Generationenübergreifende Frauenfreundschaften
Meral Kureyshi erzählt in ihrem dritten Roman „Im Meer waren wir nie“ von unterschiedlichsten Formen der Zusammengehörigkeit
Von Liliane Studer
2015 erschien Meral Kureyshis erster Roman Elefanten im Garten, in dem sie von einer jungen Frau erzählte, die versuchte, sich im neuen Land, in das sie als Neunjährige mit ihrer Familie gekommen war, zurechtzufinden. Ebenso einschneidend war später der Tod des Vaters. Verlust und Verlorenheit, Trauer und Schmerz zogen sich durch das Buch, getragen von einer eindrücklichen poetischen Sprache. Der Roman wurde im gleichen Jahr für den Schweizer Buchpreis nominiert. Fünf Jahre später folgte mit Fünf Jahreszeiten Kureyshis zweiter Roman, eine eindringliche Geschichte über Freundschaft und Liebe und wie zerbrechlich sie sind. Und nun also legt die nach wie vor in Bern lebende Autorin einen dritten Roman vor, der wiederum mit der bereits in den beiden vorangegangenen Romanen bewunderten leisen poetischen Sprache überzeugt.
Die Geschichte ist schnell erzählt: Lili geht mit ihrem Ehemann Emil ins Altersheim, um ihn zu unterstützen. Nach seinem Tod sucht ihre Familie eine Hilfe, die bei Lili vorbeischaut, ihr zur Seite steht, sich um sie kümmert. Die namenlose Ich-Erzählerin übernimmt diesen Job, er scheint genau das Richtige für sie zu sein. Sie kennt Lili und ihre Familie bereits gut, Sophie, Lilis Enkelin, ist ihre beste Freundin seit früher Kindheit, die beiden jungen Frauen leben im selben Haus, Sophies achtjähriger Sohn wächst mit den beiden Frauen auf, die Erzählerin kümmert sich oft um ihn. Diese Nähe schafft eine Vertrautheit, die eine starke Grundlage bildet, um Schwierigkeiten, die es selbstverständlich auch in dieser zusammengewürfelten Gemeinschaft gibt, auszuhalten.
Als Nuri, die zehn Jahre jüngere Schwester der Ich-Erzählerin, zur Gruppe stößt, gerät das Gleichgewicht tüchtig ins Wanken. Das Zusammenleben mit ihr ist nicht immer einfach. Sie ist nicht mehr das kleine Mädchen, das die ältere Schwester unter ihre Fittiche genommen hat, damit es nicht untergeht am neuen Ort, wohin die Familie gezogen ist. Nuri wendet sich vermehrt Sophie zu, was die Erzählerin eifersüchtig beobachtet. Doch sie alle hüten ihre Geheimnisse. So schweigt Sophie darüber, was sie abends macht und mit wem sie sich trifft. Die Ich-Erzählerin behält für sich, dass sie bald in eine andere Stadt umziehen wird, um eine Stelle am dortigen Theater anzutreten. Lili wiederum erzählt nur ihrer Betreuerin von Winter, ihrer großen Liebe.
Die ganz besondere Bedeutung, die die Ich-Erzählerin für Lili hat, zeigt sich auch darin, dass jene nach Lilis Tod die Kiste mit den paar Sachen, zu denen auch der Schuhkarton mit Winters Briefen gehört, im Altersheim abholen wird, ebenso die Urne, wie sie es Lili versprochen hat, um sie ins Meer zu streuen,“in das Winters Asche gestreut wurde. Das war Lilis Wunsch.“ Im Flugzeug hat sie Winters Briefe mit dabei. „Ich werde sie alle lesen und mir vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn Lili mit ihm gegangen wäre. Wenn sie das Leben gelebt hätte, das sie wollte. Wenn sie glücklich gewesen wäre.“
Meral Kureyshis Können zeigt sich in der Erzählweise. In kräftigen Pinselstrichen hält sie Momente fest, Bilder entstehen im Kopf, Szenen spielen sich vor dem inneren Auge ab, Geschichten setzen sich puzzleartig zusammen. Dieses Schreiben kommt ganz ohne Erklärungen aus. Schnörkellos ist es, und gleichzeitig voller Emotionen. Nicht zuletzt gibt es auch hier wie bereits in Kureyshis erstem Roman Elefanten im Garten diese warmen Sätze voller Trauer über die Abwesenheit der eigenen Eltern, die sie gleichzeitig ganz nahe heranholen.
Heute vor sechzehn Jahren ist mein Vater gestorben. Ich erwache mit diesem Gedanken im Kopf. Es brennt in mir. Wie damals.
Kein Stück weniger.
Es wird nicht besser mit der Zeit, anders, als alle sagten. Im Gegenteil, ich vermisse ihn immer mehr, er fehlt immer länger und länger, mit jedem Tag, der vergeht.
[…]
Meine Mutter ist am Grab meines Vaters, zweitausend Kilometer entfernt, da, wo sie geboren wurden, wo er begraben werden wollte, wo sie sein Grab pflegt, Blumen hinstellt, den Stein mit seinem Namen streichelt und in der Erde wühlt mit ihren Händen, an den Fingern seinen und ihren Ring. Sie will auch dort begraben werden.
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