Zum Tod der pazifistischen Revolutionärin Sonja Lerch vor 100 Jahren in München

Fiktionen, Dokumente und Hinweise

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor hundert Jahren, am 29. März 1918, einem Karfreitag, wurde Sonja Lerch im Münchner Gefängnis Stadelheim erhängt aufgefunden und drei Tage später, am Ostermontag, auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. „Münchens vergessene Revolutionärin“ nennt sie Cornelia Naumann im Untertitel ihres eben erschienenen Romans Der Abend kommt so schnell (eine Rezension in literaturkritik.de erscheint demnächst). Zumindest Kennern des Werkes von Ernst Toller ist sie allerdings unvergesslich geblieben. Denn der Münchner Revolutionär, der sich wie Sonja Lerch Ende Januar aktiv für den Streik der Arbeiter gegen den Krieg eingesetzt hatte und wie sie Anfang Februar verhaftet wurde, machte die Friedensaktivistin im Oktober 1919 bei der ersten Niederschrift seines wohl bekanntesten Dramas zur literarischen Figur: zur Protagonistin Sonja Irene L. in Masse Mensch.

Die schon in seinem expressionistischen Drama Die Wandlung vorgenommene Kritik an revolutionärer Gewalt legte er hier seiner tragischen Heldin in den Mund. Sonja wendet sich gegen den „Namenlosen“, der die blinde, verhetzte Masse repräsentiert. Er will die Genossin aus dem Gefängnis befreien und dabei den Totschlag eines Wächters in Kauf nehmen. Sonja hält ihm entgegen:

Ihr mordet für die Menschheit, […]
Wer für den Staat gemordet,
Nennt Ihr Henker.
Wer für die Menschheit mordet,
Den bekränzt ihr, nennt ihn gütig,
Sittlich, edel, groß.
Ja, sprecht von guter, heiliger Gewalt.
[…]
Höre: kein Mensch darf Menschen töten
Um einer Sache willen.
Unheilig jede Sache, dies verlangt.

Sonja lässt sich nicht mit Gewalt befreien und wird hingerichtet, erschossen. Sie stirbt, damit die Idee der Gewaltlosigkeit weiterlebt. Das Nachwort zu dem Drama in der Kritischen Ausgabe von Tollers Sämtlichen Werken merkt zu der Darstellung ihres Todes an: „Wenn sich am Ende des Stücks zwei Gefangene in den Habseligkeiten der zum Tode Verurteilten bedienen, liegt die Parallele zur biblischen Kreuzigungsgeschichte auf der Hand. Sonja Irene L. wird in die Nähe Christi gerückt, um dessen Kleider die Kriegsknechte streiten.“

Erschossen wurde die reale Sonja Lerch nicht, aber die heute noch ungeklärten Umstände ihres Todes waren schon damals ein Anlass zu widersprüchlichen Spekulationen in der Öffentlichkeit. Toller selbst hat später noch einmal in seiner Autobiographie Eine Jugend in Deutschland an Sonja Lerch erinnert und ihren Tod dabei von dem seiner fiktionalisierten Dramenfigur unterschieden. Vorher schildert er eine Szene in der Münchner Streikbewegung:

Ein Streikkomitee wurde gebildet, Eisner gehörte ihm an.

Ich gehe in die Streikversammlungen, ich möchte helfen, irgend etwas tun, ich verteile, weil ich glaube, daß diese Verse, aus dem Schrecken des Krieges geboren, ihn treffen und anklagen, Kriegsgedichte unter die Frauen, die Lazarett- und Krüppelszenen aus meinem Drama ‚Die Wandlung‘.

Endlich wird mir eine Aufgabe übertragen. Ich soll zu den Arbeiterinnen einer Zigarettenfabrik sprechen, sie auffordern, am Streik teilzunehmen. Der Fabrikpförtner wehrt mir den Zutritt zum Hof, Arbeiter eilen mir zu Hilfe. Bald sind alle Frauen im Hof versammelt. Sie verlassen den Betrieb. Gemeinsam ziehen wir zur Versammlung.

