„Unsere Familie war eher ein Klumpen Geschichten“
Die Erzählerin und Historikerin Dana von Suffrin (geb. 1985)
Von Irmela von der Lühe
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer bei seinem Erscheinen im Jahre 2019 Dana von Suffrins Roman Otto aufmerksam gelesen hatte, konnte auf einen zwar beiläufigen, literarisch und autobiographisch aber durchaus relevanten Hinweis zur Person der Erzählerin stoßen. Die Ich-Erzählerin Timna, Tochter des pensionierten, inzwischen schwer kranken Ingenieurs Otto, wird zum wiederholten Male von ihrem autoritär-skurrilen Vater mit der „schöne[n] Bitte“ konfrontiert, sie möge doch nun endlich seine und die Geschichte seiner Familie aufschreiben. Als „würdige Chronistin der Familiengeschichte“ sei sie schon deswegen ausgewiesen, weil sie „so schön Deutsch“ spreche, schnell mit „fünf oder sechs Fingern tippen“ könne und soeben ja bereits ein Buch fertig gestellt habe. Dafür habe sie mehrere Jahre lang ein Stipendium erhalten; nun gehe es darum, „die ganze Geschichte zu kennen“. Auch habe die Tochter viele „solcher“ Bücher im Regal stehen; sie wisse mithin, wie man das mache und überdies sei er, der Vater, „schwer“ krank und „nur der Gedanke an seine Geschichte gebe ihm noch Lebenswert“.
Schnell entpuppt sich die „schöne Bitte“ des Vaters als veritable Erpressung, als einer jener Befehle, mit denen er auch in anderer Hinsicht seine Töchter überzieht. Die groteske Konstellation wird um die ebenfalls kaum „realistisch“ zu nennende Mitteilung erweitert, dass die Tochter dem „Wunsch“ des Vaters schließlich folgt, als ihr wenige Tage später von ihrem Professor mangelnder „Arbeitseifer“ vorgehalten und nahegelegt wird, sich um eine andere Stelle zu bemühen. Per „Aufhebungsvertrag“ endet Timnas „bezahlte Elternzeitvertretung am Sonderforschungsbereich für spätscholastische Mystik“.
Die so gewonnene Zeit widmet sie der Geschichte einer/ihrer Familie, die sich freilich nicht „als Epos vom Suchen, Verlorengehen und Wiederfinden“ darstellt und auch nicht damit endet, dass „eine brave rotbäckige Familie die Ellbogen auf den Küchentisch stützte und zuversichtlich in die Zukunft blickte“. Eben ein solches Bild zwischen Idylle, Kitsch und absurder Normalität wünscht sich der Vater angeblich gezeichnet. Bereits als sie noch klein waren, hatte er seinen Kindern davon erzählt, wie seine Eltern zu Beginn des Ersten Weltkrieges aus ihrem galizischen Schtetl vor den Pogromen nach Wien geflohen waren, wie sich dabei Timnnas Großeltern auf märchenhaft zufällige Weise zunächst begegneten und später wiederfanden. Der Großvater war und blieb ein Verehrer der Habsburger Monarchie, ein „richtiger Österreicher“ und ein „unverbesserlicher Assimilant“. Beides blieb er auch noch nach seiner Übersiedlung nach Siebenbürgen, wo im März 1938 Timnas Vater Otto geboren wurde. In Kronstadt lebten die Großeltern als angesehene Bürger, hatten eine Villa und ein Auto, in der Lokalzeitung war eine große Geschichte über sie geschrieben worden. Nach Meinung des Sohnes, der es seinen Töchtern immer erneut einprägte, war dies eine wahrlich schöne Geschichte, ein „idealer Romanbeginn“.
Genau den freilich verwirft die Tochter mit dem Argument, es handele sich um bloßen Kitsch, überdies könne sie kein Ungarisch. Die ablehnende Antwort an den Vater wird von einem innerliterarischen Kommentar begleitet, der die erzählerischen Herausforderungen des schließlich doch entstehenden Vater- und Familienbuches nüchtern konstatiert: „Das war sie also, die schönste, anrührendste und lehrreichste Geschichte, die meine Familie überliefert hatte. Gleichzeitig war sie leider auch eine der wenigen Geschichten mit einem Anfang und einem Höhepunkt und einem Ende und wohl die einzige, die Otto zusammenhängend zu erzählen vermochte“. Die 40er Jahre brachten die Katastrophe für die Kronstädter Juden, für alle Juden im Grenzraum zwischen Ungarn, Rumänien und der Ukraine: „Länder, von denen wir Schwestern nur dank des Eurovision Song Contest eine Vorstellung hatten: Die Völker der einstigen Judenschlächter waren jetzt mit Eurodance beschäftigt“.
