Ein Krieg am Ende der Welt
Stephan Thome setzt mit „Gott der Barbaren“ der interkulturellen Ratlosigkeit ein Denkmal
Von Martin Ingenfeld
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseStephan Thome ist auf den Long- und Shortlistplätzen des Deutschen Buchpreises inzwischen geradezu zum Stammgast geworden. Der 1972 in Hessen geborene studierte Philosoph und Sinologe war bereits im Jahr 2009 mit seinem Debütroman Grenzgang, der auch mit dem aspekte-Literaturpreis prämiert und später verfilmt wurde, und erneut 2012 mit Fliehkräfte unter den Nominierten. Auf den 2015 erschienenen Roman Gegenspiel folgt nun, dem Dreijahresrhythmus treu bleibend, Gott der Barbaren, der wiederum als Finalist in das Rennen um den Buchpreis gehen wird, aber in mannigfacher Hinsicht doch mit seinen Vorgängern bricht: Mit einem schon dem Umfang von mehr als 700 Seiten nach beachtlichen historischen Roman lässt Thome das Feld westdeutsch-westeuropäischer Beziehungs- und Gesellschaftsanalyse hinter sich. Stattdessen folgt der Roman Thomes wissenschaftlichem und persönlichem Interesse für Fragen der Interkulturalität und den Fernen Osten (Thome lebt in Taipeh) ins China des 19. Jahrhunderts.
Gott der Barbaren bestellt die großen Themen von Kultur und Geschichte, Politik und Religion. Jener Aspekt chinesischer Geschichte, der hier im Zentrum steht, dürfte in Deutschland allerdings weitgehend vergessen sein, falls er denn überhaupt je zu Bewusstsein gekommen ist, spielte er sich doch weitgehend ohne deutsche Beteiligung ab (was im Falle von Thomes Roman allerdings keineswegs gilt). In den Jahren um 1860 hat das chinesische Kaiserreich mit zahlreichen inneren und äußeren Konfliktherden zu kämpfen, die es mehr schlecht als recht unter Kontrolle bringt. Den kommenden Zusammenbruch der Qing-Dynastie rufen die Spatzen jedenfalls schon von den Dächern. Der Aufstand der sogenannten Taiping-Bewegung führt inmitten des Reiches zu einem nahezu eineinhalb Jahrzehnte währenden blutigen Bürgerkrieg, der 20 bis 30 Millionen Menschen das Leben kostet. Gleichzeitig wird das Kaiserreich mit dem westlichen Imperialismus konfrontiert, dem es in den beiden sogenannten Opiumkriegen mit leichter Hand gelingt, das scheinbar mächtige Riesenreich zur Beteiligung am Welthandel zu zwingen – was in diesem Fall insbesondere bedeutet, den vor allem von den Briten betriebenen Opiumhandel hinzunehmen.
Der „Gott der Barbaren“ hat dementsprechend verschiedene Gesichter, je nach Perspektive: Für die westlichen Mächte, für Briten und Franzosen, sind natürlich die Chinesen die Barbaren, die sich in vollendeter Ignoranz für den Nabel der Welt halten, während sie seit Jahrhunderten stets dieselben sinnfreien Kalendersprüche kalligraphieren, ihren Frauen die Füße abbinden und mit Leidenschaft Köpfe abschneiden. Aus chinesischer Sicht sind es dagegen die „ausländischen Barbaren“, die das Reich der Mitte mit ihrer Arroganz bedrängen und zwar von einem Gott reden, an den zu glauben ihre Missionare auch in den großen Küstenstädten bereits predigen, die in Wahrheit aber doch nur vom Handel und vom Geld etwas halten. Und schließlich sind da die rebellischen Chinesen der Taiping, die zwar von den Ausländern auch als Barbaren sprechen, aber ihren pseudochristlich inspirierten Kampf doch vor allem gegen den „Schlangenteufel“ in Peking führen und die Dynastie so mehrfach an den Rand einer Niederlage bringen. Umgekehrt betrachtet das kaiserliche China die Aufständischen von Nanking, angeführt vom sogenannten Himmlischen König Hong Xiuquan, der sich selbst als leibhaftigen jüngeren Bruder Jesu verehren lässt, als verlängerten Arm der „ausländischen Barbaren“ aus Europa. Während andererseits die Europäer mit dem Taiping-Rebellen wenig anfangen können, sie für chinesische Blasphemiker halten und im Zweifel lieber mit dem Kaiser Verträge aushandeln beziehungsweise Krieg führen.
