Endstation Claremont Hotel

Elizabeth Taylor erzählt von Altersbeschwerden, langen Sonntagnachmittagen und abwesenden Verwandten

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hotels sind Sehnsuchtsorte, hier lässt sich der Alltag vergessen und Energie tanken für alles, was da kommen soll. Dass ein Hotel jedoch zur letzten Stätte vor dem Tod wird, ist eher ungewöhnlich. Doch genau ein solcher Ort ist das Claremont Hotel in London, in das Mrs Palfrey, eben verwitwet und aus dem Ausland zurück, wo sie lange gelebt hat, an einem regnerischen Sonntagnachmittag einzieht. Die Anzeige hat sie zufällig gefunden, „als sie bei ihrer Tochter Elizabeth in Schottland zu Besuch gewesen war. Herabgesetzte Winterpreise. Hervorragendes Essen. Das dürfte wohl mit Vorsicht zu genießen sein, hatte sie gedacht.“

Dass sie gegenüber den Versprechungen, insbesondere jenen, die «hervorragendes Essen» in Aussicht stellen, skeptisch bleibt, sollte sich bald schon als durchaus zutreffend erweisen. In ihrem Zimmer eingetroffen, fühlt sie sich wie ein Häftling, der das erste Mal in seiner Zelle allein gelassen wird. Der Blick aus dem Fenster tut das Seine dazu: nichts als eine weiße Backsteinmauer und eine schmiedeeiserne Feuerleiter. „Diese Aussicht – besonders an diesem schon dunkler werdenden Nachmittag – war entmutigend.“

Doch Mrs Palfrey gibt nicht so schnell auf. Dass sie nicht bei ihrer Tochter hätte bleiben wollen, war allen klar. In London will sie sich am kulturellen Leben beteiligen, und sie hofft auf Besuch ihres Enkels, der im Britischen Museum in der Nähe arbeitet. Denn das lernt sie schnell: Die Bewohnerinnen gewinnen an Ansehen, wenn sie Besuche bekommen und insbesondere liebevoll umsorgende Familienangehörige vorweisen können.

In der Altenabteilung des Claremont (das auch Zimmer für Hotelgäste anbietet) trifft sich eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft. Neben Mrs Palfrey sind da Mrs Burton, die sich mit Sherry die gute Laune bewahrt, die schüchterne und zurückhaltende Mrs Post, Mrs Arbuthnot, die den ersten Rang unter den Frauen verteidigt. Mr Osmond, der einzige Mann und ein Griesgram, der seinem Unmut in unzähligen Leserbriefen Ausdruck verleiht, hält zu den älteren Damen eher Distanz – wie sie zu ihm auch –, bis er sich einmal Mrs Palfrey annähert, was nicht gut ausgeht. Um nicht allein in ihren Zimmern zu bleiben, warten sie alle gemeinsam. Zufällig – so machen sie sich selbst vor – finden sie sich ein, um die Speisekarte zu studieren. Rechtzeitig kommen sie in den Salon, um fürs Essen bereit zu sein. Näher kommt man sich nicht wirklich, umso argwöhnischer sind die gegenseitigen Blicke. Wenn Mrs Palfrey davon erzählt, wie sie demnächst Besuch von ihrem Enkel erwartet, wird diese Nachricht begierig aufgenommen, um in der Folge immer wieder nach diesem Enkel zu fragen. Die Verwunderung, dass er immer noch nicht aufgetaucht ist, verwandelt sich rasch in unterschwellige hämische Freude.

So trifft es sich letztlich gut für Mrs Palfray, dass sie auf einem ihrer Spaziergänge stürzt und von einem jungen Mann gefunden wird, der sich um sie kümmert. Ludo, der eigentlich Ludovico heißt, lebt als Jungautor in bescheidenen Verhältnissen und verbringt seine Tage vor allem im Winter meist in der Banking Hall des Kaufhauses Harrods, um in seiner Souterrainwohnung Heizkosten zu sparen. Dass er ein ebenso angespanntes Verhältnis zu seiner Mutter hat wie Mrs Palfrey zu ihrer Tochter, verbindet die beiden. Bald schon entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit: Mrs Palfrey gibt Ludo als ihren Enkel aus und bekommt endlich die gebührende Aufmerksamkeit. Ludo seinerseits nutzt bei seinen Besuchen die Bewohnerinnen des Claremont als Inspirationsquelle für seinen Roman, den er im Altenmilieu angesiedelt hat. Kompliziert wird es zwar, als der wirkliche Enkel auftaucht, doch alle meistern diese Herausforderung bravourös. Wie sie überhaupt so manches auf die Reihe kriegen.

Altwerden ist nicht leicht. Das macht Elizabeth Taylor in ihrem Roman auf jeder Seite deutlich. Dabei verzichtet sie auf plakative Darstellungen und konzentriert sich auf die subtilen Veränderungen, die irgendwann nicht mehr zu übersehen sind. Vereinsamung ist ein Thema, Abhängigkeit, Verlust des Ansehens ebenso wie der körperlichen und teils auch geistigen Gesundheit. Der Roman Mrs Palfrey im Claremont ist 1971 erschienen und stand damals auf der Shortlist für den Booker Prize. 2005 wurde er verfilmt mit Joan Plowright und Rupert Friend in den Hauptrollen. Es ist der zweitletzte der zwölf Romane, die Elizabeth Taylor (1912–1975) geschrieben hat. Dem Dörlemann Verlag in Zürich ist es zu verdanken, dass bis heute vier ihrer Romane in der überzeugenden Übersetzung von Bettina Abarbanell erschienen sind. Es sind literarische Entdeckungen, vielschichtig in den Themen, very british, mit fein gezeichneten Figuren und hintergründigen Geschichten.

Titelbild

Elizabeth Taylor: Mrs Palfrey im Claremont.
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell.
Dörlemann Verlag, Zürich 2021.
256 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783038200840

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch