Dystopie oder narratives Chaos?
In „Die silbernen Felder“ wagt Claudia Tieschky einen Versuch, die verschwimmenden Grenzen der analogen und digitalen Welt zu thematisieren
Von Rebecca Siegert
Claudia Tieschkys neuer Roman mutet als verschleiertes Horrorszenario in der Zukunft an. Die Protagonistin Margarethe lebt allein und bewaffnet in einem Haus, abgeschieden von der sonstigen Gesellschaft. Was hat sie dazu gebracht, sich zu isolieren?
Im Laufe der Erzählung erfahren die Leser, dass Margarethe eine zunächst unauffällige und behütete Kindheit mit ihrer Stiefschwester Fiona verbringt, zu der sie aufsieht. Im Laufe ihrer Jugend wird jedoch merklich, dass sich in der Gesellschaft neben der analogen eine virtuelle Parallelstruktur entwickelt, die immer mehr Macht erlangt. Das Leben von allen Menschen wird durch ihre Erinnerungen in den sogenannten „Inneren Dateien“ gespeichert und das Projekt „Liebseligkeit“, bei dessen Anfängen Fiona eine größere Rolle spielt als Margarethe bewusst ist, verspricht ein ewiges Leben mit den schönsten Erinnerungen.
Margarethe wird nach und nach bewusst, dass es bei diesem Projekt vor allem um die Kontrolle der Gesellschaft geht, nicht nur um die Möglichkeit, Glücksgefühle durch Erinnerungen anderer Menschen erleben zu können. Die Grenzen zwischen der realen und der virtuellen Welt verschwimmen allmählich, was für den Leser vorwiegend daran zu erkennen ist, dass Margarethe immer unsicherer wird, was von dem, was sie sieht und erlebt, wahr ist und was durch die „Liebseligkeit“ hervorgerufen wird. Als immer mehr Menschen beginnen zu verschwinden, unter anderem Margarethes Schwester, entschließt sich diese herauszufinden, was hinter dem Projekt steckt. Sie macht sich auf die Suche nach Fiona und der Wahrheit.
Die Fotografie spielt für die Protagonistin eine besondere Rolle, denn ihrer Ansicht nach ist dies die einzig richtige Art, Erinnerungen und somit die reale Welt festzuhalten, während es auf der anderen Seite nur die digital generierte Simulation gibt. Interessant ist hier vor allem die Manipulation der Menschen durch die Möglichkeit, sich immer wieder Glücksgefühlen auszusetzen. Wer würde dazu in einem Moment der Trauer, Wut oder Verzweiflung nein sagen?
Beinahe auf jeder Seite dieses Buchs herrscht Chaos. Während man als Leser versucht, das System der Dystopie zu durchblicken, wird man ständig durch Zeitsprünge und wechselnde Handlungsstränge verwirrt. Ist das gewollt? Soll dies die Grenze zwischen analoger Welt und Simulation auch für den Leser verwischen, um sich in die Charaktere einfühlen zu können? Oder soll es die Kurzlebigkeit der digitalen Welt widerspiegeln, die schon heute eine kaum mehr überschaubare Reichweite hat?
Claudia Tieschky studierte Germanistik und Geschichte. Heute arbeitet sie als Medienredakteurin bei der Süddeutschen Zeitung. Ihr Debütroman Engele handelt von ihrer Großmutter und dem Schicksal einer früh emanzipierten Trümmerfrau. Die tiefgehenden Charakterzeichnungen dieses Romans wurden hoch gelobt. Leider findet sich in Die silbernen Felder nichts dergleichen wieder.
Beziehungen und Freundschaften werden angeschnitten, bekommen aber nicht die Möglichkeit, sich zu vertiefen oder in eine handlungsvorantreibende Richtung zu entwickeln. Auch die Thematik des „Liebseligkeit“-Projekts hätte viel weiter ausgebaut werden können. Demnach hätten dem Buch rund 300 Seiten mehr nicht geschadet, denn am Ende wird man durch den schwachen Plot enttäuscht. Der Roman kann seiner vielversprechenden Idee leider nicht gerecht werden. Wer eine spannende, inhaltsreiche Dystopie erwartet, sollte sich also lieber woanders bedienen.
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