Wir sind alle sterblich

Die Historiker Dietmar Süß und Cornelius Torp skizzieren eine Geschichte der „Solidarität“ vom 19. Jahrhundert bis zur Corona-Krise

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hoch die internationale Solidarität! Das konnte man dieser Tage, im Juni 2022, wieder auf einem Parteitag riechen, auch wenn sich hinter dieser hohlen Phrase viele Putinversteher versteck(t)en (und sich eingedenk alter Proletarier-aller-Länder-vereinigt-euch-Seligkeit echt klasse fühlen durften).

Hier kommt ein Buch (das „nur“ bis zur Corona-Krise geht) gerade recht, das dem Begriff der Solidarität doppelt „schärfere Konturen verleihen“ möchte. Zum einen geht es um eine Begriffsumkreisung, -bestimmung. Das, finde ich, ist nicht immer ganz gelungen, die Konturen verschwimmen mir da manchmal etwas.

Gleichwohl ist die Frage, was denn das sei, Solidarität, richtig: „Ist sie schon da, wenn Steuerzahler den Solidarzuschlag bezahlen oder Klimaproteste auf Twitter gelikt werden? Erleben wir sie am 1. Mai, dem traditionellen Kampftag der Arbeiterbewegung?“ Dietmar Süß und Cornelius Torp, der eine Historiker in Augsburg, der andere in Bremen, meinen also, über Solidarität zu sprechen, könne allerhand bedeuten. Handelt es sich bei ihr um die „Idee einer allgemeinen menschlichen Verbundenheit“, „,Brüderlichkeit’“, etwas woraus sich dann „gegenseitige Hilfe ableiten lässt?“ Ist sie „Integrationskraft von Gesellschaften oder Nationen“, dient sie dem Wohlfahrtsstaat zur Legitimation? Der Begriff der Solidarität leckt an den Rändern anderer Begriffe wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Brüderlichkeit, Altruismus. Aber muss man es sich so schwer machen wie Torp und Süß? Sicher, was historisch in den Bereich dessen, was ‚Solidarität‘ genannt wurde, gehört, hat viele Facetten, eine Begriffs- wie Realgeschichte wird viele Unschärfen aufweisen. Da hätte mir aber eine etwas straffer durchgehaltene Begriffsgenauigkeit geholfen.

Ferdinand Lassalle sprach 1862 von der „Solidarität der Interessen“: weil man im gleichen lausigen Boot sitzt, ist es nicht nur klug, sondern moralisch geboten, sich zusammenzuschließen. Doch waren da, insbesondere im 19. Jahrhundert bei der Entstehung der Arbeiterbewegung, nur weiße männliche Arbeiter gemeint. Das führt auf die zweite Konturierung. Eine Geschichte der Solidarität zeigt, dass es immer wieder direkt oder indirekt um die Frage geht und ging, ob diese partikular oder universell sei. Anders gefragt: mit wem ist man in – womöglich – wechselseitiger Hilfe verbunden? Gruppe? Familie? Mafia-Clan? Nation? Frauen untereinander? ‚Rasse‘? NS-Volksgemeinschaft? (So gab es für Hitler, so eine Aussage im September 1933, eine „,Solidarität, die blutmäßig begründet’“ sei – whatever dieser Stuß may mean).

Es ging also historisch knifflig zu. Klassensolidarität im 19. Jahrhundert? Kaum, es gab keine „Einheitlichkeit der Klassenlage“, die Arbeitsbedingungen in der beginnenden Industrialisierung waren viel zu unterschiedlich. Sicher spielte im Deutschen Reich das Sozialistengesetz zwischen 1878 und 1890 eine nicht unerhebliche Rolle, nicht nur für die Herausbildung einer (mehr oder minder) einheitlichen Sozialdemokratie unter Pressionen, sondern auch einer Art ‚Klassenidentität‘, die dann klar signalisieren konnte, wem Solidarität zu gelten hatte. In Großbritannien dagegen verlief „Solidarisierung entlang relativ eng gefasster Berufsgrenzen in einer Vielzahl von Einzelgewerkschaften“. Und sicher gab es schon im 19. Jahrhundert die Frage nach einer transnationalen Arbeitersolidarität. Aber Erste und Zweite Internationale hin oder her, das waren doch eher lose Verbindungen – und von einer internationalen Solidarität der Arbeiter konnte im Ersten Weltkrieg kaum die Rede sein, wenn sich französische ouvriers, englische workers und deutsche Arbeiter in Schützengräben gegenüberlagen.

Nach dem Ersten Weltkrieg, 1919, wurde der Save the children fund gegründet, der aber, so Torp und Süß, doch einem arg „evangelikal geprägten imperialen Humanitarismus“ verpflichtet war – aber ist diese religiös gefärbte ‚Solidarität‘ nicht doch tendenziell universell(er), wenn sie Menschen als Menschen wahrnimmt, ihnen zumindest idealiter aufgrund ihres Menschseins Hilfe leistet, eingedenk des Wortes von John F. Kennedy 1963: We are all mortal? Oder ist das zu sentimental oder gar heuchlerisch? Betrachtet man die Geschichte der christlichen Religionen, dann wurden oft nicht alle Menschen als Menschen wahrgenommen, sondern nur dann, wenn sie, oft mit brutaler Gewalt bekehrt worden waren.

Fanden sich im Spanischen Bürgerkrieg, um ein weiteres Beispiel anzuführen, in den Internationalen Brigaden nicht Solidargemeinschaften zur Unterstützung der Republik gegen Frankismus und die zunehmende Herrschaft von Diktaturen? Vielleicht. Wie aber kann Solidarität unter dem Druck der Vernichtung aussehen, wie sah sie aus? Das Überleben in nationalsozialistischen KZs hing oft von Akten der Solidarität, gegenseitiger Hilfe, Unterstützung ab. Oft war diese partikular. Wiederum ein Beispiel: Der kommunistische Auschwitz-Überlebende Hermann Langbein „erinnerte sich genau, wem er seine Deportation aus Dachau zu verdanken hatte: einem sozialistischen Kapo und seinen Freunden“. War das der alten Feindschaft zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten geschuldet oder einer partikularen Solidarität, so dass man „nur“ Angehörigen der eigenen Gruppe Hilfe zukommen ließ, weil die Ressource Solidarität so knapp oder durch nationalsozialistischen Druck knapp gemacht worden war?

Nach 1945 öffnen sich die Solidarismen. Zunehmend wurde nicht nur die Solidarität unter ,Gleichen’, sondern die Solidarität „,mit Fremden’“ in den Blick genommen. Im Zuge der Dekolonisierung stellte sich die Frage, „wie sich […] der alte Internationalismus der Arbeiterbewegungen zu den neuen Unabhängigkeitsbewegungen in Afrika und Asien verhalten würde“.

Dass im reinen Ideal der Solidarität auch anders geartete Motive versteckt, verborgen lagen oder verborgen wurden: selbstredend. War es nicht so, dass die Post-68er-Solidarisierung mit zum Beispiel Vietnam, mit Chile nicht auch „das Gefühl einer neu gewonnenen Nähe“ zu Fremden signalisieren sollte – dies aber zugleich, weil man sich ganz gern von den eigenen vom Nationalsozialismus belasteten „Familienvätern“ abwenden wollte. Da fühlte man sich prima, mit den einen solidarisch-verbunden zu sein, die anderen aber nur mit dem Rücken anzusehen. Solidarität als verheuchelte Exkulpierungsstrategie.

Und wie war das mit der „Dritte-Welt-Bewegung“, dem Hype mit den Arbeitsbrigaden in Nicaragua. Spöttisch notieren Torp und Süß, dass diese „Solidaritätsreisen“ halt auch „eine Form exotischer Männerreisen und der Antikapitalismus mit dem Gefühl der Verführung verbunden sein“ konnten: „eine Beobachtung, die auch so manche der Brigadistinnen machte, die vom Machogehabe ihrer männlichen Mitreisenden genervt waren“.

Und wie soll jetzt Solidarität oder vielleicht besser im Plural: wie sollen jetzt Solidaritäten gedacht werden? Auf der einen Seite bedingen globale Migrationsbewegungen, die zum Beispiel 2015 viele Flüchtlinge in die Bundesrepublik brachten, die Frage, wer zur Solidargemeinschaft gehört, die bis dato, aber das ist von gestern, im Wesentlichen national gedacht worden war. Dennoch, so Torp und Süß: „Gründet der Wohlfahrtsstaat auf ein Gefühl  nationaler Verbundenheit, das auf einem hohen Maß an kultureller und ethnischer Homogenität beruht, und legt die Zunahme der Immigration dementsprechend die Axt an seine Wurzeln?“ Aber sorgt nicht unser westlicher hypertropher Lebensstil dafür, dass die Probleme, die wir kurzerhand nach extern verlagerten, jetzt als lebende Menschen zu uns zurückkehren? Können da also MigrantInnen einfach aus der Solidargemeinschaft ausgeschlossen werden, wenn wir ihnen vorher buchstäblich unseren Müll vor die Füße kippten? Wohl kaum. Was also bedeutet Solidarität in einer kleiner werdenden Welt, in der dann, um nochmals auf John F. Kennedy zurückzukommen, bei allen Unterschieden, bei allen unterschiedlichen Interessenlagen gesagt werden muss: at least: we are all mortal.

Die Frage, was Solidarität ist, welche Formen sie annimmt oder nicht annimmt – diese Frage werden wir nicht los. Es ist das Verdienst des Buches von Torp und Süß, hier einen hilfreichen historischen Überblick geliefert zu haben.

Titelbild

Dietmar Süß / Cornelius Torp: Solidarität. Vom 19. Jahrhundert bis zur Corona-Krise.
J.H. Dietz, Bonn 2021.
215 Seiten,
ISBN-13: 9783801206222

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