Die Menschen sind unruhig, Eisner soll sprechen, wo bleibt er? Auch die anderen Mitglieder des Streikkomitees fehlen. Nach einer Stunde vergeblichen Wartens hören wir, daß die Polizei während der Nacht alle verhaftet hat.

Es folgt ein gesonderter Absatz, der allein Sonja Lerch gewidmet ist: 

Frau Sonja Lerch ist unter den Verhafteten, die Frau eines Münchener Universitätsprofessors. Der Mann hat sich am ersten Streiktag von ihr losgesagt, aber sie liebte ihn und wollte ihn nicht lassen. Gestern abend war sie bei mir, trostlos, verstört, ich bot ihr an, die Nacht in meinem Zimmer zu bleiben, ich warnte sie, in das Haus ihres Mannes zurückzukehren, dort zuerst würde die Polizei nach ihr fahnden, sie blieb meinen Worten taub. „Einmal will ich ihn noch sehen, einmal nur“, wiederholte sie unaufhörlich, wie ein Kind, das sich an die zerstörten Reste einer geliebten Puppe klammert. Sie ging. Nachts um drei Uhr kam die Polizei und führte sie ins Gefängnis Stadelheim. Sie schrie Tag und Nacht, ihre Schreie hallten durch Zellen und Gänge, Wärtern und Gefangenen gefror das Blut, am vierten Tag fand man sie tot, sie hatte sich erhängt.

Inzwischen liegt eine Vielzahl von Dokumenten über diesen Tod und seine Vorgeschichte vor. Ergebnisse genauerer Recherchen dazu hatte 2005 im Blick auf Tollers Drama der US-amerikanische Germanist und Kurt Eisner-Foscher Albert Earle Gurganus in englischer Sprache vorgelegt (in: German Studies Review, Oktober 2005, S. 607-620). Kommentar und Nachwort zu dem Stück in der Kritischen Toller-Ausgabe weisen darauf hin. Wünschenswert wäre noch ein Hinweis auf den Artikel der Historikerin und Judaistin Rebekka Denz gewesen, der 2010 unter dem Titel Zwischen „russischer Steppenfurie“ und Idealtyp einer Revolutionärin. Das bewegte Leben der Sozialistin Sarah Rabinovitsh in der Zeitschrift Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte erschien (Nr. 57, Mai, S. 28-31).

Umfassender sind jetzt die Veröffentlichungen dazu von Cornelia Naumann im Zusammenhang mit der langjährigen Arbeit an ihrem Roman sowie des Münchner Schriftstellers und Künstlers Günther Gerstenberg, ein Angehöriger der 68er Generation, der in den 1980er Jahren an der Gründung des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung beteiligt war und an dem neueren Projekt „Protest in München 1945 bis in die Gegenwart“ mitarbeitet. Ihr gemeinsam herausgegebener Band Steckbriefe gegen Eisner, Kurt u. Genossen wegen Landesverrats mit dem Untertitel „Ein Lesebuch über Münchner Revolutionärinnen und Revolutionäre im Januar 1918“ enthält Akten zu sechzehn „Streikaktivistinnen und -aktivisten“, die ihre Bespitzelungen, Festnahmen und Verhöre dokumentieren. Die Protokolle zu den Verhören von Sarah Sonja Lerch, geb. Rabinowitz, enthalten drei ausführliche autobiographische Skizzen der Sozialistin,  mit denen sie den Polizei- oder Gerichtsbehörden Auskunft über ihre Person gab. Die Akte vom „2. Februar 1918 / Geheim!“ beginnt so:

Die gestern Morgen vorläufig festgenommene Privatdozentensgattin Sarah Sonja Lerch wurde heute Vormittag aus Polizeihaft vorgeführt und einer Einvernahme unterzogen. Sie erklärt folgendes:

Ich habe schon in meiner Jugend Sympathie für den Sozialismus gehabt. Im Jahre 1905 war ich Mitglied des Arbeiterdeputiertenrates in Odessa und als solche an der Arbeiterbewegung beteiligt. Im Jahre 1908 wandte ich mich nach Wien, wo ich mich bis zum Jahre 1909 mit Privatstudien und schriftstellerischen Arbeiten beschäftigte. Im gleichen Jahre übersiedelte ich nach Frankfurt am Main. Dort hatten sich damals meine Eltern vorübergehend niedergelassen. Gleich bei meiner Ankunft in Frankfurt trat ich als Mitglied der dortigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei, und zwar durch Vermittlung des damaligen Gewerkschaftssekretärs Albert Rudolf. Meine Haupttätigkeit bestand darin, dass ich vor den Mitgliedern wissenschaftliche Vorträge über Sozialismus hielt. Im Jahre 1910 kam ich nach München. Hier lernte ich meinen jetzigen Ehemann Dr. Eugen Lerch kennen. In München schrieb ich nur ab und zu einige Artikel für die Münchener Post und für den Vorwärts in Berlin.

Dann ging ich nach Gießen, wo ich meine bereits begonnenen Studien fortsetzte.

Am 30. Dezember 1912 wurde ich in Gießen als Dr. phil. promoviert und zwar aufgrund der Arbeit „Über die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Russland bis zur großen Revolution im Jahre 1905“. (Die Arbeit ist 1914 im Verlag Julius Springer in Berlin erschienen.)

Am 31. Dezember 1912 habe ich mich in Gießen mit Dr. Eugen Lerch verheiratet.

Nach der Verheiratung übersiedelten wir nach Berlin. In Berlin betätigte ich mich als Lehrerin, d.h. ich gab Privatstunden in slawischen Sprachen. Nachtragen muss ich, dass ich mich im März 1912 vierzehn Tage in Paris aufgehalten habe. Mein jetziger Ehemann befand sich nämlich studienhalber in Paris. Am 1. Oktober 1913 übersiedelten wir für ständig nach München. Seit diesem Zeitpunkt halte ich mich hier mit kurzen Unterbrechungen auf.

Mein Ehemann hat Scheidungsklage gegen mich gestellt, weil er Gegner meiner Tätigkeit ist.

Es folgen Auskünfte über ihre politische Selbstpositionierung: über ihren Beitritt zur „Unabhängigen Sozialdemokratie“ (USPD), der ihrer Einschätzung nach „einzigen Organisation Deutschlands“, die „energischer gegen den Krieg protestiert“, über die Standpunkte, für die sie sich bei den Arbeiterversammlungen während der Münchner Streikwochen einsetzte, über ihre Rolle „als Frau“ in ihrem Kampf gegen den Krieg und als „Gegnerin jeglicher anarchistischer Bewegungen“, weil nur „die Vereinigung der Proletarier aller Länder den Weltfrieden automatisch herbeiführen wird.“

Eine Vielzahl von Dokumenten enthält auch Günther Gerstenbergs Darstellung des „kurzen Traums vom Frieden“ Anfang 1918 in München – eingebunden hier in eine fortlaufende Schilderung und Kommentierung des Geschehens. Mit Sonja Lerch befassen sich gleich zwei lesenswerte Kapitel: ein „Exkurs von Cornelia Naumann über die Gießener Jahre“ und daran anschließend ein Kapitel über ihre Zeit im Gefängnis und über ihren Tod.

Den Informationen über ihre Jahre an der Universität Gießen sei hier noch die letzte Seite ihrer dort abgeschlossenen Dissertation als Dokument hinzugefügt. Sie ist über ein Internet-Archiv in San Francisco vollständig für jeden zugänglich (https://archive.org/details/zurentwicklungde00rabi). Dort steht am Ende ihr „Lebenslauf“:

Lerch-Lebenslauf

Nach den Kapiteln in den beiden Bänden von Gerstenberg und Naumann war Sonja Rabinowitz Mitglied im „Sozialistischen Jüdischen Arbeiterbund Russlands“ und vermutlich mit ihm „an der ersten russischen Revolution 1905 beteiligt.“ Nach dem Scheitern der Revolution wurden Juden unter der Zaren-Herrschaft zunehmend mit antisemitischen Repressionen, Vertreibungen oder sogar blutigen Pogromen konfrontiert. Das war der Grund für die Emigration der Eltern nach Frankfurt. Ihre Tochter wurde im Herbst 1906 oder Anfang 1907 in Odessa, wo sie studieren wollte und sich im „Arbeiter- und Deputiertenrat“ engagierte, verhaftet. Von Cornelia Naumann zitierte Bemerkungen des Vaters zum Zustand der Tochter legen nahe, so die Autorin: „Die gescheiterte Revolution, Haft und Pogrome haben Sonja traumatisiert.“ Im Juni 1907 schrieb der Vater in einem Brief: „Das arme Kind ist nicht normal“, und ein Jahr später berichtete er über „viel Kummer […] wegen Sarah, die entre nous gesagt gemütskrank ist“.