Wann immer die Tochter ihren Vater zu „Erinnerungstreffen“ aufsucht, um seine meist unzusammenhängenden Erzählungen auf ihrem Handy zu sichern, kommt es zum Streit. Der Vater bringt Jahreszahlen durcheinander, erfindet ein reiches Elternhaus oder nicht existierende Gebirgsketten in den Karpaten, während die Tochter insistiert, dass nicht sein könne, was er behauptet. Unaufwändig, aber prägnant spielen Erzählerin und Historikerin in solchen Passagen mit dem vieldiskutierten Antagonismus zwischen Dichtung und Wahrheit; dass Ottos „Vergangenheit“ nicht „wirklich die Vergangenheit“ war, erklärt die Erzählerin mit einem wiederum erzähltypischen Grundsatz, den der Vater selbst in Anspruch nimmt. Wie „alle Siebenbürger und alle Siebenbürger Juden“ könne er über Rumänien nur „romanciert“ erzählen: „Er konnte Gegebenheiten […] nicht einfach aneinanderreihen und versuchen, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Es war Aufgabe seiner Zuhörer, Ordnung in seine Erzählungen zu bringen. Mein Vater sagte: Ich rede hin, ich rede her, so ist das bei uns!“. Der Vater erzählt unzusammenhängend und gegen jede historische oder chronologische „Wahrheit“, er verliert den Faden; aber „seine schönen Augen wurden beim Erzählen noch dunkler“. Auch für die Erzählerin und Chronistin lösen sich Person und Geschichten des Vaters voneinander; so wie er plötzlich müde wird und verstummt, sucht sie nach Anknüpfungsmöglichkeiten, verliert sich in eigenen Assoziationen. Ob die Tochter sich wirklich je würde vorstellen können, wie sein Leben gewesen ist, bezweifelt der Vater durchgehend; dem Zweifel antwortet die Tochter mit dem Appell, in seiner Erzählung fortzufahren. Und die Erzählerin selbst plagen Zweifel, ob es ihr je gelingen werde, das Gehörte zu ordnen, das Geschehene in eine Reihenfolge zu bringen. Auch wenn sie daran zu scheitern droht, gibt sie den Versuch nicht auf. Freilich ändert sie den Blick auf das gesamte Projekt. Sein unzuverlässiges, unkontrolliertes und unvollständiges Erzählen macht aus der Familiengeschichte in ihrer Sicht einen „Klumpen Geschichten“, mehr noch: „Sämtliche Geschichten hingen miteinander zusammen, und Ottos Geschichte war für uns schon immer so wichtig, als hätten wir sie selbst miterlebt. Das Dumme an den Geschichten war, dass sie fast alle schlimm endeten. Sicher, Otto war jedes Mal mit dem Leben davongekommen, aber ich war mir nicht sicher, ob das nun eine gute oder eine schlechte Sache gewesen war. Fest stand: Dieser Familie konnte man nicht entkommen“.
Stets ist sich die Erzählerin dessen bewusst, dass sie von einer „untergegangenen Welt“, einer „verlorenen Kultur“ zu erzählen hat; von einer Welt, in der „alles sehr traurig und sehr schlicht gewesen war, die Welt schwarz-weiß und das Wetter meist schlecht (im Schtetl schien nie die Sonne) und die Leute sich an den Mauern entlangdrückten, um schnell, schnell zu irgendeinem Familienmitglied zu gelangen, das wegen irgendeiner Infektionskrankheit im Sterben lag“. Ordnung ins väterliche Erzählchaos zu bringen, die ostjüdische Herkunftsgeschichte der väterlichen Familie zu vergegenwärtigen, ohne sich der Verführungskraft von Klischees und Topoi zu überlassen: Dieser sachlich und kompositorisch schwierigen Aufgabe unterzieht sich die Erzählerin und Tochter im Rückgriff auf Bücher und Bilder, auf Fotos und Filme, freilich niemals in der Absicht, eindeutige Befunde und definitive Ergebnisse mitteilen zu können. Gelegentlich übernimmt sie dabei implizit das Prinzip des Vaters, der dem erlebten Geschehen und dem gelebten Leben mit der Unbedingtheit seiner Person begegnet und dies durch die Tochter bestätigt bekommen will.
