Gehend und sehend Berlin erkunden
Jule Thiemanns Studie „(Post-)migrantische Flanerie“ analysiert Berlin-Romane der Jahrtausendwende
Von Heike Henderson
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Stadtgeschichten sind immer auch Migrationsgeschichten“ – dieses Erol Yildiz zugeschriebene literarische Motto bietet einen guten Einstieg zu Jule Thiemanns erhellender und gut recherchierten Studie über Flanerie im (post-)migrantischen Kontext der Berliner Großstadterfahrung. Anhand von Romanen von Herta Müller, Emine Sevgi Özdamar, Nelja Veremej und Deniz Utlu untersucht die Autorin, wie die Flanerie als Erzählverfahren Differenzerfahrungen der Protagonisten im Prozess der Stadterkundung fokussiert. Literarische Flanerien, so die Autorin, basieren auf Narrativen zum Wechselverhältnis von Wahrnehmung und Reflexion. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Frage, wie die zeitgenössischen Flanerien aktuelle urbane Tendenzen wie Globalisierung, Migration, Technisierung und Digitalisierung verhandeln. Methodisch geschieht dies durch drei aufeinanderfolgende Analyseschritte. Die raumsemantische Analyse legt die im Text angelegte Raumstruktur offen. Mit der Untersuchung der Wahnehmungsdispositive soll unter Zuhilfenahme von Michel Foucaults Theoriekonzept des Dispositivs die sensuelle Raumwahrnehmung der Protagonisten untersucht werden. Die Betrachtung der Bewegungsmuster schließlich resultiert in der Erstellung von mobilen Kartierungen – ein Analyseschritt, der auf Ottmar Ettes transarealen Studien basiert. Durch diese dreigliedrige Interpretation versucht die Autorin herauszuarbeiten, dass die ausgewählten Texte sich der Flanerie nicht nur motivisch widmen, sondern auch strukturell, indem die Erzählweisen Praktiken der Bewegung und Wahrnehmung einer literarischen Figur ausstellen.
Der Untersuchung vorangestellt ist eine Abhandlung europäischer Flaneur-Diskurse, ein für Dissertationen übliches Pflichtprogramm, das wenig Neues bietet, aber dankenswerterweise kurz gehalten und präzise geschrieben ist. Geglückter ist der Versuch, literarische Verfahren der Flanerie als Elemente eines ästhetischen Programms zu verstehen das neue Perspektiven auf die Themen Migration und Stadt eröffnet. Dass sich Erinnerungsraum und Gegenwartsraum in vielen dieser Texte überlagern, ist eine der Schlussfolgerungen, die sich aus der Analyse der Primärtexte ergeben. Über die Figurenbewegung wird eine Verbindung der Teilräume inszeniert; das Überschreiten von Raumgrenzen ist an Praktiken der Bewegung und Wahrnehmung des jeweiligen Protagonisten gebunden. Der dritte Analyseschritt der mobilen Kartierung ist dabei besonders erkenntnisvermittelnd, da er es erlaubt, Prozesse der Selbstentfremdung, des fragmentarischen Wahrnehmens und des Perspektivenwechsels widerzuspiegeln. Lobenswert ist weiterhin, dass sich die Autorin sowohl mit mittlerweile kanonisierten Texten von Herta Müller (Reisende auf einem Bein, 1989) und Emine Sevgi Özdamar (Die Brücke vom Goldenen Horn, 1998) als auch mit neueren Texten von Nellja Veremej (Berlin liegt im Osten, 2013) und Deniz Utlu (Die Ungehaltenen, 2014) auseinandersetzt. Ein Exkurs zu transmedialen Flanerien im Film und in Social Media rundet diese überaus lesenswerte, klar geschriebene und neue Wege weisende Studie ab.
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