Von A wie „Ach!“ bis Z wie „Zorn“

Toni Tholen, Burkhard Moennighoff und Wiebke von Bernstorff untersuchen die großen Gefühle in der Literatur

Von Yulia MevissenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yulia Mevissen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit dem Ausruf des emotional turn beziehungsweise affective turn nicht allein in den Geisteswissenschaften hat die Emotionsforschung Aufwind, wie sich an einer Vielzahl von Forschungsprojekten, Lehrveranstaltungen und Tagungen beobachten lässt. In einer Parallelbewegung haben die Psychologie, die Neuro- und die Kognitionswissenschaften Emotionen als Forschungsgebiet entdeckt, die Literaturwissenschaften vor rund zwei Jahrzehnten ihrerseits begonnen, Affektpoetiken eine neuartige Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Hervorgegangen aus der gleichnamigen Ringvorlesung an der Universität Hildesheim im Wintersemester 2015/2016, legt nun der Band Große Gefühle – in der Literatur dreizehn textnahe emotionsanalytische Fallstudien vor, die dem literarischen Einsatz von Gefühlen nachspüren. Exemplarisch-panoramatisch wirft der von Toni Tholen, Burkhard Moennighoff und Wiebke von Bernstorff herausgegebene Sammelband Licht auf literarische Inszenierungsstrategien und ästhetische Konstruktionsmechanismen von Gefühlen und stellt dabei die Produktivität von turns unter Beweis, die den analytischen Blick immer wieder aufs Neue vitalisieren.

„Große Gefühle“, so explizieren die HerausgeberInnen knapp, „sind solche, die durch die Literatur selbst, durch Texte groß gemacht werden.“ Zu historischen Konzepten, so etwa dem rhetorischen Pathos-Konzept, wird der titelgebende Begriff des „Großen Gefühls“ indessen nicht in Beziehung gesetzt. Dies ist vermutlich dem literarhistorischen Zuschnitt des Bandes geschuldet, dessen Fokus auf der Literatur der Moderne und der Gegenwart liegt.

Die Spannbreite der Beiträge reicht von der Polyvalenz der Interjektion „ach!“ (Joachim Jacob) bis zum Motiv der Scham bei David Foster Wallace (Simon Roloff), von positiven Gefühlen wie beispielsweise Liebe und Freiheit (Burkhard Moennighoff; Werner Greve; Wiebke von Bernstorff) bis zu Emotionen wie Zorn (Jan Röhnert) oder etwa auch Gefühlen des Nihilismus und des ennui (Christian Schärf; Toni Tholen), wobei sich bisweilen „so viele große Gefühle“ in einem Text ausmachen lassen, dass sich die Qualifizierung von Gefühlen als „groß“ in das Reich des Diffusen zu verabschieden droht.

Insgesamt auffällig ist, mit welcher Bereitschaft die AutorInnen des Bandes zu emotionspoetologischen Beispielen aus der Gattung Lyrik greifen. Ob es sich hier um eine hartnäckige Nachwirkung von Johann Wolfgang von Goethes Bestimmung der Lyrik als „enthusiastisch aufgeregte“ und Georg Wilhelm Friedrich Hegels Engführung von lyrischem Kunstprinzip und Subjektivität handelt oder ob ein gesteigertes Interesse an der heute oftmals unbeliebten Lyrik im emotionswissenschaftlichen Kontext schlicht und ergreifend beflügelt ist durch Simone Winkos methodologisch so anregende wie richtungsweisende Monographie „Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900“, sei dabei dahingestellt.

Plastisch jedenfalls zeigen die Einzelstudien des Bandes das Gefühlswissen der Literatur, die Verfahrensweisen literarischer Emotionsinszenierung und die kulturgeschichtlich-diskursive Produktion von Emotionsregimes auf. Die Chance, vom Gefühlswissen der Literatur(wissenschaft) eine interdisziplinäre Brücke zu anderen emotionswissenschaftlichen Diskursfeldern zu bauen, wird dabei allerdings nicht ergriffen.

Titelbild

Toni Tholen / Burkhard Moennighoff / Wiebke von Bernstorff (Hg.): Große Gefühle – in der Literatur.
Georg Olms e.K. Verlagsbuchhandlung, Hildesheim 2017.
237 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783487155265

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