Unter dieser Voraussetzung von wechselseitigem Unverständnis und einer langen Reihe von Missverständnissen entfaltet Thome seinen Roman, indem er die drei Perspektiven durch je eigene Repräsentanten zur Geltung kommen lässt: Philipp Johann Neukamp, genannt Fei Lipu, ist ein deutscher Abenteurer, den es als Missionar nach Hongkong verschlagen hat, von wo er sich aufmacht, nach Nanking zu gelangen, ins Zentrum der Taiping-Rebellion; James Bruce, 8. Earl of Elgin, 12. Earl of Kincardine, vertritt als Diplomat und mehrfacher Anführer der britischen Militärexpedition im Zweiten Opiumkrieg die britische Position; und Zeng Guofan, chinesischer Beamter und Oberbefehlshaber der gegen die Aufständischen kämpfenden Hunan-Armee, darf das imperiale China repräsentieren. Bei den beiden Letzteren handelt es sich um historische Figuren, die auch die eigentlichen Hauptfiguren des Romans sind. Als melancholisch angekränkelte intellektuelle Kriegsherren wissen sie um die Aussichtslosigkeit ihrer jeweiligen Position – Tradition bewahren, Kaiserreich zerstören – und ahnen in lichten Momenten auch die Abgründe ihres wechselseitigen Unverständnisses, ohne dass sie darum weniger blutig und zerstörerisch gegeneinander und gegen die Aufständischen vorgehen würden. Sie werden einander allerdings nicht direkt gegenübertreten.
„Der Unterschied zwischen den Barbaren und uns ist, dass wir Mitgefühl haben“, zitiert Zeng Guofan einen von ihm verehrten Philosophen des 17. Jahrhunderts, um sich selbst und seinen Soldaten der Unterschiede zu versichern: zwischen den Chinesen und den ausländischen Barbaren aus Europa, zwischen der eigenen Armee und den langhaarigen Barbaren von Nanking, von denen man außer Milchzahnträgern selbstverständlich keinen überleben lassen wird. Vom Humanismus zum Massaker ist es nur ein kleiner Schritt. Den Feind in Stücke zu hacken, scheint hier eine Art chinesischen Common Sense zu bilden, der den europäischen Imperialisten in höchstem Maße anstößig scheint, was sie freilich nicht daran hindert, selbst eine Spur der Verwüstung zu hinterlassen. Für Lord Elgin ist es ein Lebenstrauma: Wo sein Vater einst die Athener Akropolis plünderte und die „Elgin Marbles“ an das British Museum verkaufte (wo sie sich noch heute befinden), wofür ihn schon niemand Geringerer als Lord Byron einen Barbar hieß, setzt sein Sohn dem Opiumkrieg im Herbst 1860 damit ein Ende, dass er den Alten Sommerpalast in Peking zerstören lässt.
