Emotion und Analyse

Ece Temelkurans Essay „Wille und Würde“

Von Hannes KraussRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannes Krauss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ece Temelkuran ist nicht nur eine erfolgreiche Romanautorin und couragierte Journalistin, sondern auch eine scharfsinnige Analytikerin der politischen Gegenwart. Sie hat Romane (über eine Kindheit in der Türkei und über vier außergewöhnliche Frauen im arabischen Frühling) geschrieben, sie hat eine Reihe von Sachbüchern verfasst (über Lateinamerika, Armenien oder das Leid der Kurden) und sie schreibt regelmäßig Kolumnen und Reportagen für den Guardian, die New York Times oder den Spiegel. International wird sie hochgeschätzt, zuhause wurde sie angefeindet und mit Berufsverboten belegt und musste deshalb vor ein paar Jahren ihre türkische Heimat verlassen und ins kroatische Exil gehen. Auch von Zagreb aus ist sie meist unterwegs – im Libanon, im Nordirak, in Nordafrika. Dabei begnügt sie sich nicht mit der Rolle der Beobachterin, sondern lebt zeitweise unter denen, über die sie schreibt (ethnische Minderheiten, unterdrückte Frauen und andere). Eine Kosmopolitin, die sich einlässt auf das, was sie sieht. Ihre Energie ist so eindrucksvoll wie die Vielfalt ihrer Schreibweisen. Im Gespräch meinte sie einmal, Journalismus sei für sie eine Form des Ärgers, mit Romanen begegne sie ihrer Furcht und Gedichte entstünden, wenn sie zu verstummen drohe.

Im Juli 2023 ist sie fünfzig geworden, aber verstummt ist sie noch lange nicht. Bis heute hat sie mehr als ein Dutzend Bücher veröffentlicht, zuletzt zwei Sachbücher in englischer Sprache, die man als politische Manifeste bezeichnen kann. Allerdings sind sie nachdenklicher und weniger selbstgewiss als vieles, was sonst unter dieser Rubrik firmiert. 2019 erschien der – mittlerweile in zahlreiche Sprachen übersetzte – Essay Wenn dein Land nicht mehr dein Land ist oder Sieben Schritte in die Diktatur“ (vgl. literaturkritik.de 9/2019), im vergangenen Jahr folgte Wille und Würde. Wer sich vom dröhnenden Titel nicht abschrecken lässt, wird belohnt mit einem inhaltsschweren, leicht lesbaren Mutmacher in resignationsfördernder Zeit. Entstanden ist das Buch noch vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs, aber die Ereignisse der letzten anderthalb Jahre haben es weder obsolet noch überflüssig gemacht. Diese „Zehn Wege in eine bessere Zukunft“ (so der Untertitel) bieten keine Patentrezepte zur Lösung aktueller Krisen, aber sie werben für eine Haltung, die hinter Diskussionen über Waffensysteme und militärische Strategien in Vergessenheit geraten ist oder marginalisiert wurde.

Temelkurans Plädoyer für den „Glauben an die Menschheit“ ist der ambitionierte Versuch, aus persönlich (mit)erlebten Krisen Lehren für ein zukunftsorientiertes Denken zu ziehen. Da ihr religiöse Heilsgewissheiten fremd sind, wirbt sie für Vertrauen in die Tradition der europäischen Aufklärung. Das erinnert an Obamas „we can“, ist aber näher am Leben derer, über die sie schreibt (die irakische Prostituierte, die kroatische Nachbarin, das Kind aus der eigenen Verwandtschaft).

