Mitunter populistisches Potpourri

In „Margos Töchter“ porträtiert Cora Stephan zwei deutsch-deutsche Halbschwestern

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dokumentar-Roman oder Faction-Prosa – das sind unter anderem Begriffe, die seit einigen Jahren kursieren und Texte meinen, die ein bisschen realistischer als realistisch sind, die oft auf authentischen Familiengeschichten basieren und Nachkriegsgeschichte aufarbeiten. Hier geht es um ein Mehr an Information und ein Weniger an Fiktion oder, pointierter formuliert, um Fakten, die nur rudimentär fiktionalisiert sind. Nicht selten ist es ein Erfolgsrezept, wie aktuell Carmen Korn mit ihrer Jahrhundert-Trilogie (Töchter einer neuen Zeit, Zeiten des Aufbruchs und Zeitenwende) oder Peter Prange mit Eine Familie in Deutschland beweisen.

Cora Stephan, die sich bereits im Jahre 2011 dazu berufen fühlte, sehr polemisch mit Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Regierungsstil abzurechnen, verfasste fünf Jahre später ihren ersten Roman unter Klarnamen: Ab heute heiße ich Margo. Kennt man diesen, dann stutzt man beim Lesen des Folgebandes, Margos Töchter, spätestens dann, wenn die Geschichte von Leonore Seliger, der jüngeren von Margos beiden Töchtern, erzählt wird. Einige Szenen sind bekannt: Mutter und Tochter rauchen abends eine Zigarette zusammen und die Tochter findet heraus, dass die Mutter eine Affäre mit einem jüngeren Mann, ausgerechnet dem Jugendpfarrer, hat, für den sie selbst schwärmt. Während der Ferien in einem internationalen Sommercamp in der DDR trifft die fünfzehnjährige Leonore ihre Halbschwester Emma alias Clara. Zwischen beiden entwickelt sich zwar eine Brieffreundschaft, aber sie werden niemals wissen, wer sie wirklich sind.

Margos Töchter lediglich als Fortsetzung von Ab heute heiße ich Margo zu bezeichnen wäre schon allein wegen dieser und anderer Überschneidungen verfehlt. Die Redundanzen sind jedoch Quantité négligeable, weil die auktoriale Erzählerstimme neue Figuren fokussiert und die Geschichte der beiden Halbschwestern in einen Rahmen eingebettet ist: im Jahre 2011 erhält Margos Enkelin Jana, die mit ihrem Mann und halbwüchsigen Zwillingsbuben im Haus ihrer inzwischen verstorbenen Großeltern lebt, Post vom Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen. Auf ihre Anfrage aus dem Jahre 2002 hin darf sie nun Einsicht in die Akte ihrer Adoptivmutter Leonore nehmen, die 1991 bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben kam. Nach der ersten Binnenerzählung, die um Leonores Leben kreist, schwenkt die Handlung zur investigierenden Jana, bevor Claras Geschichte im Zentrum steht und Jana zu guter Letzt ihren leiblichen Vater Holger kennenlernt.

Nach einem turbulenten Aufenthalt in London gerät Leonore während ihres Germanistik-Studiums in Münster in den Verdacht, an Anschlägen der RAF beteiligt zu sein. In Frankfurt, wo sie ihr Studium fortführt, heiratet sie Alexander, dem sie gestehen muss, aufgrund eines Schwangerschaftsabbruchs keine eigenen Kinder mehr bekommen zu können. Die beiden adoptieren die zweijährige Jana, die von ihrer Mutter Gisela völlig unvermittelt bei Margo und Henri in Osterholz zurückgelassen worden ist. Nach einer Schultheateraufführung, bei der Jana mitspielt, erleidet Leonore einen Tobsuchtsanfall, denn sie ist sich sicher, dass sie Janas leibliche Mutter im Publikum gesehen hat. Mit der Diagnose einer paranoiden Psychose wird sie für einige Wochen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen.

Nach dem Mauerfall kommt es zwischen Leonore und Alexander zur endgültigen Krise. Er gesteht ihr, dass er ab und an Stimmungsberichte nach Ostberlin geschickt habe, damit man seine Eltern, bekennende Zeugen Jehovas, in Ruhe lasse. Nach dem Bruch mit ihrem Ehemann fährt Leonore mit Jana nach Osterholz. Wenig später stirbt sie.

