Die ungeliebte Revolution

Zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution 1918 erinnert eine Ausstellung in Kiel an die „Stunde der Matrosen“ und die Geburtsstunde der deutschen Demokratie

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit tat sich Kiel – ähnlich wie die Bundesrepublik insgesamt – schwer mit dem wohl bedeutendsten Ereignis der Stadtgeschichte. Die Revolution vom November 1918, in deren Folge die erste deutsche Demokratie entstand, ist in der Stadt, in der sie ihren Ausgang nahm, kaum öffentlich wahrzunehmen. Im Juni 2011 erst benannte die Stadt den wenig ansehnlichen Platz vor dem Hauptbahnhof nach jahrelangen Streitigkeiten in „Platz der Kieler Matrosen“. Im Ratsdienergarten erinnert immerhin seit 1982 eine Plastik an den Aufstand. Die Admirale Scheer und Tirpitz hingegen sind im Stadtbild wesentlich präsenter, heißen doch Hafenanlagen am Nord-Ostsee-Kanal nach den beiden Militärs, die 1918 den revolutionären Matrosen gegenüberstanden. Zum 100. Jahrestag des Matrosenaufstandes jedoch berappelt man sich endlich – zurecht angesichts der derzeitigen Bedrohung demokratischen Gedankenguts – und widmet dem Ereignis verschiedene Veranstaltungen unter dem Motto „Demokratie erkämpfen, Demokratie leben“, allem voran eine Ausstellung im Schifffahrtsmuseum, die von einem Katalog begleitet wird und die noch bis zum 17. März 2019 zu sehen ist.

Postkarte zum Matrosenaufstand 1918 (Foto aus der Ausstellung von André Schwarz)

Die Ausstellung selbst legt zu Beginn einen Schwerpunkt auf die sozialhistorischen Hintergründe des Matrosenaufstandes, führt ein in das Leben und Denken der Menschen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Anhand exemplarischer Lebensläufe und Zeugnisse wie Tagebucheinträgen, Postkarten und Aufzeichnungen werden zunächst die zunehmende Kriegsbegeisterung und die bald einsetzende Ernüchterung nach den ersten Kriegserlebnissen thematisiert. Mit zunehmender Dauer des Krieges werden die Appelle der militärischen Führung eindringlicher, die gezeigten Plakate, die für die Zeichnung von Kriegsanleihen werben sollen, drängender.

Werbung für Kriegsanleihen (Foto aus der Ausstellung von André Schwarz)

Die Versorgungssituation im Reichskriegshafen Kiel selbst ist desolat, erste Unruhen werden auch mit Hilfe des Militärs niedergeschlagen, das Villenviertel wird zum Schutz vor Plünderungen von der Marine abgeriegelt. Die in diesem Bereich ausgestellten Plakate fordern auf zum Sparen von Lebensmitteln, von Treibstoff und Öl, zum Sammeln von Fellen, Kleidung und vielen Dingen des täglichen Bedarfs. Das kleine Textbuch, das den Gang durch die Ausstellung begleitet, ergänzt wichtige Informationen zur Versorgungslage und erläutert die Zusammenhänge. Einen Schwerpunkt legt die Ausstellung hier auf die Situation innerhalb der Marine. Auf den Schiffen drangsalieren die Offiziere die Mannschaften und führen mit eiserner Hand. Immer wieder: Bilder von Arrestzellen, von der harten Arbeit der Heizer und Mannschaften. Drakonische Strafen für kleinste Vergehen mehren die Unzufriedenheit, die in den überlieferten Briefen und Postkarten nur verklausuliert formuliert werden kann.

Im Oktober 1918 schließlich erlässt die Marineführung den Befehl zu einem Vorstoß der Flotte, der die Wende herbeiführen soll. Ein aussichtsloses Unterfangen. In der Folge kommt es zu Befehlsverweigerungen in der Hochseeflotte, die betreffenden Schiffe werden nach Kiel zurückbeordert, mehrere Matrosen willkürlich verhaftet. In Kiel suchen die Mannschaften Kontakt zu den Arbeitern in den Kieler Werften, die einen Streik vorbereiten. Hier finden sich vor allem im begleitenden Katalog weitere Hintergrundinformationen zur politischen Situation und zu den Verbindungen zwischen den Arbeitern und den Soldaten. Die Forderungen nach einem Ende des Krieges werden immer lauter.

Foto: Kieler Matrosen, ganz links Karl Artelt, der spätere Vorsitzende des Soldatenrates (Foto aus der Ausstellung von André Schwarz)

Am 1. November 1918 schließlich treffen sich über 200 Matrosen mit Vertretern der Gewerkschaften, der USPD und der SPD und fordern eine Freilassung der Gefangenen. In den nächsten Tagen kommt es zu Demonstrationen, Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften und nächtlichen Unruhen, am 4. November werden die ersten Soldatenräte gewählt und die Forderungen der Matrosen gestellt: „Abdankung des Hohenzollernhauses; […] Freilassung unserer […] Kameraden; Freilassung sämtlicher politischer Gefangenen; Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts für beide Geschlechter“. Die Schleswig-Holsteinische Volkszeitung titelt am 5. November 1918: „Die Flotte unter der roten Fahne. Der Sieg der Freiheit“.