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Bereits einleitend, sodann im dreizehnten der insgesamt 33 Kapitel des Romans legt die Autorin Dana von Suffrin ihrer Ich-Erzählerin Timna einen aufschlussreichen autobiographischen Hinweis in den Mund. Er betrifft nicht nur die bereits erwähnten Umstände der Entstehung ihres Romans, er enthält auch nicht nur eine folgenreiche Mitteilung über die Darstellungsprobleme einer geplanten Familienerzählung; er verknüpft auf lakonisch markante Weise Autobiographie und Roman. Und dies im offenbar bewussten Spiel mit dem vielzitierten autobiographischen Pakt und dem Paradigma der Autofiktion.
Denn tatsächlich arbeitet die Erzählerin, Hörspiel- und Romanautorin Dana von Suffrin seit einigen Jahren an der LMU als Historikerin. Im gleichen Jahr, da ihr hochgelobter, binnen kurzem preisgekrönter und vom Bayerischen Rundfunk in ein Hörspiel (2021) gebrachter Debütroman über ihren Vater erschien, publizierte der Verlag Mohr Siebeck ihre zwei Jahre zuvor abgeschlossene Dissertation. Sie widmet sich unter dem griffigen Titel „Pflanzen für Palästina“ in der Figur Otto Warburgs (1859–1938) den „Naturwissenschaften im Jischuw“ – einem wenig erforschten Thema aus der Frühgeschichte des Zionismus, speziell der „Botanischen Zionisten“. Zum zionistischen Projekt, in Palästina eine Heimstatt für die Juden aus der ganzen Welt, einen sicheren Ort vor Verfolgung und Pogromen zu schaffen, gehörte seit Beginn des 20. Jahrhunderts die mit wissenschaftlichen Mitteln zu verwirklichende Vision von der Transformation der öden Wüste in einen fruchtbaren und blühenden Garten. Um Produktivität und Nachhaltigkeit zu garantieren, organisierten Otto Warburg und seine Mitstreiter (darunter die Kolonialbotaniker Selig Soskin, Aaron Aaronsohn sowie der Chemiker und spätere erste Präsident Israels, Chaim Weizmann) Experimente und Expeditionen. Naturwissenschaftliche Forschungen und landwirtschaftliche Erkundungen sollten die Anpflanzung europäischer Getreide-, Gemüse- und Obstsorten, die systematische Aufforstung und Urbachmachung des Landes vorantreiben. Die gern belächelten und bisher nicht systematisch erforschten „Botanischen Zionisten“ verfolgten mithin ein wissenschaftliches und zugleich ein politisch-ideologisches Projekt, das seine Ideen und Visionen auch aus der deutschen und europäischen Kolonialbewegung bezog. All dies rekonstruiert die Historikerin Dana von Suffrin materialreich, quellengestützt und mit Sinn für amüsante und höchst folgenreiche Details; letzteres betrifft vor allem die „Entdeckung des Urweizens“. Zugleich berichtet sie von den inner-zionistischen Kontroversen über das Verhältnis zwischen (Natur)Wissenschaft, Politik und Ideologie; von Forschungsvorhaben im Spannungsfeld von Siedlungsplänen und Zukunftsvisionen.
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Ob und wenn ja inwiefern im historischen Studium eines unerforschten, aber – wie sich schnell zeigt – höchst brisanten Themenfeldes Vorbedingungen oder gar Vorformen für eine romanhafte Erkundung der eigenen Familiengeschichte liegen, also für ein literarisch-autobiographisches Porträt des eigenen Vaters im Horizont der jüdischen Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts und im Bewusstsein der chaotisch-komischen und zugleich grotesk-traurigen Bedingungen einer Kindheit und Jugend als „jüdische Millennial“, muss kaum erörtert werden.
Ob der Vorname des berühmten Professors und Kolonialbotanikers aus berühmtem Hause zur Vorlage für die Namensgebung der Titelfigur ihres Romans wurde, darf ebenfalls getrost dahingestellt bleiben. Offenkundig ist die Faszination der Autorin für „andere“ Formen der Vergegenwärtigung der Vergangenheit. So wird aus ihrer Beschäftigung mit dem Konitzer Mordgeschehen im Jahre 1900, einem der größten antisemitischen Exzesse im Kaiserreich, nicht etwa ein wissenschaftlicher Aufsatz, sondern ein Hörspiel (BLUT) für den Bayerischen Rundfunk, in dem die in historischen Quellen und Prozessakten dokumentierte Pogromstimmung gegen die jüdische Bevölkerung direkt hörbar wird.