Der Vater stirbt im Dezember 1910 in einem psychiatrischen Krankenhaus, die Tochter ist mittlerweile Mitglied der SPD in Frankfurt, leistet dort „sozialistische Frauenarbeit“ in verschiedenen Organisationen und studiert als eine der ganz wenigen Frauen an der Universität Gießen. Im Herbst 1912 beendet sie die Arbeit an der Dissertation, heiratet Ende Dezember den Romanisten Heinrich Eugen Lerch und zieht mit ihm 1913 nach München.

Das anschließende Kapitel von Günther Gerstenberg konzentriert sich ganz auf die Wochen, die Sonja Lerch ab dem 1. Februar 1918 in Gefängnissen verbringt, und auf ihren Tod.  Ausführliche Zitate aus damaligen Zeugnissen zu dem Geschehen wechseln hier mit zum Teil kritischen Kommentaren dazu und zuweilen romanartigen Schilderungen dessen, was Sonja Lerch zu erleiden hatte. Es ist ein politisches Drama, das sich hier abspielt, ein Beziehungsdrama zwischen einer Frau und ihrem Mann und ein psychisches Drama in ihrer eigenen Person.

Am 2. Februar berichtet ein Staatsanwalt dem Justizministerium über die Auftritte Lerchs als Rednerin:

Es geschah dies meist im Anschluss an die Rede Eisners, dessen Ausführungen sie in leidenschaftlichster Weise zustimmte. Sie forderte dabei gleich Eisner zum Massenaufstand auf, sprach von der Verbindung des deutschen mit dem russischen Proletariat und begründete es namentlich in der Versammlung vom 31. Januar 1918 im Wagner-Bräu, dass der Freiheitsgedanke in München endlich zur Verwirklichung komme, und forderte dazu auf, die Arbeit nicht eher wieder aufzunehmen, bis die Freiheitsidee sich durchgesetzt habe. Auch ihre Reden übten auf die Anwesenden eine ausschlaggebende Wirkung im Sinne des Entschlusses der Arbeitsniederlegung und der Fortsetzung des Ausstandes aus. […] Beim richterlichen Verhör bestritt sie, Landesverrat begangen zu haben; in der Aufforderung zum Massenstreik erblicke sie keinen Landesverrat.

Zu dem Ehedrama referiert Gerstenberg einen Brief Sonja Lerchs vom 4. Februar an den  Münchner Ordinarius für romanische Philologie Karl Vossler, bei dem sich ihr Mann habilitiert hatte. Sie bittet ihn, zu verhindern, dass ihr Mann aufgrund ihrer politischen Aktivitäten in seiner Universitätskarriere beeinträchtigt wird. Heinrich Eugen Lerch hatte nach der Verhaftung seiner Frau eine Erklärung veröffentlicht, „dass er schon vor einiger Zeit die Scheidungsklage eingeleitet habe. Er wollte sich nicht die Karriere verderben“. Das steht im Rahmen eines umfangreichen, von Gerstenberg zitierten Tagebucheintrags von Kurt Eisner, geschrieben am 2. April im Gefängnis, ein Tag nach Sonja Lerchs Begräbnis.

Sonja Lerch habe „eingewilligt, die Ehe friedlich zu trennen“, notiert Eisner hier weiter. Er habe versucht, sie zu trösten: „Ein Mann der so handle, sei doch nicht wert, dass man seinetwegen leide.“ Sonja habe darauf erregt reagiert, darüber nicht mehr reden wollen und seiner Abwertung ihres Mannes widersprochen.

