Die Erzählung des Zufalls: Sebastian Thede analysiert in „Hasard-Schicksale“ literarische Glücksspielszenen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWer die großen und kleinen Zufälle des Lebens betrachtet, bemerkt schnell das Begehren, ihnen in der Reflexion mehr oder weniger magisch einen höheren Sinn zuzuschreiben – und sei es, dass dieser nur im Bezeugen ihrer Extravaganz besteht. Narrativisierungen trachten danach, das Kontingente und Zufällige zu eliminieren. Diese augenscheinliche Opposition zwischen epischem Faktum und der Möglichkeit von Zufall erzeugte insbesondere in den differenzierten Erzählverfahren der Moderne eine auffällige Beschäftigung mit Konzepten wie Kausalität, Determinismus oder Schicksal im Zusammenspiel mit dem Unbegründeten des Zufälligen. Es sei genau diese Auseinandersetzung, so die argumentative Ausgangsposition in Sebastian Thedes Hasard-Schicksale, anhand derer entsprechende literarische Traditionen eine ihrer signifikanten Finessen aufzeigen.
Der Band analysiert, inwiefern sich Erzählung gerade durch das Zufällige und in Formen der Kontingenzmaximierung konstituiert. Als Fokusmaterial wird mit dem Hasardspiel diejenige kulturelle Praxis isoliert, die das kontinuierliche, fließbandartige Produzieren zufälliger Ereignisse zu ihrem alleinigen Inhalt erhebt und darin auch verdichtet. Anhand von Lektüren einschlägiger Glücksspielprosa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – von E.T.A. Hoffmann über Honoré de Balzac und Fëdor Dostoevskij bis hin zu Arthur Schnitzler – wird eine Evolution literarischer Schicksale im Hasard abgebildet. Die angegliederten ökonomischen und erkenntnistheoretischen Debatten erfahren dabei in ihrer Assoziation mit dem Glücksspiel eine entscheidende Ummünzung: Durch die Übersetzung des eiskalten Zufalls arretierter Rouletteräder und gefallener Würfel in die sozialen und psychologischen Umstände des spielenden Individuums wird das kontingente Ereignis zugleich historisch und systematisch beziehungsweise sozioökonomisch und epistemologisch brisant. Die literarische Verrechnung von Zufällen avanciert mithin zum narratologischen Ereignis selbst.
Eine besondere Rolle erhalten Bühne und Publikum des Glücksspiels. Keine Zufallsinterpretation kommt ohne ihre eigene kulturelle Inszenierung aus, wodurch die Berichterstattung – das Erzählen vom Spiel – augenfällig wird. Der Band beschäftigt sich daher durchgängig mit der Beobachtung, dass die höchst unterschiedlichen Darstellungen von Hasardspielen in den anvisierten Texten letztlich durch eine instruktive Gemeinsamkeit verbunden sind: der Spannung und der Fesselung des Auges auf die beständige Wiederholung einer ganz basalen Kränkung unserer Vernunft im Produzieren und Reproduzieren von Zufällen.
Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeitern der Zeitschrift, Angehörigen der eigenen Universität oder aus dem Verlag LiteraturWissenschaft.de. Diese Bücher können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.
|
||