Clara Pinkus lebt mit ihren Eltern, die sie als ihre leiblichen wähnt, im Osten Deutschlands. Hans Stahl, Generaloberst der „Hauptverwaltung Aufklärung“, spricht die erst Dreizehnjährige an, ob sie für das Ministerium für Staatssicherheit arbeiten wolle. Als sie mit 33 Jahren gerade ihr privates Glück gefunden hat und schwanger ist, schickt man sie als Agentin in den Westen. Clara, die sich nun Gisela nennt, kommt mit ihrer Tochter Jana bei den Seligers unter, von wo aus sie flüchtet, als Leonore sie als ihre ehemalige Brieffreundin erkennt. Clara zieht nach Frankfurt, wohnt in einem besetzten Haus, arbeitet als Korrektorin, dann als Journalistin. Sie fühlt sich zunehmend wohler in dem Land, dessen politisches System sie erforschen soll – mit dem Ziel, es auf lange Sicht hin zu unterwandern und dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen. Ihre Tochter beobachtet sie immer wieder einmal inkognito. Claras Traum von einem „sozialistischen Deutschland“, im dem sich die „Menschlichkeit“ der DDR mit der „wirtschaftlichen Stärke“ der BRD vermähle, wird von der realen Wiedervereinigung jäh zunichte gemacht.

In ihrer deutsch-deutschen Narration kreiert Cora Stephan mit einer bilderarmen Sprache intensive Tableaus, aus denen hervorgeht, wie gesellschaftliche Entwicklungen in den Alltag hineindiffundieren, das Leben der Individuen ordentlich durchschütteln, erschweren oder auch erleichtern. Im rhythmischen Sprachfluss gibt es nichts Kantiges, über das man stolpern könnte, allerdings bleibt auch poetische Dichte zu vermissen. Als einzige große Metapher ragt Margos und Henris Garten aus der Faction-Prosa heraus. Dieses Refugium des Privaten, sehr aufwendig und mit viel Liebe zum Detail angelegt, impliziert aber lediglich eine sehr reduktionistische Perspektive auf die großartige metaphorische Option des Voltaireschen „Il faut cultiver son jardin“.

Leonore und Clara, differenzierter ausgestaltet als Jana, überzeugen beide als Protagonistinnen, nehmen aber kaum die Sympathien der Leser*innen für sich ein. Irgendwie fehlt ihnen das berühmte „je ne sais quoi“, das sie endgültig aus dem tendenziell Marionettenhaften emporheben würde. Trotz ihrer kognitiven Brillanz und ihres Schreibtalents wirkt Leonore naiv. Als unpolitisches Blumenkind und späteres „Muttertier“ wird sie zum Opfer der Zeitläufte, das rein zufällig mit einer Affäre zu einem RAF-Mitglied in die Politik hineinrutscht und dessen Wiederauftauchen nach mehr als 20 Jahren letztendlich ihren Tod besiegelt. Eigentlich wollte sie sich nur um Jana kümmern und „ihre Tochter“ in einer kleinen privaten Idylle von allen Unbilden des Lebens fernhalten.

Im Gegensatz dazu wirkt Clara noch stereotypisierter, nachgerade holzschnittartig durchideologisiert und durchorganisiert. Sie fühlt sich dem MfS verpflichtet, bis bei ihr, quasi kontrastparallel zu Leonore, das Private die politische Existenz vereinnahmt. Jeder Ansatz einer Entwicklung, den diese einsame Frau ohne Zukunft erfahren könnte, läuft ins Leere. Erst im Angesicht des Todes, als sie endlich über ihre Herkunft Bescheid weiß, erfährt sie eine gewisse Genugtuung, weil es ihr gelingt, den Generaloberst im HVA des MfS mit der Hilfe eines stasierprobten Autohaus-Inhabers so sterben zu lassen wie ihre Schwester.