Hingegen ist die romaninterne Verknüpfung zwischen der fertiggestellten historiographischen Dissertation und dem väterlichen Wunsch, die Tochter möchte nun dafür sorgen, dass man die „ganze“ Geschichte kenne, für das erzählerische Verfahren des Romans bestimmend. Das zeigt sich stilistisch und inhaltlich, denn der phasenweise chronologisch, aber überwiegend episodisch erzählte Roman über einen aus Siebenbürgen stammenden Juden ruft Lebensgeschichten auf, die als unzusammenhängend annonciert werden und deren Zusammenhang mit der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts doch fraglos ist. Ihr Protagonist und nicht nur heimlicher Held erscheint als ebenso tragische wie komische, als Figur voller Marotten und Unverträglichkeiten. Mit seinen Eltern hatte er 1962 Kronstadt verlassen, für zwanzig Jahre in Haifa gelebt und in vier Kriegen „seine neue israelische Heimat verteidigt“. Um einer unglücklichen Ehe zu entkommen, geht er nach Deutschland, zunächst ins Rheinland, „wo die kleine jüdische Nachkriegsgemeinde ihm neue Frauen vorzustellen“ begann. Aus knappen, aber anschaulichen Episoden lässt die Erzählerin das Bild eines Vaters entstehen, der zugleich cholerisch und fürsorglich, unberechenbar und bedingungslos in der Liebe zu seinen Töchtern ist. Er beschimpft und bevormundet sie ebenso, wie er ihnen mit seiner Angst vor Verarmung, seinem Hass auf Verschwendung aller Art, seiner Vorliebe für billige Gerichte, übelriechende Polyester-Kleidung und seine Sammlung von Uhren aller Art auf die Nerven geht.
Kindheit und Jugend der Töchter sind – so eines der Leitmotive des Romans – von Chaos und Aberwitz, von Streit, Trennung, Alkoholismus und schließlich dem Tod der Mutter geprägt. Schon im achten Kapitel („Wir greisen Kinder“) findet die Erzählerin dafür ein besonderes Bild. Es zeigt den Vater in früher Kindheit im Matrosenanzug, aber schon mit „Halbglatze, er ist nämlich zugleich auch schon ein Greis“. Die Tochter bringt das zu der Einsicht, dass auch sie und ihre Schwester „greise Kinder gewesen seien, alte Menschen in Micky-Maus-Kleidern, die zu viel ahnten vom Gang der Welt und von den Dingen, die hinter jedem Jahr lauerten, denn auch wenn alle Erwachsenen immer nur Andeutungen machten, hatten wir begriffen, dass unsere Familie viel zu klein war, dass uns überall der Tod nachstellte, dass nichts zusammenpasste; und dann waren aus greisen Kindern einfach kindische Erwachsene geworden“.
Die Töchter durchlaufen eine „moralische Erziehung“ (Kap.12), die diesen Namen kaum verdient: Die Mädchen klauen und lügen, sitzen stundenlang ungehindert vor dem Fernseher, ernähren sich ungesund und kommen doch irgendwie durch. An keiner Stelle kippt der Text in eine sozialkritische Milieustudie über Kinder in latent asozialen Verhältnissen. Im Gegenteil: Welch chaotisch-irreale Situation die Erzählerin auch immer aufbietet – niemals wird mit erhobenem Zeigefinger, niemals im Ton retrospektiver Empörung über eine verlorene Kindheit oder vorenthaltene Bildungschancen erzählt. Der Vater, Ingenieur und Professor für „spröde Kunststoffteile“ an einer Fachhochschule in München, zögert nicht, die „schlammgrünen Vorhänge“ aus seinem Büro zu stehlen, zu Hause in Umzugskartons zu legen und auf diese Weise für die Aussteuer seiner Töchter, die noch im Kindergartenalter waren, zu sparen. Er wird noch bis in sein hohes Alter den Töchtern entgegenschleudern „Ihr könnt ganz alte Kühe werden, für mich seid ihr Kinder“ und er wird bis kurz vor seinem Tode die Liste der jüdischen Nobelpreisträger seit 1901 aktualisieren; mit Vergnügen darauf verweisen, dass es in der Physik zwanzig Prozent jüdische Nobelpreisträger gibt und daraufhin die Tochter fragen: „Und jetzt, Timna, sage mir […], ist es besser zum Volk der Täter oder zum Volk der Opfer zu gehören?“
In rascher Folge erlebt man ein groteskes Bühnengeschehen, das im väterlichen Wohnwagen, in der Hitze der großelterlichen Wohnung in Haifa, im Penthause des Olympischen Dorfes in München oder im Reihenhaus des Vaters in Trudering, schließlich im Krankenhaus, in dem der Vater stirbt, abläuft. Ob im Büro oder in der Wohnung des Vaters, ob in Anwesenheit seiner Frau oder seiner ungarischen oder rumänischen Betreuerinnen, der Töchter und ihrer Freunde: Otto lässt seinen Gedanken und Prinzipien, seinen ausgefallenen Ideen und spontanen Einfällen stets freien Lauf. Von den ihn behandelnden Ärzten im Krankenhaus spricht er als „Schweinehunden“, über den „Scheißantisemitism“, der Ampeln im Straßenverkehr auf Rot springen lässt, wenn ein Jude am Steuer sitzt, empört er sich lautstark, und „mit feierlicher Stimme“ doziert er über die „antibiotikaresistenten Keime in seinem Urin“. Für die Ich-Erzählerin wird all dies zur Fundgrube lakonischer Kommentare, aber immer wieder liebevoller Erinnerungen.