Da wusste ich, dass sie den Mann dennoch liebte. An dieser Liebe ist sie gestorben, an diesem schurkischen Frauenverrat. […] Ich sah sie seit unserer Verhaftung zweimal. […] Das zweite Mal sah ich sie im Hof des Untersuchungsgefängnisses; sie stand nass im Regen, frierend, völlig zusammengefallen, an die Mauer gelehnt, wie eine Versinnbildlichung der Obdachlosigkeit […]. Sie erlebte das Martyrium doppelt, als russische Sozialistin in der deutschen Partei und als russische Frau bei dem deutschen Universitätsgelehrten.

Das Ehe-, Scheidungs- und Liebesdrama wurde damals zum Gegenstand vieler privater und auch öffentlicher Auseinandersetzungen. In Tollers Masse Mensch weichen die Dramen-Fiktionen auch darin offenkundig von dem realen Geschehen ab, dass Sonja von ihrem Mann im Gefängnis besucht wird und beide hier über ihre unterschiedlichen Standpunkte, die Scheidung und ihre bleibende Liebe sprechen. Engeren Kontakt zu dem Ehemann hatte sein ebenfalls bei Karl Vossler habilitierter Kollege Victor Klemperer. In seinen ausführlichen Tagebuch-Aufzeichnungen, die ihn später berühmt machten, kommt er mehrfach auf Sonja Lerch zu sprechen. In einer längeren Passage, die Gerstenberg aus Klemperers Autobiographie Curriculum vitae über die Jahr 1881 bis 1918 als Dokument abdruckt, stehen Erinnerungen an den Zustand und an Aussagen Heinrich Eugen Lerchs nach dem Tod seiner Frau, die ein anderes Bild von ihm vermitteln.

Kurz nach dem Begräbnis haben Klemperer und seine Frau ihn in seiner Wohnung aufgesucht: „Wir waren die ersten Menschen, mit denen er sich nach dem qualvollen Begräbnis berührte. Er hockte in sich verkrochen zu Hause, niemand kam zu ihm.“ Ein zerrütteter, innerlich gelähmt wirkender, zuweilen weinender Mann habe ihnen zwei Stunden lang mit monotoner Stimme, „fast ohne Unterbrechung“, seine Sicht des Geschehens vermittelt. Trotz gemeinsamer „Kriegsabneigung“ habe Sonjas generelle „Deutschfeindlichkeit“ zwischen ihnen gestanden, ihr Hass auf „die deutschen Teufel“. Doch sie „hätten sich im übrigen geliebt wie früher“. Bei den Januarstreiks sei sie nicht mehr zu halten gewesen. „Sie drang auf Scheidung … Sie  wollte ganz frei sein.“ Er habe sie gewarnt, sei jedoch von ihr ausgelacht worden:

Sie war wie im Taumel, unter ihren Arbeitern sei sie vollkommen sicher, das weitere Blutvergießen, die neue Offensive werde verhindert werden, die bayrische Regierung werde zurücktreten, ihre Nachfolgerin, eine reine Arbeiterregierung, werde sofort Friedensschritte tun, denen sich gewiss das übrige Deutschland anschließe. Das Ganze, von ihrem ersten öffentlichen Auftritt bis zu ihrer Verhaftung, dauerte nur fünf Tage.

Im Gefängnis habe er sie nicht besuchen dürfen. „Sie wollte es nicht, aber vielleicht habe ich zu rasch nachgegeben.“ Doch dann kommt doch so etwas wie ein Eingeständnis möglicher Schuld: „man kann sagen, dass ich Sonja meiner Laufbahn geopfert habe.“

Eisner hatte am 2. April in sein Tagebuch geschrieben: „Die arme Sonja Lerch hat sich in Stadelheim erhängt. Nicht wegen des ,Landesverrats‘, sondern um der tiefsten Demütigung ihrer Frauenliebe zuvorzukommen.“ Dass eine persönliche Vernehmung vor dem Ehescheidungsgericht am 3. April vorgesehen war, könnte als Bestätigung für diese Einschätzung genommen werden. Auch in diesem Ehedrama lassen sich das Private und das Politische zwar nicht trennen, aber doch unterschiedlich akzentuieren. In einem von Gerstenberg zitierten Brief vom 27. Juni an Eisner bestätigt Clara Zetkin dessen Einschätzung, relativiert sie jedoch deutlich, indem sie die politische Enttäuschung der Freundin in den Vordergrund rückt: „Die Enttäuschungen der politischen Kämpferin sind verschärft worden durch die Tragödie des Weibes.“

