Scharfer Blick in die Vergangenheit

Benjamin von Stuckrad-Barre und sein neuer Remix „Ich glaub mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen“

Von Nadine WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Benjamin von Stuckrad-Barre, deutscher Popliterat der ersten Stunde, kehrt nach einem sehr erfolgreichen Ausflug in die Abgründe seiner eigenen Seele in Form des autobiografisch aufgeladenen Romans Panikherz zurück zu seinen Anfängen: Ich glaub mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen ist der dritte Band seines beliebten Remix, einer Sammlung von journalistischen wie schriftstellerischen Texten, die sich mit aktuellen Ereignissen, Personen und Phänomenen befassen – oder vielmehr befasst haben, denn dieses Buch scheint doch irgendwie in der Vergangenheit hängen geblieben zu sein. Die Schweinegrippe, die Berlinale, ein Jahresrückblick mit Harald Schmidt, ein Besuch in Venedig bei Ferdinand von Schirach und die Rückkehr zum Sunset Boulevard in Los Angeles sind nur einige der Themen, die Stuckrad-Barre in diesem Buch versammelt. Mit scharfem Blick und oft gewohnt spitzer Zunge nähert er sich der Queen of Pop ebenso wie Axel Springer.

Sprachlich brilliert Stuckrad-Barre vor allem in den popkulturellen Texten, die sich mit relativ zeitgenössischer Musik von Madonna und Pharrell Williams sowie dem Phänomen der Liebes-Tattoos beschäftigen. So schreibt der Autor über das Madonna-Konzert der Rebel Heart Tour im Jahre 2015, die Popdiva performe „rätselhafte Sexpantomime mit Nonnen in Windeln“, um 22:45 Uhr habe man „KOSTÜMMÄSSIG […] jetzt alle Weltreligionen so weit durch; Sexpraktiken ebenfalls“. Obwohl Madonna zu Stuckrad-Barres Idolen gehört, beobachtet er scharf und scheut auch niemals vor Kritik zurück. Das neue Album ist schlecht? Das spanisch angehauchte Medley seltsam und unnötig? Dann wird das auch so gesagt. Nichts wird beschönigt, allerhöchstens, wenn Ironie mit im Spiel ist. Aber es ist ja gerade diese Gemeinheit, die Stuckrad-Barre so liegt, in der er sprachlich aufblüht und die ihm seine besten Wortspiele und Pointen ermöglicht.

Auch das Kapitel über Christian Ulmen ist äußerst interessant. Hier stellt Stuckrad-Barre seinen Freund und Showbiz-Kollegen auf eine doch sehr zärtliche Art als Sonderling dar, als sozial völlig inkompetenten, aber dennoch extrem liebenswürdigen Mann, der sich erst wohlfühlt, wenn „alle im Raum verwirrt und beklommen sind“, denn „jetzt geht es allen so wie ihm“. In einem anderen Text imaginiert der Popliterat ein Redaktionsgespräch anlässlich des Geburtstages von Thomas Bernhard. Stuckrad-Barre kreiert eine herrlich witzige Parodie des journalistischen Betriebes, in welcher „der Ressortleiter“, „der alte Hase“ und „der Eifrige“ gemeinsam mehr oder weniger gute Ideen ausbrüten. „Thomas Bernhard wird 80 – es gratuliert Sascha Lobo, ja? Unmöglich, da machen wir uns doch nur lächerlich mit. Denkt an den Goethe-Stuss in der FAZ neulich“, klagt der alte Hase – aber „immerhin wurde darüber gesprochen. Und, ganz ehrlich, ehe wir gar nichts haben…“ würde laut Stuckrad-Barre jeder durchschnittliche Ressortleiter antworten.

Dass Stuckrad-Barre also nach all den Jahren des Schriftstellertums immer noch gut schreiben und unterhalten kann, hat er bewiesen. Doch das reicht leider nicht aus, wenn er mit seinem neuesten Band an die alten Remix-Werke anknüpfen möchte. Waren diese damals noch auf der Höhe der Zeit, ein Spiegel der aktuellen Gesellschaft, wirkt das neue Buch unheimlich blass und alt, fast wie ein Relikt aus dem letzten Jahrzehnt, das in einer der hintersten Schubladen eines Büros von Kiepenheuer & Witsch vor sich hin staubte, bis es im Jahr 2017 durch reinen Zufall beim Aufräumen entdeckt wurde. „Huch, das liegt hier auch noch herum? Wird Zeit, dass wir das mal endlich loswerden!“ hat sich wohl jemand im Verlagshaus gedacht.

Wo sind all die aktuellen (pop)kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Phänomene der letzten Jahre – Facebook, Instagram und Snapchat, die sich allesamt für scharfsinnige und scharfzüngige Beobachtungen anbieten, all die Nachwuchsmusiker, -schauspieler und -autoren, die sich in den letzten Jahren einen Namen gemacht haben? Stattdessen setzt man den erwartungsvollen Lesern ein Porträt Boris Beckers vor, das schon im Jahr 2010 in der WELT erschien, einen Text über die WM desselben Jahres, sowie eine weiteres Porträt über den ehemaligen Fernsehpastor Jürgen Fliege, der irgendwann nur noch damit Schlagzeilen machte, dass er dubiose Essenzen für einen Haufen Geld verkaufte. Stellte sich damals beim Lesen der ersten beiden Remix-Bände noch ein Gefühl der Unmittelbarkeit und Aktualität ein, ist es bei der Lektüre von Ich glaub mir geht’s nicht so gut… eher das Gefühl, eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen. Das Buch als Zeitkapsel. Das muss durchaus nichts Schlechtes sein, hier aber, bei Stuckrad-Barre und vor allen Dingen in dem Kontext seiner Remix-Romane, ist es das.

Stuckrad-Barres Buch wirkt zeitweise eher wie eine Ansammlung von Texten über seine größten deutschen (und natürlich männlichen) Idole: Jörg Fauser, Helmut Dietl, Boris Becker, Walter Kempowski, Rainald Goetz. Das ist nicht verwerflich, hätte sich allerdings auch unter einem völlig anderen Titel herausbringen lassen können, um so jegliche Verbindung zu den beiden Vorgängern zu kappen, welche Stuckrad-Barres Leser zu Recht mit falschen Erwartungen und Hoffnungen gespeist haben. Ich glaub mir geht’s nicht so gut… ist somit wohl das Klapphandy unter seinen Büchern, funktionstüchtig, aber eben auch ein wenig überholt – und der von der ZEIT als der „beste Chronist unserer Zeit“ betitelte Autor ist, trotz seiner durchaus immer noch exquisiten schriftstellerischen Fähigkeiten, zu einem Chronisten der unmittelbaren Vergangenheit geworden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Benjamin von Stuckrad-Barre: Ich glaub, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen. Remix 3.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
307 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051810

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