Dem Szenischen entspricht das Episodische der Erzählung; stets dicht an der Übertreibung, stets mit dem Risiko kalkulierend, es könne in Wortwahl und Motivik der Bogen des schwarzen Humors überspannt werden. Dass die Erzählerin die Balance zu halten vermag zwischen Grotesk-Komischem und Traurig-Abgründigem, dass sie philosophisch-identitätspolitischer Absicherungen und Belehrungen nicht bedarf, vielmehr im Furor ihres Sprachwitzes und einer gelegentlich selbstparodistischen Relativierung gleichsam alle Register dessen zu ziehen vermag, was sie in der Geschichte des „jüdischen Witzes“ (Salcia Landmanns berühmte Sammlung Der jüdische Witz, 1960, steht in Ottos Bibliothek!) und in den großen jiddischen Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts findet, diese ebenso unprätentiöse wie originelle Rückbindung an Traditionen jüdischen Erzählens gehört zu den Besonderheiten dieses jüdischen Vater- und Familienromans aus der Feder einer ebenso originellen Historikerin wie klug-amüsanten Erzählerin. Auf den für März 2024 angekündigten neuen Roman Noch mal von vorne darf man sich freuen.
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Von der absichtsvollen Verschränkung zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen Roman und Lebensgeschichte, Fakten und Fiktionen handelt Dana von Suffrins Werk implizit und unprogrammatisch. Der nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober in Deutschland aufflammende Antisemitismus hat die Autorin veranlasst, ihren Vater und ihre Romanfigur in einem Essay für den Spiegel (13.11.2023) programmatisch zu zitieren. Das autofiktionale Spiel ist von der politischen Situation überholt worden. Damit wird eine romanintern noch humoristisch grundierte Angewohnheit des Vaters zum Zeugnis gegen die reale, im Modus poetischer Ambivalenz nicht länger zu neutralisierende Bedrohung:
Dass dieses Land ein Problem hat, wussten jüdische Millennials schon immer. Und doch haben wir gelacht, wenn unsere Eltern zur Vorsicht mahnten. Wie groß unser Fehler war, zeigen die Hasswellen im Netz – vor allem die aus der linken Ecke […].
Jüdische Millennials haben sich meist sehr genau mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt. Wie auch nicht? Sie haben wegen der Schoa oft sehr kleine Familien. Die meisten sind mit Eltern und Großeltern aufgewachsen, die die merkwürdigsten Angewohnheiten hatten. Mein Vater etwa, Jahrgang 1936, lief bis zu seinem Tod 2018 immer mit einem Täschchen mit kopierten Ausweisen und Geburtsurkunden seiner drei Töchter herum – sollte er auf dem Weg zur Arbeit überraschend deportiert werden, wollte er auf deutsche bürokratische Hürden vorbereitet sein. Ja, die Gedankenwelt von Juden und Jüdinnen ist eine andere. Seit dem Hamas-Terroranschlag wissen wir wieder, wieso wir ständig von Gewalt und Reiterhorden und Leichenbergen träumen. Das Deutschland, vor dem unsere Eltern uns immer gewarnt haben, ist genau so, wie sie es uns beschrieben haben.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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