Zwischen Film und Literatur
„Abgedreht“ dokumentiert die gleichnamige Ausstellung im Marbacher Literaturmuseum der Moderne
Von Thomas Merklinger
Eine Filmklappe zu dem Sator-Film Hinter dem Vorhang von 1978, ein Rudolf Forster überreichter Bambi von 1963 sowie der 1969 an Erich Kästner verliehene Deutsche Filmpreis für dessen Verdienste um den deutschen Film: Diese Objekte stehen zwar am Anfang des Dokumentarteils zur Marbacher Ausstellung „Abgedreht. Literatur auf der Leinwand“, aber nicht im Mittelpunkt. Die Literaturverfilmung, der von einem Kinderbuchklassiker inspirierte Filmpreis und der für die Filmindustrie schreibende Autor weisen exemplarisch auf das vielfältige intermediale Verhältnis von Literatur und Film. In den Fokus gerückt wird dieses vor allem durch ausgewählte Text- und Bilddokumente aus dem Marbacher Archiv, die in qualitativ hochwertigen und durchweg farbigen Abbildungen in dem von Vera Hildenbrandt und Michael Töteberg herausgegebenen Marbacher Magazin 180 wiedergegeben sind.
Seit etwa 50 Jahren sammelt und archiviert das Deutsche Literaturarchiv Marbach gezielt auch auktoriale Texte, die mit dem Film verbunden sind. Für den 3. Teil des Ausstellungsprojekts #LiteraturBewegt, das vom 25. September 2022 bis 23. April 2023 im Literaturmuseum der Moderne stattfand, konnten einige dieser Archivalien besichtigt werden. Der von Vera Hildenbrandt, der Leiterin des Literaturmuseums der Moderne, sowie von Katharina Hertfelder und Alina Palesch betreute Dokumentationsteil des Marbacher Magazins präsentiert in zwölf thematischen Abteilungen einzelne Ausstellungsstücke mit einem kurzen Informationstext. Hier stehen zunächst sechs filmische Beispiele von 1930 bis 2017 im Zentrum, bevor übergeordnete Beziehungsfelder zwischen Literatur und Film dargestellt werden. Kontextualisiert werden die Dokumente durch einen einführenden und einordnenden Essay von Michael Töteberg, der die Ausstellung als wissenschaftlicher Berater begleitet hat.
Der 1930 erschienene Ufa-produzierte Film Der blaue Engel eröffnet den Band und zeigt beispielhaft, wie Filmproduktionen auf literarische Vorlagen zurückgreifen und dabei in einem kollektiven Kreativprozess ein neues Produkt schaffen. Schon die überladene Titelei verweist auf eine komplexe Entstehung des in Marbach aufbewahrten Filmskripts. Der Vorspann vermerkt: „frei nach dem Roman ‚Professor Unrat‘ von HEINRICH MANN. Unter Mitwirkung des Autors für den Tonfilm geschrieben von CARL ZUCKMAYER und KARL VOLLMÖLLER. Drehbuch: ROBERT LIEBMANN.“
Was in der zeitgenössischen Filmkritik verlacht wird („Wenn die Ufa literarisch wird, tut sie es nicht unter drei Autoren für einen Film“), ist jedoch nicht unüblich, wie Zuckmayer in seinem Text Aufmarsch der Filmautoren herausstellt, stehen doch bei den meisten Filmen zahlreiche Autorennamen im Vorspann „störend und zudringlich wie die Billeteure vorm Eingang“. Filme entspringen einer „Kollektivarbeit“, bei der die Beteiligten im Nachhinein nicht mehr genau sagen können, von wem welche Idee stammt. Zuletzt hat sich dann gar der Regisseur Josef von Sternberg die Urheberrechte am Drehbuch zu Der blaue Engel gerichtlich erkämpft.
