Was Heimat bedeutet, wenn die Heimat nicht mehr existiert

Oxana Timofeeva berichtet von ihrer Reise in die ehemalige Sowjetunion

Von Rebecca HohnhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rebecca Hohnhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Mai 2016 reist die in Sankt Petersburg lebende Philosophin Oxana Timofeeva zum ersten Mal wieder in ihre Heimat Kasachstan. Zum Anlass nimmt sie eine Einladung der Universität Astana, in der sie einen Vortrag mit dem Titel „Eule und Engel“ hält. Die Eule der Minerva aus Hegels Rechtsphilosophie fasst sie gleichsam wie den Engel aus Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte als „Wesen der Retrospektion“: Sie blicken nicht in die Zukunft, sondern zurück in die Vergangenheit, die sie versuchen zu begreifen. Als retrospektiver Blick in die Vergangenheit, der Entsetzliches und Erlösendes zugleich ans Licht bringt, kann auch der kleine Essay verstanden werden, in dem Timofeeva die Erfahrungen ihrer Reise festhält. Im Zentrum steht die Frage, was Heimat bedeutet, wenn die Heimat nicht mehr existiert.

„Ich komme aus […]“. So beginnen die ersten drei Kapitel, in denen Timofeeva die drei Orte, die sie mit Heimat verbindet, porträtiert: Kozhevnikovo, Ču, Surgut. An das sibirische Kozhevnikovo, den Ort, in dem sie im Jahr 1978 geboren wurde, hat Timofeeva kaum Erinnerungen. Denn hier hat sie nur ein Jahr gelebt, bis ihre Eltern im Zuge der gelenkten Arbeitsplatzvergabe nach Kasachstan, eine der damals 15 Republiken der UdSSR, versetzt wurden. In Ču, einer kleinen Stadt im Süden Kasachstans unweit der kirgisischen Grenze, verbrachte sie ihre frühe Kindheit. Als sie im Zuge ihrer Vortragsreise erstmals wieder die unendliche kasachische Steppe mit dem Zug durchquert, werden Erinnerungen wach: Unmittelbar erkennt sie die gelben Tulpen, den purpurnen Mohn, den türkis-hellblauen Himmel, die glühende Sommersonne wieder, genauso wie die fruchtbaren Täler, in denen die besten Wassermelonen der Welt gedeihen. Dort war sie glücklich.

Mit dem Fall der Sowjetunion änderte sich alles. Erst trennten sich ihre Eltern und dann kehrte sie mit ihrer Mutter aufgrund der damals weit verbreiteten antirussischen Stimmung in den kargen Norden zurück, genauer gesagt in die sibirische Ölstadt Surgut, die zu diesem Zeitpunkt schon in Russland lag. Timofeeva resümiert:

Seit 1991 gibt es die UdSSR nicht mehr, und Kasachstan hat seine Unabhängigkeit erklärt. In Raum und Zeit tat sich plötzlich eine Grenze auf, die meine Wurzeln zweifach kappte: den Staat, in dem ich geboren bin, gibt es nicht mehr, der Ort aber, den ich als meine Heimat betrachte, lag nun im Ausland.

Surgut und Ču, Kindheit und Jugend, Sowjetunion und Russland könnten unterschiedlicher nicht sein. Während in Ču das Leben auf fruchtbaren Boden stieß, hatte es in Surgut kaum eine Chance:

Wo der Wald aufhört, beginnt gleich die Tundra, das undurchdringliche Moor, hinter dem Moor liegt der ehemalige Gulag, die verschneite Ebene, der Busen des Ob und noch weiter weg das Ende der Welt – das graue und kalte Nordpolarmeer […]. Hier gab es kein Gesetz, keine Regeln, keinen festen Halt und: keine Hoffnung, hier war nichts.

Das Erdöl, eine der wichtigsten wirtschaftlichen Ressourcen der Region, nimmt in Timofeevas Erinnerungen eine zentrale Stellung ein. Wie ein „prähistorisches Monster“ verschlang es jegliches Leben in Surgut: Erdölteppiche, schwarze Erde, schwarze Baumstämme, schwarzes Moos und auch der Junge, in den sie verliebt war, kommt später als Erdölarbeiter ums Leben. Als „Verkörperung und […] Rückkehr verdrängter Erinnerung der Erde“ quillt das Erdöl an die Oberfläche und lässt Unbewusstes bewusst werden. Bewusst werden mit dem Fall der Sowjetunion nicht nur die ökologischen, sondern auch die ökonomischen und sozialen Missstände, die über Jahrzehnte hinweg aus dem kollektiven Bewusstsein gedrängt wurden: Alkohol, Drogen, Gewalt und Tod dominierten den Alltag in den 1990er Jahren. Timofeeva erinnert sich an kalte Heizungen, Wochen des Hungers und auch an den Tag, als sie von einem Mann aus der Nachbarschaft vergewaltigt wurde.

Die zahlreichen Landschaftsbeschreibungen, die durch die beigefügten Fotografien noch veranschaulicht werden, die naturalistische und unmittelbare Sprache zeigen, dass Timofeeva bewusst eine Verbindung zwischen Denken und Erde, zwischen Bewusstsein und Sein herstellt. Wie sie jedoch im vierten Kapitel des Buches, das den Titel „Wie macht man das, von hier sein“ trägt, erläutert, versteht sie dieses „Sein“ entgegen völkischer Ideologie nicht als statisch. Unter Bezug auf Aristoteles, Hegel, Brecht, Deleuze und Guattari nähert sie sich dem Begriff der Heimat unter dem Paradigma der Bewegung und wendet sich damit klar gegen die Vorstellung vom Wurzel schlagenden Menschen. Im Unterschied zur Pflanze verfüge der Mensch über ein Territorium, in dem er sich bewegt und das sich, wie das Beispiel der Sowjetunion exemplarisch vorführt, in Form und Inhalt selbst immer wieder ändern kann. Heimat konstituiert sich für Timofeeva nicht im Bleiben, sondern in der Bewegung von Ab- und Wiederkehr. Erst der zeitliche und räumliche Abstand macht den retrospektiven Blick der Eule oder des Engels möglich, durch den die verlorene Vergangenheit begriffen werden kann.

Eigentlich, so gesteht Timofeeva in dem Interview, das dem Text angehängt ist, wollte sie mit dem Essay ihr Glück über ihre wiedergefundene Heimat teilen. Doch dann kam der Überfall Russlands auf die Ukraine und es galt, sich wieder neu zu positionieren:

Kann man eine Heimat lieben, wenn das Monopol auf Patriotismus den Ideologen dieses Regimes vorbehalten ist? Ich denke, ja, und ich denke, dass eine solche Liebe uns notwendigerweise in die Rolle der Opposition zu diesem Regime versetzt, in Opposition zum Militarismus, zur Kriegspolitik, zur Okkupation, zu Tod und Zerstörung.

Diese Erkenntnis ist besonders stark, zeigt sie doch, dass Heimat gerade aus dem Moment der Nichtidentifikation ihr befreiendes Potential entwickelt. Durch die unüberwindbare Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart gelingt es Timofeeva, das Konzept neu zu definieren, um es im Kampf für eine bessere Zukunft zu gebrauchen.

Titelbild

Oxana Timofeeva: Heimat. Eine Gebrauchsanweisung.
Aus dem Russischen von Anja Dagmar Schloßberger.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2022.
123 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783751808101

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