großziehen und in gutbezahlten Akademikerjobs das Geld für den pseudo-nonkonformistischen Lebensstil heranschaffen.

Resi ist enttäuscht von der Lebenslüge ihrer Freunde und stellt fest, dass sie in ihrer Freundschaft etwas Grundsätzliches übersehen hat. Offenkundig wird das, als sich alle zusammen für ein Baugruppenprojekt im Kiez entscheiden. Nach den Entwürfen des Architekten Ulf bezieht jede Familie eine Wohnung nach eigenen Vorstellungen im großzügigen Neubau mit Gemeinschaftsgarten. Nur Resi kann und mag nicht partizipieren. Sie und Sven haben weder die Mittel dazu noch Eltern mit Geld im Hintergrund, von denen sie sich etwas leihen könnten. Auch das Angebot von Freund Ingmar, ihnen das Baugeld zu überlassen, schlagen sie aus und ziehen als Untermieter in die alte Wohnung von Frank und Vera, die fußläufig entfernt liegt.

In dieser Situation wird Resi sich der Kluft zwischen ihnen bewusst, die auch alle egalitären Wunschträume nicht überbrücken konnten. Als Kind aus einfachen Verhältnissen passte sie nie wirklich zu den gutsituierten Freunden, mit denen sie gemeinsam das Gymnasium besucht und studiert hatte. Die von allen tatkräftig ignorierten gesellschaftlichen Schranken werden nun für Resi erstmals eindeutig spür- und sichtbar.

Während ihre alten Freunde die Unterschiede weiterhin negieren, von gleichen Chancen reden und Resi für eine notorische Nörglerin halten, versucht sie, ihre Position und ihr Selbst durch schonungsloses Aussprechen unangenehmer Wahrheiten zu behaupten. Doch damit gerät sie mehr und mehr ins Abseits, Resi wird zum renitenten Störenfried. Anstatt den Ausgleich zu suchen, um die Freundschaften zu kitten, setzt Resi mehr oder weniger naiv mit ihrem jüngsten Roman zum dramatischen Paukenschlag an: In ihm schreibt sie offen über sich und ihre Baugruppen-Freunde – und deren Reaktionen sind heftig. Da ist von Verrat die Rede, von Borderline-Symptomen und neben der Freundschaft kündigt man ihr obendrein auch noch den Untermietvertrag. So hängt das Damoklesschwert der Obdachlosigkeit oder eines Lebens im Plattenbau über der Autorin, die kaum glauben kann, dass man sie fallenlässt wie eine heiße Kartoffel.

Am Ende wird sie zwar für den Roman ausgezeichnet und erlangt neben dem Preisgeld auch erste literarische Lorbeeren. Doch bei der Vertreibung aus Freundeskreis und gewohntem Wohnumfeld – immerhin nur nach Ahrensfelde – bleibt ihr nur der Trost, dass die Gentrifizierung nicht nur sie außerhalb des Stadtbahnrings befördert, sondern auch vor anderen nicht Halt machen wird.

Obwohl der Alltagsroman scharf beobachtet, gut strukturiert und mitreißend erzählt ist, bleiben beim Lesen durchaus gemischte Gefühle. Den uneingeschränkten Enthusiasmus einiger Rezensenten mag man nicht recht teilen angesichts der Hauptfigur Resi. Auch wenn man zu Beginn des Buches mit ihr leidet und ihren Willen zur Ehrlichkeit bewundert, fragt man sich im Verlauf der Lektüre mehr und mehr, ob sie nicht doch mit ihrer notorischen Unzufriedenheit über ihr Leben nicht eher eine Legitimation in der sozialen Ungleichheit sucht, als dass diese wirklich darin begründet ist.

Insbesondere wenn man selbst ein „Aufsteigerkind“ ist, das, aus einer Arbeiterfamilie kommend, als erste Person in der Familiengeschichte zu akademischen Weihen gelangt ist, kennt man die Gefühle, Verletzungen und Empfindlichkeiten der Protagonistin gegenüber gesellschaftlich Bessergestellten nur allzu gut. Allerdings verwundert es da umso mehr, dass Resi tatsächlich bis ins reife Erwachsenenalter braucht, um sich der sozialen Unterschiede bewusst zu werden und feststellt: „Ungleichheit teilt uns in die, die Privilegien haben und die, die sie nicht haben, und das ist für alle, die sich nach Gerechtigkeit sehnen, ein Problem.“

So entsteht der Eindruck, dass sich Resi nicht wirklich nach Gerechtigkeit sehnt, sondern vielmehr, wie alle anderen in ihrem Umfeld, doch nur die Verwirklichung ihres individuellen Lebensglückes sucht. Ein starkes soziales Bewusstsein oder gar die Hinwendung zur Klassenfrage, wie es in einigen Kritiken angedeutet wird, kann man ihr nicht attestieren. Klassenbewusstsein könnte man, wenn überhaupt, ihrem Mann Sven zugestehen, der als einziger im ganzen Roman sein Ding durchzieht, ohne zu klagen oder sich um andere zu scheren. Ein bisschen mehr zu sein wie er, dass täte Resi gut, doch dazu fehlt ihr eben auch die persönliche Unabhängigkeit und das nötige Selbstbewusstsein.

In Wirklichkeit ist es ja nicht so, dass sie sich freut, nicht den Lebensentwürfen der anderen folgen zu müssen und stattdessen als Schriftstellerin ihren Weg selbst zu bestimmen. Weder ist sie stolz auf das, was sie tut, noch reicht es ihr aus. Dabei verhält sie sich aber auch nicht anders als ihre früheren Freunde: Während sie diesen vorwirft, auf sie als finanzschwache überarbeite Mutter einer Großfamilie herabzusehen, schreckt sie selbst mit vorurteilsbeladenem Schaudern davor zurück, sich womöglich mit dem Plebs in Marzahn gemein machen zu müssen. Es geht also auch ihr, genau wie allen anderen, nur darum, dass sie und ihre Kinderschar sich in behüteten Verhältnissen selbst verwirklichen. Was diejenigen treiben, die bereits in Marzahn und Ahrensfelde wohnen, ist ihr herzlich egal.

So findet man hier zwar in der scharfsinnigen Beobachtung eines mittelständischen linksliberalen Milieus, wo individuelle Selbstverwirklichung an die Stelle des Ideals einer besseren Gesellschaft getreten ist, wohltuende Ansätze zu einer kritischen Analyse. Nur leider taugt am Ende die Figur Resi nicht dazu, diese Analyse auch tatsächlich stringent zu Ende zu führen. Bedauerlicherweise bleibt der Eindruck, dass eher Sozialneid als soziales Bewusstsein aus ihr spricht. Das heißt aber im Grunde, dass sie ihre Herkunft vergessen und ihr gesellschaftliches Gewissen verraten hat. Und das geht gar nicht, das sage ich ihr von Aufsteigerkind zu Aufsteigerkind!

Titelbild

Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2018.
266 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957323385

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch