Temporäre Stundung des emotionalen Ernstfall

Gerhard Oberlin über die Gründe des Lachens und Weinens im Kino

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Kino ist der Ort großer Gefühle. Kafka hat dort geweint und gelacht. Und das nicht aus Sentimentalität, wie die Tagebucheinträge suggerieren. Die Affekte auf der Leinwand sprechen archetypische Erfahrungen in den Zuschauern an, in denen sie sich, auf erschreckende oder erheiternde Weise, als ‚andere‘ wiedererkennen. Das ist der Ausgangspunkt der Studie von Gerhard Oberlin. Der Film ist, so argumentiert er, ein Simulationsraum, in dem uns ein Probehandeln, eine „virtuelle Lebenspraxis“ ermöglicht wird. Indem man Leiden oder Freude mit der Figur auf der Leinwand teilt, weint oder lacht man, aber nicht bloß im Sinne eines mimetischen Nachvollzugs, sondern im Bewusstsein der eigenen Emotionalität. Deswegen ist es auch wenig sinnvoll, psychologisch zwischen Kinogefühlen und echten Gefühlen zu unterscheiden. Der emotional angesprochene Zuschauer ist sich bewusst, dass der Film eine Geschichte erzählt, die nicht die eigene ist, aber – im Wunsch, im Traum, in der Imagination – seine eigene sein könnte und insofern eine „temporäre Stundung des Ernstfalls“ ist.

Diese Überlegungen werden mit psychoanalytischen Überlegungen und filmtheoretischen Einsichten untermauert und ausgebaut. Das geschieht auf eine einleuchtende Weise. Der Film hat, so Oberlin, auf die Psychoanalyse geantwortet, nicht umgekehrt. Freud stand dem neuen Medium skeptisch gegenüber, während Pabsts Ufa-Projekt „Geheimnisse einer Seele“ (1926) den mutigen Untertitel „psychoanalytisches Kammerspiel“ trug. Es ist die Logik der Introspektion, die den Film auf seinem Weg in die Psychoanalyse geleitet. Hitchcock hat das gewusst, als er seinen Film „Spellbound“ (1944) als „Geschichte einer Jagd auf einen Mann, eingewickelt in Psychoanalyse“ bezeichnete. Der Film selbst überzeugte die Kritik nicht ganz, aber er ist ein gutes Beispiel für den Austausch der Künste im ‚psychoanalytischen‘ Film. Hitchcock benutzte Bilder von Dalí, um die traumartigen Bilder seiner Darsteller, Ingrid Bergmann und Gregory Peck, in die Logik einer Erzählung zu bringen.

Wie kommen lachende oder weinende Leinwandhelden in die Imagination des Zuschauers? Was richten sie dort an? Und wie ist es um das ästhetische Potenzial der cineastischen Gefühlswelten bestellt? Wir wissen ja, dass Kafka sich einer Visualisierung seiner „Verwandlung“ widersetzte, offenbar weil er dem Emotionsbild misstraute. Aber warum eigentlich? Die neurowissenschaftlichen, die ästhetischen und die filmhistorischen Implikationen des Themas sind längst noch nicht ausgeschöpft. Gerhard Oberlins Buch enthält eine Fülle von Anregungen und Beispielen für weitere Forschungen dazu.

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Gerhard Oberlin: Warum wir lachen. Warum wir weinen. Das Gefühl zum Film.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2017.
235 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783826061240

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