Ein von Gerstenberg abgebildeter Bericht in der Leipziger Volkszeitung vom 12. April 1918 zeigt, dass die unterschiedlichen Annahmen zu den Todesumständen zu einem öffentlichen Politikum geworden waren:

Zum Freitod der Genossin Dr. Lerch im Münchner Untersuchungsgefängnis werden, wie die Fränkische Tagespost schreibt, „von zuständiger Seite“ Mitteilungen gemacht, in denen betont wird, daß sich bei der Verhafteten schon Anfang März „seelische Erregungszustände“ gezeigt haben, die zu ständiger ärztlicher Beobachtung und zur Ueberführung aus dem Gefängnis am Neudeck nach Stadelheim Anlaß gaben. „Die Erregungszustände kehrten auch in diesem Gefängnis, und zwar in den Nachmittagsstunden, öfter wieder. Frau Lerch wurde während dieser Zustände mit ihrer Zustimmung jeweils in einen gesonderten Haftraum verbracht. Dies geschah auch am 29. März, nachmittags 2 Uhr, als wiederum ein Erregungszustand bei Frau Lerch auftrat. Im Laufe dieses Nachmittags wurde vom Gefängnispersonal bei Frau Lerch wiederholt Nachschau gehalten und hierbei nichts Auffälliges bemerkt. Als kurz nach 4 Uhr nachmittags eine Aufseherin wieder zum gleichen Zwecke den Haftraum betrat, fand sie Frau Lerch erhängt vor. Diese hatte sich dazu ihres Schals bedient.“ Bei der „Nachschau“ scheint also einigermaßen oberflächlich verfahren worden zu sein. Recht naiv wird dann erzählt, daß die Gefangene noch am Tage vor ihrem Ableben im Gespräch mit dem Arzte keinen „Anhaltspunkt“ für Selbstmordgedanken erkennen ließ. – Es heißt weiter: „Im Gefängnis wurde ihr die Klage ihres Mannes gegen sie auf Ehescheidung zugestellt. Sie hat in der Ehescheidungssache an ihren Mann aus dem Gefängnis geschrieben, und nach ihrem Ableben wurde ein Brief an ihren Mann in ihrem Haftraum gefunden. Für den 3. April war der Termin anberaumt, in dem sie vor dem Ehescheidungsgericht persönlich vernommen werden sollte. Von diesem Termin erhielt sie vermutlich am Abend vor dem Tage ihres Ablebens Kenntnis. Das Ehescheidungsverfahren scheint auf ihren Seelenzustand ungünstig eingewirkt zu haben.“ Der Wert dieser Darstellung wird schon dadurch illustriert, dass man nicht einmal genau anzugeben weiß, wann die Verhaftete von dem Termin Kenntnis erhalten hat. –

Der Gothaer Generalanzeiger bemerkt dazu: „Wir können hierzu bestimmt versichern, daß die Ehescheidungssache bei unserer Genossin schon darum keine Gemütsstörungen hervorrufen konnte, weil der Antrag auf Scheidung ihren eigenen Wünschen entsprach. Die Ursachen des Zusammenbruchs liegen lediglich auf politischem Gebiete.“

Wie schätzt Günther Gerstenberg selbst in seinem Kapitel das Geschehen ein? Über weite Strecken lässt er die Dokumente für sich selbst sprechen. Auf zwei Seiten allerdings fühlt er sich gleichsam in das Schicksal von Sonja Lerch ein, schreibt mit viel Empathie wie aus der Perspektive eines allwissenden Romanerzählers, was sie dachte und fühlte:

Die Nächte zermürben Frau Lerch. Mit der Zeit wird ihr klar: Die kurzen Tage des Streiks vergingen wie im Rausch, der Aufstand vom Januar ist gescheitert, die Niederlage total, die Trennung von ihrem Mann steht bevor.