Die Filmindustrie schmückt sich gerne mit großen Namen aus der Literatur, schafft in erster Linie aber doch für den Massengeschmack: „,Sie wollen‘, sagte mir einst ein großer Schriftsteller, ,einen Film mit meinem Namen und mit dem Inhalt von der CourthsMahler‘“, heißt es in einem Text Kurt Tucholskys für die Weltbühne. So erweist sich die Zusammenarbeit mit dem Film für Literaturschaffende als zweischneidiges Schwert, da sie zwar Einnahmen generiert, andererseits aber die Kontrolle über die Adaption des eigenen Werks weitgehend aus den Händen gibt. Auch Der Blaue Engel weicht insbesondere im zweiten Teil deutlich von der Romanvorlage ab, insofern die gesellschaftskritisch-satirische Intention der Vorlage durch eine moralkonforme Verfallserzählung ersetzt wird. Heinrich Mann hat sich darüber zumindest nicht öffentlich beklagt.
Ist die Verfilmung bereits vorhandener Texte der Regelfall, gibt es aber auch das umgekehrte Phänomen, dass ein nicht realisierter Drehbuchentwurf zum Roman umgearbeitet wird. Erst der Umweg über den Bucherfolg bringt die Idee schließlich auf die Leinwand. Jakob der Lügner etwa wurde erst Jahre später von der DEFA verfilmt, nachdem Jurek Becker das Drehbuch als Roman veröffentlicht hat, und auch Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. basiert auf einem 1968 angefertigten, von der DEFA verworfenen Treatment, bevor schließlich eine Theaterfassung 1976 in Westdeutschland verfilmt wurde. Thomas Brussig hingegen hat beide Verwertungsweisen gewählt und parallel zur Verfilmung seines Originaldrehbuchs durch Leander Haußmann die Romanfassung Am kürzeren Ende der Sonnenallee verfasst. Ausführlicher präsentiert findet sich im Ausstellungsband die Entstehungsgeschichte von Erich Kästners Das doppelte Lottchen. 1951 erstmalig ins Kino gekommen, hat Kästner die Idee bereits 1937 Robert Lantz, der damals für das amerikanischen Filmstudio 20th Century Fox arbeitete, als „Filmexposé für Shirley Temple. (Doppelrolle)“ noch unter dem Titel Zum Verwechseln ähnlich angeboten. 1943 konnte das bereits fertige Treatment Das große Geheimnis nicht filmisch umgesetzt werden, weil Kästner nun endgültig Schreibverbot erteilt worden war. Nach Veröffentlichung des Romans 1949 ergab sich dann allerdings doch noch die Verfilmung durch Josef von Baky, der bereits im ersten Anlauf für die Regie vorgesehen war.
Viele der vorgestellten Dokumente aus dem Marbacher Archiv zeigen Briefe, aber auch Textzeugnisse des filmischen Herstellungsprozesses, wie etwa Dreh- und Schnittpläne, Rollenübersichten, Drehbuchauszüge sowie Kalkulationen und Abrechnungen, wobei sich je nach Film bestimmte Schwerpunkte ergeben. Die Dokumente erzählen zunächst kleine Geschichten über ausgewählte Filmprojekte, werfen im Ganzen aber auch Schlaglichter auf die Geschichte des deutschen Films. Als Gemeinsamkeit ergibt sich der Bezug zur Literatur. Genauer betrachtet werden dabei der von Ottomar Domnick in Personalunion als Drehbuchautor, Regisseur und Produzent gestaltete Avantgardefilm Jonas von 1957. Die „textierung“ für den bereits abgedrehten Film stammte von dem damals noch nicht durch Buchveröffentlichungen in Erscheinung getretenen Hans Magnus Enzensberger. Ein weiteres vorgestelltes Projekt ist der als Teil eines multimedialen Zyklus 1986 für das Fernsehen gedrehte Spielfilm Polenweiher von Thomas Strittmacher, der auf ein gleichnamiges Theaterstück, Hörspiel sowie eine Reihe von Bildern und Zeichnungen folgt. Ebenfalls nachgezeichnet wird die Genese der von Thomas Kuchenreuther, einem Münchner Kinobetreiber, verfolgten Idee, Ingeborg Bachmanns Roman Malina zu verfilmen: Dies erforderte nicht nur ausführliche Verhandlungen mit dem Suhrkamp Verlag und den Erben, sondern auch viel Geld. Nach zwei abgelehnten Drehbuchentwürfen aber kam der von Werner Schroeter nach einem Drehbuch von Elfriede Jelinek gedrehte Film schließlich 1991 mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle in die Kinos, begleitet von einem Filmbuch mit dem Drehbuchtext und Standbildern.