Bilder von den Ereignissen in Kiel gibt es auch in der Ausstellung nur wenige. Das ist der schwierigen und unübersichtlichen Situation in der Stadt in jenen ersten Novembertagen geschuldet. Viele Versammlungen und Kundgebungen fanden erst in den Abendstunden statt, das noch junge Medium Fotografie war zu dieser Zeit technisch nur begrenzt einsetzbar. Dennoch versammelt die Ausstellung die wichtigsten Meldungen und Aufrufe zu Demonstrationen und Streiks. Das alles platzieren die Macher an zentraler Stelle; die beiden roten Dreiecke aus Stahl inmitten des Museums stellen die wichtigsten Kieler Ereignisse und ihre Protagonisten nicht nur optisch, sondern auch thematisch in den Mittelpunkt.

Fotos aus der Ausstellung von André Schwarz: Der zentrale Teil der Ausstellung widmet sich den Revolutionsereignissen in Kiel selbst und ihren Protagonisten.

In den kommenden Tagen breitet sich die Revolution weiter aus. Am 9. November 1918 gibt der Reichkanzler Max von Baden die Abdankung von Kaiser Wilhelm II. bekannt, Philipp Scheidemann ruft vom Balkon des Reichstags die Deutsche Republik aus, Karl Liebknecht am Stadtschloss die Freie Sozialistische Republik. Am folgenden Tag übernimmt der Rat der Volksbeauftragten, bestehend aus MSPD und USPD, die Regierungsgeschäfte in Deutschland. Der Aufstand der Kieler Matrosen mündet in die Entstehung der Weimarer Republik. Kiel selbst rückt aus dem Mittelpunkt des Geschehens.

Postkarte vom November 1918: Der Kaiser wird von Kieler Matrosen ins Exil „verabschiedet“ (Foto aus der Ausstellung von André Schwarz)

Doch die Ausstellung und vor allem der Katalog widmet sich in einem abschließenden, sehr informativen und gelungenen Teil einerseits den regionalen Ereignissen, flicht aber immer wieder die folgenden Berliner Entwicklungen mit ein. Andererseits – und das ist vor allem im Katalog, der eher eine Art Begleitbuch darstellt, sehr gut gemacht – werden die Verbindungslinien zwischen dem Aufstand der Matrosen und den anderen politischen Entwicklungen wie der Einführung des Frauenwahlrechtes und der Politisierung der Bevölkerung gezogen. Die Rückkehr zum Alltag ist das vordringliche Ziel, deutlich erkennbar an dringenden Appellen zur Wahrung der Disziplin, zahlreichen Aushängen und Plakaten des Werbedienstes der Republik, gestaltet von namhaften Künstlern, die die Bevölkerung auffordern, bis zu den Wahlen der Nationalversammlung Ordnung zu bewahren und so den Frieden zu sichern. Gleichzeitig sind auch schon hier die zukünftigen Spannungen in der Weimarer Republik zu erkennen: Die Deutschnationalen raunen vom Dolchstoß, der Spartakus, die USPD und die MSPD ringen innerhalb der Linken um den Führungsanspruch, kämpfen mehr gegeneinander als gegen den Feind von rechts.

In einem letzten Teil widmet sich die Ausstellung dann der überaus unterschiedlichen Rezeption der Novemberrevolution in den beiden deutschen Staaten. In der Bundesrepublik und im beginnenden kalten Krieg wird die Revolution zum ungeliebten Stiefkind der kollektiven Erinnerung, in der Deutschen Demokratischen Republik sieht man sich in der Nachfolge der revolutionären Arbeiter und Soldaten.

Das Kieler Schifffahrtsmuseum hat mit viel didaktischem Geschick und gelungener Auswahl an Exponaten eine sehenswerte Ausstellung auf die Beine gestellt, die die Ereignisse jener „Stunde der Matrose“ würdigt. Ohne das Textbuch oder die Führung via Kopfhörer entgeht dem weniger kundigen Betrachter allerdings so mancher Zusammenhang, hier wäre an manchen Stellen eine überblicksartige Zusammenfassung der Ereignisse wünschenswert gewesen. Der die Ausstellung begleitende, gleichnamige Katalog  ist mit knapp über 300 Seiten weitaus mehr als ein bloßer Katalog, sondern ein umfassendes Begleitbuch mit vielen weiteren Hintergrundinformationen und zum Teil hervorragenden Beiträgen. Der Band, herausgegeben von der Direktorin Doris Tillmann und der Historikerin Sonja Kinzler, versammelt 40 Essays von deutschen und internationalen Forschern, die die Vorgeschichte der Revolution, die Ereignisse in Kiel, regionale, sozialhistorische Betrachtungen und die Rezeption der Revolution in Ost und West beleuchten.

Dies geschieht natürlich mit deutlich regionalem Bezug, stellt die Kieler Ereignisse aber immer wieder in einen größeren Zusammenhang. Gerade diese Beiträge zur Politik und zur Vorgeschichte der Nationalversammlung sind erhellend und auch für diejenigen fruchtbar, die sich mit der Revolution von 1918 auskennen. Nicht alle Beiträge sind auf demselben hohen Niveau, bieten aber kontroverse Ansätze und Diskussionsanregungen.Der Katalog übertrifft die Erwartungen deutlich und ist ein Gewinn für die kostenlos zugängliche Kieler Ausstellung.

Wer sich für die Novemberrevolution interessiert, für den ist „Die Stunde der Matrosen“ in Kiel ein Pflichtprogramm und eine angemessene Würdigung für die Väter der ersten deutschen Demokratie. Das hat im hundertsten Jahr wohl auch die Stadt Kiel erkannt. Bleibt zu hoffen, dass die Erinnerung an die Kieler Matrosen nach dem Jubiläumsjahr nicht wieder in der Versenkung verschwindet.

Titelbild

Doris Tillmann / Sonja Kinzler (Hg.): Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918.
Konrad Theiss Verlag, Darmstadt 2018.
304 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783806236989

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