Selbstvorwürfe und Schmerzen in Folge tiefer seelischer Verletzung wechseln sich ab. Dann wieder denkt sie nüchtern, wägt ihre Aussichten ab, die sich von Tag zu Tag eintrüben, kommt auch auf den Gedanken, dass es für ihren Mann leichter wäre, wenn sie nicht mehr ist. Sie denkt für beide, er denkt an sich. Während sie in Untersuchungshaft sitzt, besucht er sie nicht ein einziges Mal.

In Stadelheim hat alles seinen geregelten Gang. Die herrschende Ordnung erstickt jede Gefühlsregung und sediert das Denken. Beschwerden sind wirkungslos. Dagegen anzuschreien ist zwecklos. Du darfst nicht leben und du darfst nicht sterben.

[…]

Es bleibt Sonja Lerch nur noch, dem Nichts zu entfliehen, in dem sie sich ihm in die Arme wirft. Ein letztes Mal behaupten sich Rudimente ihres Ichs, finden zu einer unumkehrbaren, existenziellen Entscheidung. Indem sie den Schemel umstößt, auf dem sie steht, und sich in die Schlinge ihre Schals fallen lässt, im Alter von 36 Jahren am Freitagnachmittag des 29. März um 16 Uhr in der Isolierzelle des Gefängnisses Stadelheim.

Eine Fußnote dazu, die auf mindesten vier verschiedene Versionen in den Darstellungen der Ereignisse verweist, stellt die eigene jedoch sogleich infrage. Einige Seiten später gibt Gerstenberg sogar zu bedenken: „Es ist bei Suiziden üblich, dass Untersuchungsrichter und Staatsanwaltschaft informiert werden und über eine Obduktion entscheiden. Nirgends finden sich trotz intensiver Nachforschungen Hinweise auf ärztliche Untersuchungen oder gar auf eine Autopsie. Haben die Behörden etwas zu verheimlichen?“ Hat sich Sonja Lerch vielleicht doch nicht selbst das Leben genommen, sondern ist getötet worden? Es sei allerdings „unerheblich“, fügt Gerstenberg hinzu, „ob sich Sonja Lerch selbst getötet hat oder nicht. Ihr Tod war nicht freiwillig, die Umstände haben sie dazu getrieben; eine Exekution kann auch indirekt erfolgen.“

Das Kapitel schließt mit der Beerdigung. Auch Polizisten sind dabei. „Ein Vertreter der USPD legt einen Kranz ans Grab mit der Bemerkung, die Polizei habe einen Nachruf auf Frau Lerch verboten.“ Einer, der doch reden will, wird daran mit Gewalt gehindert.

Der Grabstein im „Neuen israelitischen Friedhof“ Münchens ist irgendwann umgefallen und wurde mit der Schriftseite nach oben auf das Grab gelegt. 2015 säuberten zwei Frauen die Grabplatte und konnten dabei die Inschrift zum Teil entziffern. Gerstenberg beendet das Kapitel mit dem Hinweis: „Im September 2017 sorgten Cornelia Naumann und der Verfasser dieser Schrift dafür, dass der Stein wieder aufgestellt und gereinigt wurde. Das Grab kann besucht werden.“

Titelbild

Günther Gerstenberg / Cornelia Naumann (Hg.): Steckbriefe gegen Eisner, Kurt u. Genossen wegen Landesverrats. Ein Lesebuch über Münchner Revolutionärinnen und Revolutionäre im Januar 1918.
Edition AV, Lich 2017.
303 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783868411737

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Günther Gerstenberg: Der kurze Traum vom Frieden. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Umsturzes in München 1918 mit einem Exkurs über Sarah Sonja Lerch in Gießen von Cornelia Naumann.
Edition AV, Lich 2018.
442 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-13: 9783868411898

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Cornelia Naumann: Der Abend kommt so schnell. Sonja Lerch – Münchens vergessene Revolutionärin. Roman.
Gmeiner Verlag, Meßkirch 2018.
411 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783839221990

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