Sowohl bei Leonore als auch bei Clara kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihre Grabenkämpfe und Positionen, die mannigfachen ideologisch verbrämten Bezugnahmen auf Ereignisse der deutschen Nachkriegsgeschichte, in ihrem komplexen Zusammenspiel letztendlich die Meinung und möglicherweise auch den Werdegang der Autorin spiegeln – so, als ob Stephan in geraffter Form die Ereignisgeschichte in knappster Form Revue passieren lassen und gleichzeitig jedes dieser Ereignisse kommentieren möchte. Dabei entrollt sich eine wilde Hatz auf die unterschiedlichsten gesellschaftspolitischen Phänomene in beiden deutschen Staaten, weder ironisierend noch milde karikierend, sondern bissig und zynisch. Dieses populistische Potpourri setzt ein mit Leonore, die im Zuge ihres Lektorats vermeintliche Binsenweisheiten zu Geisteswissenschaften kolportiert:

Geisteswissenschaftler „schrieben in einer Sprache, die sich eher intellektuellen Moden als der Durchdringung des Stoffes verdankte. Viele Historiker konnten nicht erzählen, belegten aber noch jede Kleinigkeit mit einer Fußnote“. Als Clara in der Hausbesetzerszene unterwegs ist, regt sie sich über die fehlerhafte Rechtschreibung ihrer Kolleg*innen auf – Rechtschreibung werde als „Krampf im Klassenkampf“ angesehen.

Leonore wendet sich eine Spur zu vehement gegen alles, was von außen in ihr Familienleben eindringen könnte, ein bisschen zu heftig etwa gegen die „German Angst“, die sich mal gegen das Waldsterben, mal gegen den Nato-Doppelbeschluss richtet. Auch die Art und Weise, wie ihre Psychoanalyse zur Sprache kommt, ist ausschließlich abfällig und pejorativ. Clara wiederum richtet sich im Kapitalismus so bequem ein, dass sie kritische Stimmen, den Widerstand gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage in Wacken oder den Protest gegen die Startbahn West, nicht versteht und entsprechend reaktionäres Gedankengut in ihre Artikel einbaut. Mit der Stigmatisierung der Grünen, über die Clara „zur Strafe“ aus Bonn berichten muss – „strickende Männer mit Bart und Norwegerpullover und Frauen in langen Röcken und mit schrillen Stimmen. Die wirren Kinder von 1968“ – erreichen die Klischees eine Klimax.

Man kann nicht umhin, hier die Stimme der Autorin herauszuhören, die sich wohl ähnlich entwickelt hat wie ihre Heldin, ohne jedoch in der DDR gelebt zu haben, denn „früher schrieb Stephan für das Frankfurter Sponti Magazin «Pflasterstrand». Heute liefert sie Bausteine rechtsnationaler Publizistik.“ Die auffällige Abrechnung sowohl mit der DDR als auch mit der bundesrepublikanischen Widerstandsszene der 1970er und 1980er Jahre wirkt allzu unausgegoren, erhebt sich aus und zwischen den Zeilen wie ein erratischer Block der Negation, aus dem kein konstruktiver Impetus resultieren kann. Zu dieser Haltung passen die letzten Zeilen eines Kommentars, den Cora Stephan zur Corona-Krise geschrieben hat und der zu Recht für Aufruhr im Netz gesorgt hat. Die vernichtende verbale Stoßkraft gegen „Gendersternchen“, „politisch korrekte Sprachsäuberung oder Kampagnen gegen alte weiße Männer“ dürfte auch viele aus den Berufsgruppen empören, die man laut Stephan, hier ist ihr zuzustimmen, in der Krise mehr als zuvor braucht.

Und dennoch: So wie Ab heute heiße ich Margo punktet Margos Töchter mit einem Plot, der mit der deutschen Geschichte eng verkettet ist. Die eigentliche Tragödie ist jenseits des Öffentlichen angesiedelt: zwei Schwestern, die nichts voneinander wissen, eine Mutter, die nach ihrer Tochter sucht und eine Tochter, die das Geheimnis um ihre leibliche Mutter ergründen möchte. Nachdem der Stasi-Funktionär Hans Stahl Clara über ihre Herkunft aufgeklärt hat, meldet diese sich weder bei ihrer leiblichen Mutter Margo noch bei ihrer Tochter. Cora Stephan hütet sich vor Szenen der Anagnorisis, die hohes Kitschrisiko in sich tragen, wenn sie nicht in die totale Katastrophe münden. Immerhin hält die Autorin mit Holger, der in Janas Kernfamilie eingeführt wird, einen kleinen Trost parat.

Summa summarum: Die Lektüre von Margos Töchter ist durchaus lohnenswert, wenn sie von Anfang bis Ende aus einem kritisch-distanzierten Blickwinkel heraus erfolgt.

Titelbild

Cora Stephan: Margos Töchter. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
400 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462052275

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch