Auf der Flucht aus der DDR

Thomas Strässle erzählt in „Fluchtnovelle“ die Liebesgeschichte seiner Eltern

Von Diana HitzkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Diana Hitzke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Strässle gelingt es in seiner Fluchtnovelle, die auf der Geschichte seiner Eltern beruht, Dokumentarisches und Fiktives auf eingängige Art und Weise zu verbinden. Von Anfang an ist klar, dass die Flucht der beiden Liebenden gelingen muss – sonst könnte der Erzähler, ihr Sohn, sie nicht erzählen. Schon der erste Satz ist stark: „Kein Körper, nur ein Kopf.“ Und weiter: „Wie nach einer Hinrichtung. Als ob ihn jemand aus dem Korb genommen und da hingepflanzt hätte. Er ruhte auf einem mächtigen Sockel, doch eigentlich ruhte er auf dem Polster seines ausladenden Bartes.“ Wer sich ein wenig auskennt in der ehemaligen DDR, weiß sogleich, wo wir sind – in Karl-Marx-Stadt oder Chemnitz. Dort wohnte die Großmutter des Erzählers, die Familie wird sie später immer wieder dort besuchen.

Die Liebesgeschichte beginnt fast gewöhnlich. Der Vater ist mit einer Seminargruppe aus Zürich in Erfurt, die Mutter findet sich dort mit Kunststudent:innen aus Dresden ein. Sie treffen in einer Kneipe aufeinander, verlieben sich sehr schnell und tun alles, um sich zu sehen. Die Kennenlernszene ist von einer solchen Leichtigkeit getragen – zwei Menschen begegnen sich in einer Kneipe und treffen sich dann immer wieder –, dass es fast schicksalhaft erscheint, dass der Vater des Erzählers sich daraufhin einen Gasthörerstatus an der Humboldt-Universität besorgt, um seine Freundin regelmäßig und unkompliziert sehen zu können und dass er nach und nach alle nötigen Schritte unternimmt, um ihre Flucht in die Schweiz zu planen.

Strässle fügt zwischen die Szenen, die von seinen Eltern erzählen, dokumentarische Passagen und Gesetztexte ein. Dadurch wird sehr deutlich, welche Gefahr es bedeutete, einen Pass zu fälschen, einen Stempel nachzuahmen, eine Flucht zu planen. Auch wenn die Erklärungen den Fluss der Erzählung unterbrechen, so sind sie nicht nur aus historischer Perspektive interessant, sondern geben auch der Liebesgeschichte einen besonderen Dreh.

Der Autor möchte nicht nur eine Geschichte erzählen: Strässle will auch DDR-Geschichte erklären. Seine eigenen Erlebnisse bei seinen familiären Nachforschungen bleiben ebenfalls nicht unerwähnt. Die Wechsel in Erzählhaltung und Perspektive sind gut gemacht – die Eltern erzählen in Dialogen und Ich-Perspektive, der Erzähler spricht über seine Familie. Es gibt verschiedene Abschnitte, die etwa die diplomatischen Verbindungen oder  die Strafgesetzgebung der DDR erklären, das Passgesetz und andere staatliche Vorgaben und Einschränkungen.

Auch die unterschiedlichen Fluchtperspektiven werden überzeugend dargestellt – der Vater holt seine Freundin unter großem Einsatz in die Schweiz, kann aber in sein Leben zurück, während die Mutter alles zurücklassen muss, sich nicht einmal verabschieden kann, ihre Freunde belügen muss. Sie legt großen Wert darauf, noch ihr Kunststudium abzuschließen, damit sie nicht ganz ohne Etwas dasteht, wenn die Flucht gelingt.

Da die Novelle mit 117 Seiten ziemlich kurz ist, soll nicht mehr über den Inhalt verraten werden. Es lohnt sich sehr sie zu lesen – ob aus Interesse an der DDR oder als hoffnungsvolle Liebesgeschichte, die gegen das System besteht.

Titelbild

Thomas Strässle: Fluchtnovelle.
Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
121 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518474488

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