Dazwischen geht Philipp Johann Neukamp alias Fei Lipu leider ein wenig unter. Der gescheiterte deutschstämmige Missionar irrt quer durch China und zugleich auch durch die Handlung des Romans, die ihn unter anderem seine Hand kosten wird – damit ist keinesfalls zu viel gesagt, denn es ist mit das Erste, was der Leser erfährt. Was aber Neukamp in Nanking zu finden hofft, was er überhaupt in China sucht, bleibt unklar. Vor seinem Scheitern als Missionar scheiterte er bereits in der Heimat als 1848er-Revolutionär, so kommt er, zur rechten Zeit am falschen Ort, auf die Idee, sein Glück im Fernen Osten zu suchen. Und in der Tat gelingt es ihm auch, so viel sei verraten, nach Stationen in Singapur, Hongkong und Shanghai bis nach Nanking zu gelangen. Sogar eine Begegnung mit dem Himmlischen König überliefert uns der Roman, aber sehr viel näher kommen wir ihm und der gesamten Taiping-Bewegung damit leider nicht. Deshalb führt es im Grunde auch in die Irre, wenn der Klappentext des Buches gerade die Rebellion in den Mittelpunkt stellt, denn was diesen innerchinesischen Konflikt antreibt, woraus er seine Dynamik bezieht, was einen religiösen Fanatiker wie Hong Xiuquan mit dem Charisma und der Überzeugungskraft begabt, einen jahrelangen Bürgerkrieg gegen den Kaiser zu führen, bleibt unklar. Ist es schlicht religiöser Wahn, ist es politischer Eifer im Kampf gegen die ungerechten Verhältnisse im Reich oder die im Grunde immer noch als ausländisch empfundene Herrschaft der mandschurischen Qing? An diesem Punkt drängt sich der Vergleich zu Mario Vargas Llosas 1981 erschienenem Roman Der Krieg am Ende der Welt auf, der ungleich deutlicher den religiös-politischen Kern des Widerstandes eines Ende des 19. Jahrhunderts von Antônio Conselheiro gegen den brasilianischen Staat geführten Aufstandes aufzuzeigen vermochte und dabei mit einem namenlosen Journalisten ebenfalls bis in den Mittelpunkt des Wahns und seines Untergangs vordrang.
Stephan Thomes kunstvoll konstruierte Erzählung führt so multiperspektivisch, zudem mithilfe mannigfacher Rückblenden – die Eingangsszene, die Fei Lipu in Shanghai zeigt, steht chronologisch eigentlich in etwa in der Mitte der Handlung – und durchbrochen von eingeschobenen Dokumenten, die jeweils zwischen den Kapiteln stehen, heran an die beiden Zentren dieses doppelköpfigen China, aber eben doch nicht hinein: Neukamp alias Fei Lipu gelangt nach Nanking und der Himmlische König bleibt uns ein Rätsel. Lord Elgin kommt sogar bis Peking, aber dann wird der Kaiser die Stadt bereits verlassen haben. Die drei Protagonisten werden sich zu keinem Zeitpunkt begegnen und allenfalls über Mittelsmänner miteinander in Kontakt treten. So sehr Thomes Roman in der erzählerischen Rekonstruktion des Gegensatzes von China und Europa glänzt, so wenig kann er erhellen, was eigentlich im Herzen dieses Landes vorgeht, sei es im Falle der religiösen Fanatiker von Nanking, sei es in Gestalt der dynastisch-imperialen Macht in Peking, sei es in der missverständigen Wahrnehmung durch die imperialistischen Europäer. Und eben darin, in der Parallelisierung der Perspektiven bei gleichzeitiger Demonstration ihrer Inkompatibilität, darf man die eigentliche Leistung dieses Romans sehen.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts tritt das chinesische Kaiserreich in seine Endphase ein. Thome vermag es, darin den Keim eines modernen Chinas zu erblicken, im Spannungsfeld von kultureller Selbstbehauptung, Anknüpfung an eigene Traditionen und einer Aneignung westlicher Zivilisation – Christentum, Dampfschiffe, Ideologie. Und auf der anderen Seite zeigt Thome uns den Westen, dessen Imperialismus seinen Höhepunkt noch nicht erreicht hat und in dem sich doch – siehe Lord Elgin – Hochmut und Erschöpfung bereits die Hand reichen. Diese europäisch-chinesische Konfrontation als bloßes Gleichnis für die Gegenwart zu lesen, noch dazu mit Blick auf einen hier von den Taiping-Rebellen repräsentierten religiösen Fundamentalismus, griffe allerdings wohl zu kurz (wenngleich der Roman mit seinem allerletzten Dokument dann selbst diesen Zeitsprung wagt). Denn auch dies darf man diesem Roman einmal mehr ablesen: Wohin man auch blickt, die Literatur macht es seit jeher vor, ist die Geschichte voll von solchen Menschheitskonflikten, in denen Kultur, Politik und Religion sich zu einem blutigen Knäuel verbinden.
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