Die drei Kritiken und Revolutionen des Immanuel Kant

Eine Sammelrezension zu drei aus Anlass des 300. Geburtstags Immanuel Kants erschienenen Büchern

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

I

 

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts galt die 1924 unter dem Titel Kant – Der Mann und das Werk erschienene Kant-Biografie des dem Sozialismus zuneigenden Neukantianers Karl Vorländer zweifellos zu Recht als die gründlichste und am besten informierte. Mit Beginn des 21. hat sich das allerdings ebenso zu Recht geändert. Denn 2001 kam das Buch Kant – Eine Biographie auf den Markt, in dem Manfred Kühn den Lebensweg und den philosophischen Werdegang des bekannten Aufklärers nachzeichnet. Anlässlich des dreihundertsten Geburtstags Immanuel Kants hat der Beck Verlag 2024 eine recht kostengünstige Sonderausgabe herausgebracht.

Selbstverständlich zieht Kühn Vorländers Buch als wichtige Quelle heran. Denn dieser hat, wie Kühn anerkennt, „außerordentlich ausführlich über Kants Leben gearbeitet“, was dessen Werk zu einem „der Prüfstein[e]“ werden lasse, „an dem sich alle anderen Kant-Biographien messen müssen“. Dennoch habe es „nie eine Biographie gegeben, die den strengsten Anforderungen der Forschung genügt hätte“. Dieser Absenz hat Kühn ein dreiviertel Jahrhundert nach Vorländers Werk Abhilfe geschaffen. Das gelingt ihm nicht zuletzt darum, weil die Kant-Forschung seitdem weiter vorangeschritten ist und etliche Quellen entdeckt hat, die zu Vorländers Zeit noch unbekannt waren. Daher kann Kühn noch eingehender und genauer über Kants Leben informieren. So identifiziert er etwa Johann Gottfried Teske als Kants „Doktorvater“, der, wie Kühn beklagt, allerdings „in der Kantforschung nur wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen [hat]“.

Auch zeigt der Autor einen „viel farbigere[n] und interessantere[n] Kant“, als das halbgebildete Vorurteil über den Denker, der vermeintlich „weder Leben noch Geschichte“ (Heinrich Heine) hatte, zu wissen glaubt. Dass die Mär von dem Handwerkersohn, der nie seine Heimatstadt verlassen habe, so nicht zutrifft, spielt dabei allerdings allenfalls eine untergeordnete Rolle. Zwar gehörte Kants Vater der Gilde der Riemenscheider an, tatsächlich aber verließ Kant Königsberg in den Jahren 1749-1754, um sein Brot als Hofmeister und Hauslehrer zu verdienen. Doch hielt er sich stets in der näheren Umgebung seiner Geburtsstadt an der Pregel auf, in die er später zurückkehrt, um sein Auskommen als Unterbibliothekar zu finden. Entgegen gängiger Vorstellungen war Kant ein „elegant“ gekleideter Student und Magister, der in seinen „frühen Jahren […] so etwas wie ein Dandy, ein geckenhafter Mann von Welt“ war. So machte in den 1750er und 60er Jahren die Rede vom „galanten Magister“ die Runde. Auch war Kants Heimatstadt zu seiner Zeit keineswegs das abgelegene Provinzstädtchen, für das sie oft gehalten wird. Vielmehr waren in ihren intellektuellen Kreisen sowie vor allem an der Universität „alle neueren philosophischen Ideen […] anzutreffen“.

Das Bild vom kaum verständlichen Autor, dessen abstrakte und gerne in seitenlangen Sätzen mäandernden Gedankengänge seine Werke zur quälenden Lektüre macht, trifft wiederum allenfalls auf die drei Kritiken und wohl auch auf die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) zu. In vielen seiner anderen, nicht nur vorkritischen Schriften wie den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) oder seinen zahlreichen Zeitschriftenbeiträgen pflegte er hingegen nicht selten einen leichten, gelegentlich auch ironischen, ja polemischen Stil, so dass manche von ihnen, wie es in einer der Nachschriften seiner Anthropologie-Vorlesungen heißt, „von Jedermann, auch von Damen bei der Toilette gelesen werden [können], weil sie soviel Unterhaltendes ha[ben]“. Denn Kant „lag daran, nicht bloß Gelehrter, sondern auch Literat zu sein“. Überhaupt „verkörperte“ er „in vieler Hinsicht […] das Ideal des Intellektuellen und Literaten wie es in der Zeit des Rokoko in Deutschland und Frankreich gepflegt wurde“, was ihn „von der Mehrzahl seiner Kollegen [unterschied]“.  Die argumentative Entwicklung in den Kritiken ist allerdings, wie Kühn formuliert, tatsächlich in manchem Detail „unübersichtlich“, auch werde „nicht immer […] klar, was Kant meint oder wie er bestimmte Punkte bewiesen zu haben glaubt“.

„Philosophenbiographien“ dürfen sich allerdings nicht darauf beschränken, den Lebensweg des betreffenden Menschen nachzuzeichnen, sondern müssen dem Autor zufolge „einen Mittelweg zwischen der Wiedergabe der biographischen Details und der Diskussion des philosophischen Werkes finden“. Das ist Kühn geradezu beispielhaft gelungen. So zeichnet er insbesondere  „die Geschichte von Kants intellektuellem Leben“ nach und zeigt dabei teils sehr ausführlich, „wie Kants intellektuelle Interessen in seiner Zeit verwurzelt waren“. Schon als junger Student schreckte Kant nicht davor zurück, „in einen Streit zwischen einigen der berühmtesten Denker seines Zeitalters einzugreifen“, wobei er sich allerdings auch schon einmal verhob. Ende der 1760er Jahre „verfolgte“ er im Ringen um eine Professur „seine Interessen direkt, unter völliger Nichtbeachtung aller Dinge wie guter Manieren oder gar moralischen Gefühls“. Dabei sind „die Anfänge seiner kritischen Philosophie weitgehend moralischer Natur“. Die begann Kant zu dieser Zeit allerdings erst in einem langwierigen Prozess zu entwickeln, so dass es noch länger als ein Jahrzehnt dauerte, bis 1782 mit der Kritik der reinen Vernunft ein (erstes) Ergebnis vorlag. Sie wurde allerdings „nicht von einem einsam denkenden Genie erfunden“, sondern „aus dem Dialog geboren“, den Kant mit etlichen befreundeten Philosophen und Gelehrten in Königsberg und andernorts führte. So ist Kants Kritische Philosophie „ebensosehr [sic] das Ergebnis von Selbstdisziplin wie sein moralischer Charakter“.

Neben dem ihnen gebührenden Platz, den Kühn den philosophischen Hauptwerken Kants einräumt, stellt er auch kürzere, eher wenig bedeutend erscheinende Gelegenheitsarbeiten von Kant zumindest kurz vor, wobei er gelegentlich versteckte Zitate einbaut. So etwa, wenn er Kants Träume eines Geistersehers (1766) als „ein Buch für alle und keinen“ charakterisiert, wobei Kants Träume und Nietzsches Zarathustra (1883-1885) unterschiedlicher kaum sein könnten.

Kühn beschränkt sich allerdings nicht nur auf die Darstellung und Interpretation von Kants Schriften, sondern übt auch schon einmal Kritik an vorgängigen Auslegungen der Werke aus Kants vorkritischer Phase, von denen er „die meisten […] für irrig“ hält. Dann wieder handelt er die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) auf gerade einmal zwei Seiten ab, obwohl er in ihr ein „äußerst wichtiges Werk“ ausmacht. Eine Einschätzung, die vielleicht nicht von allzu vielen geteilt wird. Auch dass Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen zu den „eigenständigen Beiträgen zur philosophischen Diskussion seiner Zeit“ zählen, scheint fraglich. Denn der Text ist nicht eben sonderlich philosophisch. Kühn selbst erklärt denn auch wenige Seiten nach seinem fragwürdigen Befund, dass das Werk „mehr vom Standpunkt eines ‚Betrachters’ als eines ‚Philosophen’ aus geschrieben“ ist.

Nur wenig ist in Kühns Biografie über Kants Haltung Frauen gegenüber und seinem Verständnis des weiblichen Geschlechts zu erfahren. Auch mag er sich nicht recht festlegen, „ob Kant je Frauen wirklich verstanden hat“. „Sehr wahrscheinlich“ sei allerdings „daß er sie mit zunehmendem Alter immer weniger verstand“.  Jedenfalls sei er „in Sachen Geschlechterbeziehungen oder Sexualität kein Revolutionär“ gewesen. Das ist sicher zutreffend. Die Ehe als Vertrag zum wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane zu verstehen und diesen so innerhalb der Institution zu legitimieren, war allerdings immerhin neu.

Insgesamt fasst Kühn Kants Philosophie und die philosophischen Diskurse seiner Zeit – soweit dies eben möglich ist – auch für Laien verständlich zusammen. Vielleicht hätte er allerdings das philosophische System des einen oder anderen Philosophen, auf den sich Kant (kritisch) bezieht, etwas ausführlicher darlegen können. Gelegentlich wird von ihnen kaum mehr als der Name genannt. Möglicherweise hätte es aber auch schon das Thema und den Umfang des vorliegenden Bandes gesprengt, ihre philosophischen Systeme und Gedanken zumindest im Umriss darzulegen.

 

II

 

Marcus Willaschek würdigt Kühns Buch gemeinsam mit demjenigen Vorländers als „die beiden wichtigsten wissenschaftlichen Kant-Biographien“. Er selbst wiederum hat ein bedeutendes Werk zu – wie der Untertitel lautet – Kants Revolution des Denkens veröffentlicht. Wie sich schon auf den ersten Seiten des Buches zeigt und in dessen weiterem Verlauf näher erläutert wird, handelt es sich tatsächlich allerdings gar nicht um eine Revolution, sondern um drei, die Leben und Werk Kants prägten. Die erste war persönlicher Art und fand in dessen vierzigstem Lebensjahr statt, in dem sich Kant zufolge der Charakter eines Menschen herausbildet. Die zweite revolutionierte mit der Kritik der reinen Vernunft die Philosophie, während die dritte im Zuge der Französischen Revolution die politischen Verhältnisse grundlegend umstürzte. Sie alle vereinten sich in einer Revolution des Denkens nicht nur Kants.

Bei Willascheks Buch handelt es sich gleichsam um eine Monographie, die aus „30 in sich geschlossene[n] Essays“ besteht, was zu gelegentlichen Redundanzen führt, die sich allerdings keineswegs negativ auswirken. Vielmehr sind die vereinzelten Wiederholungen durchaus sinnvoll. Denn aufgrund seines Charakters lassen sich die einzelnen Essays des Buches je für sich lesen. Auch ihre nicht chronologische, sondern thematische Anordnung – „Politik und Geschichte, gefolgt von Moral, Recht, Religion, Natur, Erkenntnis und Metaphysik“ – leuchtet sofort ein, schreitet sie doch von konkreteren zu „abstrakteren Bereichen“ von Kants Philosophie fort, was den Lesenden den Einstieg in dessen Denken erleichtert. Zudem hat Willaschek zum besseren Verständnis ein Glossar angehängt, in dem die wichtigsten Begriffe der Terminologie Kants erläutert werden. Überhaupt zeichnet sich der Band dadurch aus, dass er den Lesenden die kompliziertesten Gedankengänge Kants auf verständliche Weise darlegt, ohne sie dabei je zu verflachen. So begrüßenswert das Glossar ist, so bedauerlich ist allerdings die Absenz eines Literaturverzeichnisses.

Die ersten Zeilen des Bandes lassen Befürchtungen wach werden, eine hagiographische Schrift in Händen zu halten, die sich zudem formelhafter Wendungen bedient. So wird Kant schon in dem ersten Satz als „bedeutendste[r] Philosoph der Neuzeit“ gepriesen, „der uns“, wie es weiter heißt, „auch heute noch viel zu sagen hat“ und dessen „Philosophie uns Orientierung geben [kann]“. Diese Befürchtung ist allerdings unbegründet, und das aus mehreren Gründen. Zum einen wird dieser hohe Ton nicht beibehalten, zum anderen trifft all das, was der Autor da behauptet, zu. Und zum dritten liest Willaschek Kants philosophische Ausführung durchaus kritisch, was wiederum ganz in dessen Sinne ist, und moniert – ebenfalls schon auf der ersten Seite – Kants „rassistische und antijüdische Äußerungen“, sowie seine „herabsetzenden Urteile über Frauen“ und seine „moralische Verurteilung der Homosexualität“. Allerdings geht Willaschek im Laufe des Buches nur auf antisemitische und vor allem auf die rassistischen Aussagen Kants näher ein (letzteren ist sogar ein eigener Abschnitt gewidmet), nicht so aber auf dessen Misogynie und Homosexuellenfeindlichkeit.

Vor allem aber betont Willaschek immer wieder Kants Primat der Praxis vor der Theorie, was so gar nicht zu dem gängigen Bild des Philosophen passt und daher manche überraschen mag. Willaschek aber plausibilisiert das immer wieder anhand von Kants vorkritischer wie auch kritischer Philosophie und an Kants späten, nach der Französischen Revolution publizierten Schriften. Ebenso deutlich wird, dass der Begriff der Freiheit „wie kein anderer […] für Kants gesamte Philosophie grundlegend“ ist. Die „zentrale Idee“ von Kants kritischer Philosophie aber liegt Willaschek zufolge in dem „verblüffende[n] Gedanke[n]“, „dass die Objektivität unserer Erkenntnis nicht auf Eigenschaften des Objekts, sondern auf der Aktivität des erkennenden Subjekts beruht“. Das heißt nicht weniger, als „dass Objektivität auf Leistungen des Subjekts beruht“, wobei „alle menschlichen Subjekte in ihrem Denken und Erkennen denselben notwendigen Bedingungen unterworfen sind (Raum, Zeit, Kategorien), um überhaupt etwas erfahren und erkennen zu können“. Willaschek erläutert all das ebenso ausführlich wie nachvollziehbar. Auch weist er darauf hin, dass „der Konstruktivismus unserer Tage“ von dieser Idee Kants „beeinflusst“ ist.

Zudem würdigt Willaschek den Königsberger Philosophen als „weitsichtige[n] Theoretiker der Globalisierung“  zu dessen „bedeutendsten theoretischen Innovationen“ der Entwurf eines „Weltbürgerecht[s]“ zählt, was ihn zu einem „Pionier des modernen Asylrechts“ macht. Kants als rassistisch interpretierten Überlegungen in seiner Schrift Von den verschiedenen Rassen der Menschen (1775), denen zufolge das einer „Gattung“ und einer „Art“ angehörende Menschengeschlecht aufgrund verschiedener klimatischer Bedingungen vier „Rassen“ ausbildete, steht denn auch seine spätere Verurteilung „der angeblichen Entdeckung und tatsächlichen Eroberung fremder Länder“ entgegen, in der er einen „Missbrauch des Weltbürgerrechts auf friedliche Kontaktaufnahme“ sah. Das hinderte ihn allerdings wiederum nicht an rassistischen Äußerungen etwa in seinen über Jahrzehnte hinweg gehaltenen Vorlesungen zur Anthropologie und zur physischen Geographie, in denen er den von ihm als „Wilden“ bezeichneten Ethnien allerlei üble Eigenschaften andichtete und überdies eine Hierarchie der von ihm angenommenen vier „Rassen“ behauptete, an deren Spitze die weiße stehe. Dessen ungeachtet ging es Kant nicht nur in diesen, sondern überhaupt in allen seinen Vorlesungen „nicht in erster Linie um Wissensvermittlung, sondern darum, dass seine Studenten zu mündigen Bürgern und Menschen wurden“, was, wie Willaschek anmerkt, „ganz in Übereinstimmung mit seiner eigenen pädagogischen Theorie“ stand.

Ähnlich wie Kühn stellt auch Willaschek die Entwicklung von Kants Philosophie in Zusammenhang mit dessen Biografie, ohne jene biographistisch zu erklären. Mehr noch, er stellt sie – berechtigter Weise – in den Kontext der philosophischen Diskussionen der Zeit. All das verbindet seine Darlegungen mit denjenigen Kühns. Anders als dieser bezeichnet Willaschek Königsberg als „tiefste[] Provinz“, relativiert das allerdings schon kurz darauf mit dem Hinweis, dass sie zu Zeiten Kants „eine der größten deutschsprachigen Städte“ war. Zudem verneint er die von Kühn bejahte Frage, ob Kant ein Atheist gewesen ist. Willaschek macht in ihm vielmehr einen Agnostiker aus, dem die Annahme der Existenz Gottes als eine rationale und moralische Notwendigkeit galt, wofür der Kant-Experte natürlich einige plausible Gründe und schlagkräftige Argumente anführen kann.

Weist Kühn darauf hin, dass Kant die Kritik der reinen Vernunft in Auseinandersetzung mit philosophischen Freunden und Kollegen entwickelt hat, so bestreitet Willaschek, dass der Kategorische Imperativ eine „Erfindung Kants“ gewesen ist, da er schon in der Goldenen Regel vorgedacht gewesen sei. „Kants besondere Leistung“ habe vielmehr darin bestanden, sie „in eine allgemeinere[] und präzisere[] Form zu fassen“. Allerdings ließe sich dem entgegenhalten, dass Kants Begründung des kategorischen Imperativs eine noch bedeutendere Leistung war als die Form(ulierungen), in die er ihn kleidete. Dass der Kategorische Imperativ Kant selbst „nicht immer geholfen hat, die richtige Entscheidung zu treffen“, lässt sich nach der Lektüre der Bücher von Kühn und Willaschek schwerlich bestreiten.

„Kants Bewertung der Französischen Revolution“ ist Willaschek zufolge „zwiespältig“, ohne allerdings „widersprüchlich“ zu sein. Denn ein „Umsturz der bestehenden Rechtsordnung“ ist gemäß der politischen Philosophie Kants stets und ganz grundsätzlich ein „unentschuldbares Unrecht“. Ist er wie im Fall der Französischen Revolution aber vollzogen, ist er zumindest in diesem Fall doch ein „Vorschein einer besseren Zukunft, denn sie zeigt, dass eine republikanische Ordnung und echte Volkssouveränität möglich und erreichbar sind“. Insgesamt charakterisiert der Autor Kant sowohl als „politische[n] Realist, der sich keinerlei Illusionen über die moralischen und sozialen Qualitäten der Menschen macht“, wie auch als „politische[n] Idealist, der an die Macht der Vernunft und den menschlichen Fortschritt glaubt“. Auch hier also ein gewisser Zwiespalt, der nicht unbedingt widersprüchlich sein muss.

So erhellend und instruktiv Willascheks Kant-Buch auch ist, bleibt doch der eine oder andere, vielleicht randständig anmutende Punkt zu kritisieren. Allen voran, dass er die „zwölf logischen Grundformen des Urteils“ anders als die der Kategorien nicht in der gebührenden Ausführlichkeit dargelegt und die zu zahlreichen Interpretationen Anlass gebende Urteilstafel Kants nicht einmal erwähnt. So sind ihr mit Klaus Reichs Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel (1932) und Reinhard Brandts Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft; (A 67-76; B 92-101) (1991) zumindest zwei Bücher gewidmet.

Für seine Feststellung „dass nach Kants eigener Aussage gerade die Frage ‚Was ist der Mensch?’ im Zentrum seiner Philosophie steht, führt Willaschek eine Stelle in der von Gottlob Benjamin Jäsche 1800 im Auftrag Kants herausgegebenen Logik an, was ja tatsächlich von einiger Beweiskraft ist. Unerwähnt lässt er allerdings Kants Brief vom 4.5. 1793 an Carl Friedrich Stäudlin, in dem der Philosoph die Beantwortung der besagten Frage nicht der „reinen Philosophie“, sondern der Anthropologie zurechnet.

Unverständlich ist, dass Willaschek Kants Notizen in seinem durchschossenen Handexemplar der Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen nach der von Gerhard Lehmann bestenfalls nachlässig besorgten Edition der Akademie-Ausgabe zitiert, was sich schon im Titel der in deren zwanzigstem Band 1942 erfolgten Publikation niedergeschlagen hat: Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Dabei liegt seit 1991 eine von Marie Rischmüller besorgte Edition vor, die als Band drei der Kant-Forschungen erschien und anders als der Text in der Akademie-Ausgabe den zutreffenden Titel Bemerkungen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen trägt. Denn Kants Notizen stehen zwar in seinem Handexemplar des Buches, beziehen sich aber keineswegs immer auf dessen Inhalt.

Ein letzter Kritikpunk gilt weniger einer Ausführung Willascheks, als vielmehr einer Auslassung. Einem der Kapitel seines Buches hat er in einer Fußnote eine als solche nicht bezeichnete Triggerwarnung vorangestellt, in der es heißt: „Dieses Kapitel enthält Zitate, in denen Kant rassistisch diskriminierende Ausdrücke gebraucht, die heute aus gutem Grund nicht mehr verwendet werden.“ Mögen solche warnenden Hinweise nun gegeben werden oder nicht, – Ins Auge sticht jedenfalls, dass es kein Pendant zu Kants sexistischen und misogynen Ausfällen gibt. Das liegt allerdings wohl auch daran, dass das Buch kein Kapitel zu Kants Verständnis der Natur der Geschlechter und ihrer sozialen Rollen enthält, dem eine solche Warnung hätte vorangestellt werden können.

 

III

 

Moniert Kühn in seiner Kantbiographie, dass dessen Kritik der Urteilskraft (1790) „oft einfach als Abhandlung über Ästhetik gelesen“ wird, so lässt sich dieser Vorwurf dem von Gabriele Gava und Achim Vesper verfassten Einführungsbändchen in Kants Philosophie nicht machen, gehen sie doch ausdrücklich darauf ein, dass Kant mit der Publikation seine kritische Philosophie „sowohl um eine Ästhetik des Schönen in der Natur als auch eine Naturteleologie“ erweitert hat.

Wie die beiden Autoren zu Beginn einräumen, gehen sie in ihrer „kurzen Einführung“ nicht auf Kants Philosophie insgesamt ein, sondern „konzentrieren“ sich „auf die drei Kritiken und die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, um deren „zentrale Ideen […] verständlich zu machen und zugleich im Zusammenhang zu beleuchten“. Ersteres gelingt ihnen insbesondere hinsichtlich der „Gesetzgebung des Verstandes“ nur mäßig. Denn sie sind weit weniger als Willaschek mit der Fertigkeit gesegnet, noch die kompliziertesten und abstraktesten (gelegentlich auch verworren anmutenden, jedenfalls aber verwirrenden) Ausführungen Kants für nicht philosophisch vorgebildete Menschen nachvollziehbar darzulegen. Dies schlägt sich gerade in ihren Erläuterungen zur Kritik der reinen Vernunft nieder, während die Entwicklung von Kants „kritische[r] Moralphilosophie“ etwas verständlicher, wenn auch beileibe nicht allgemeinverständlich nachgezeichnet wird. Immerhin aber wird deutlich, dass Kant seine ethische Argumentation in der Kritik der praktischen Vernunft (1788) sowohl verändert, indem er den in der Grundlegung drei Jahre zuvor beschrittenen„Beweisgang“ zur Begründung des Kategorischen Imperativ „fallen lässt“, als auch eine thematische Erweiterung vornimmt, indem er die „objektive Realität der Ideen Gott und Unsterblichkeit“ nun aus einem „Bedürfnis der Vernunft’“ herleitet.

Im Mittelpunkt der Kant-Interpretation von Gava und Vesper steht das „Kunstwort“ Normativ, denn die „grundlegend neue Einsicht“ Kants habe darin bestanden, dass sich die „fundamentalen menschlichen Fähigkeiten […] nur anhand der mit ihnen verbundenen Maßstäbe erläutern lassen“. Ausgehend von dieser „faszinierende[n] Theorie des Normativen des menschlichen Geistes“, „die auf der Gesetzgebung jeweils des Verstandes, der Urteilskraft und der Vernunft und ihren apriorischen Prinzipen beruht“,  nähern sie sich Kants kritischer Philosophie, die sie sehr gedrängt und oft gekürzt (aber nicht verkürzt!) wiedergeben. So beleuchten sie von Kants vier Argumenten für den apriorischen Charakter des Raums und den fünf „hinsichtlich der Zeit“ nur ein einziges, das „exemplarisch“ für alle neun stehen soll. An einem Punkt aber sind sie sogar ausführlicher als Willaschek, der allzu leichtfüßig über die Rolle und Funktion der Urteile in Kants Kritik der Reinen Vernunft hinweg geht, sodass die Urteilstafel von ihm nicht einmal erwähnt wird. Gave und Vesper gehen hingegen sehr wohl auf sie ein, wenngleich sie sie alles andere als erschöpfend behandeln, was sie zu dem gewagten Befund führt, dass „Urteilsformen und Kategorien […] identisch sind“. Willascheks Glossar klärt hingegen darüber auf, dass Kant unter Kategorien „die zwölf apriorischen Grundbegriffe des menschlichen Verstandes“ versteht und Urteile als „Verknüpfung von Vorstellungen“ (Herv. RL) definiert.

Abschließend wenden sich Gava und Vesper Fragen und Kontroversen der heutigen Kant-Interpretationen zu, wobei sie in der englischsprachigen Kant-Rezeption besser bewandert zu sein scheinen als in der seiner Muttersprache.

Bei nicht allzu schmalem Geldbeutel und genügend Muse zur Lektüre ist zu empfehlen, zu den ebenso umfangreichen wie erhellenden Bänden von Kühn und Willaschek zu greifen.

Titelbild

Gabriele Gava / Achim Vesper: Kants Philosophie.
(C.H. Beck Wissen).
Verlag C.H.Beck, München 2024.
128 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783406814518

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Titelbild

Manfred Kühn: Kant. Eine Biographie.
Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer.
Verlag C.H.Beck, München 2024.
639 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783406814600

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Titelbild

Marcus Willaschek: Kant. Die Revolution des Denkens.
Verlag C.H.Beck, München 2023.
430 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783406807435

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