Temelkuran reflektiert Gesehenes und Erlebtes und reichert es mit theoretischem Wissen an. Sie gibt sich nicht zufrieden mit resignativer Einsicht in die Veränderungsresistenz der Verhältnisse, sondern schreibt gegen Gewöhnungen an. Kapitelüberschriften wie „Glaube statt Hoffnung“, „Die Angst als Freund“, „Würde statt Stolz“, „Stärke statt Macht“, „Genug statt weniger“ mögen wie plakative Slogans klingen, aber dieser Text zieht konkrete Schlüsse aus realen Erfahrungen. Zwar attestiert die Autorin dem Journalismus „moralische Annehmlichkeit“, weil er „sich nicht auf eine bestimmte Seite stellen“ müsse, aber ihr eigenes Schreiben ist keineswegs neutral. Sie will nicht „passives Warten“ illustrieren, sondern „aktives Selbstvertrauen“ befördern. Auch zu eigenen Ängsten bekennt sie sich, weil nur so „Stärke“ entstehen könne, die man zwar nicht sehe, weil sie im Unterschied zur „Macht“ „nicht aus aufgepumpten Muskeln“ bestehe, die dafür aber dauerhaft funktioniere. An die Stelle von „Wut“ müsse „Aufmerksamkeit“ treten. Mit solchen Begriffen werden keineswegs die Ursachen von Krisen und Konflikten vernebelt. Selbstkritisch bekennt Temelkuran ihre frühere Ignoranz in Wirtschaftsfragen und gesteht, dass auch sie sich als Journalistin lange Zeit eher für „ethnische, sexuelle und religiöse Identitätskonflikte“ interessiert habe, weil die „wesentlich bunter [waren] als die verblassenden sepiabraunen Bilder des Klassenkonflikts“. Mit Hilfe des französischen Ökonomen und Kapitalismuskritikers Thomas Piketty (Das Kapital im 21. Jahrhundert) versucht sie nun, dieses Defizit zu beheben.

Temelkurans Essay ist – Kapitelüberschriften wie „Freundschaft“ oder „Miteinander“ zum Trotz – kein Brevier, das an das Gute im Menschen appelliert, sondern eine originelle Auseinandersetzung mit der westlichen Gesellschaftsordnung. Auf den ersten Blick ist es ein Sachbuch, aber die Unterscheidung zwischen Journalismus und Roman funktioniert bei dieser Autorin nicht. Ihre Romane sind lebendige Reflexion, in ihren Essays wird sie zur “Geschichtenerzählerin“. Wenn sie schreibt, „dass die Angehörigen der Menschheit und deren individuelle Menschlichkeit nicht verloren sind, so lange sie sich an das Rettungsfloß der Liebe klammern“, mag das pathetisch klingen, aber pathetisch ist dieses Buch keineswegs. Es ist eine kritische Gesellschaftsanalyse – den Prinzipien der Aufklärung verpflichtet und mit Emotion präsentiert.

Geht so weibliches Schreiben? Diese Frage führt auf dünnes Eis, deshalb konkreter: Temelkuran hat keine Scheu, Gattungsgrenzen zu überschreiten. Sie agitiert nicht, sie ist nie rechthaberisch, sie denkt und argumentiert in Geschichten. Sie verbindet Analyse mit Empathie und stiftet zum Nach- und Weiterdenken an – und auch zum Widerspruch. Beim Thema Internet beispielsweise, in dessen basisdemokratischen Nutzen sie (zu?) große Erwartungen setzt.

Der deutsche Titel verspricht etwas, das er zum Glück nicht hält. Dieses Buch ist kein Leitfaden, den man Punkt für Punkt abarbeiten kann, um sich im chaotischen Alltag wieder wohlzufühlen. Es ist ein Mutmacher – zusammengefügt aus Erinnerungen, Erfahrungen und Reflexionen. Vor allem aber ist es ein Appell, nicht aufzugeben. Eine wörtliche Übersetzung des englischen Originaltitels Together (also „Miteinander“ – so auch die Überschrift des letzten Kapitels) hätte den Charakter des Buches besser getroffen.

Das Buch ist eine Aufforderung zur Einmischung. So, wie es die Autorin selbst macht – in kritischen Spiegel-Essays zur Lage in der Türkei, in Workshops beim „re:publica-Festival für die digitale Gesellschaft“, in ihrem Facebook-Netzwerk „letters from now“. Und bis vor Kurzem war sie Fellow am Hamburger „New Institute“, einer privat finanzierten Denkfabrik, in der Wissenschaftler*innen aus den unterschiedlichsten Disziplinen nach „Antworten für die drängendsten Fragen unserer Zeit suchen“. Zusammen mit einer indischen Politologin, einer Berliner Sozialwissenschaftlerin, einem Londoner und einem Duisburger Ökonomen, einem Politikwissenschaftler aus Cambridge und einem Gießener Sozialwissenschaftler bildete sie dort die Arbeitsgruppe „Zukunft der Demokratie“.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ece Temelkuran: Wille und Würde. Zehn Wege in eine bessere Gegenwart.
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2022.
192 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783455011692

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