Unter dem Titel Babylon Berlin sind seit 2017 bislang vier Staffeln der Serienadaption von Volker Kutschers Gereon Rath-Romanen abgedreht, eine weitere, fünfte Staffel ist geplant. Die ausgestellten Materialien zu der Serie zeigen unter anderem Kutschers Charakterisierung seiner Hauptfigur sowie „Casting-Ideen“ zu zentralen Figuren, die einen Einblick in die Vorstellungswelt des Autors geben. Auch wenn die Vorschläge bei der endgültigen Besetzung nicht umgesetzt worden sind, bleiben sie doch weitgehend typkonform – statt Benjamin Stadler erhält Volker Bruch die Rolle Raths, die Rolle von Charlotte Ritter wird von Liv Lisa Fries gespielt, statt wie vorgeschlagen von Anna Fischer oder Alina Levshin. Neben Drehbuchauszügen werden insbesondere die aufwändigen Kulissen vorgestellt, die in Potsdam und Berlin die 1920er Jahre wiederbeleben.
Während das Verhältnis von Literatur und ihrer Verfilmung mittlerweile auch die Form des seriellen filmischen Erzählens miteinschließt und der TV-Serie – wie die von der ARD mitproduzierte Serie Babylon Berlin zeigt – damit ebenfalls Kunstcharakter zuerkennt, wurde das Fernsehen nicht nur für Qualitätsverlust, sondern auch für ein Kinosterben in den 1960er Jahren verantwortlich gemacht. Als Reaktion wird 1962 mit dem „Oberhausener Manifest“ unter der Überschrift „Papas Kino ist tot“ eine Erneuerung des Films angestrebt. Wie in anderen Ländern, in Frankreich etwa die Nouvelle Vague, geht der „Neue Deutsche Film“ (NDF) nicht nur alte Sehgewohnheiten an, sondern nimmt sich auch literarische Texte vor. Herbert Vesely gelingt es, die Rechte an Heinrich Bölls Erzählung Das Brot der frühen Jahre zu erhalten, Hans-Jürgen Pohland verfilmt Günter Grass’ Novelle Katz und Maus und Volker Schlöndorff stößt durch die Bekanntschaft mit Alexander Kluge ebenfalls zum NDF. Eine von Schlöndorffs zahlreichen Literaturverfilmungen, Die Blechtrommel, wird dann bekanntermaßen mit einem Oscar ausgezeichnet.
Zu den präsentierten Archivalien des Marbacher Archiv ab den 1920er Jahren gehören auch Dokumente zur Emigrationsgeschichte deutscher Filmschaffender nach Hollywood, die insbesondere am Beispiel Salka Viertels vorgestellt werden. Zudem werden Zeugnisse zur Rolle der Ufa im Dritten Reich sowie der literarischen und theoretischen Auseinandersetzung mit dem neuen Medium des Films gezeigt. Das Verhältnis von Literatur und Film erweist sich dabei als eines wechselseitiger Inspiration. Nicht nur Filmschaffende können sich für Literatur begeistern, auch Schreibende gehen ins Kino und verarbeiten das Geschaute literarisch und theoretisch. Von Yvan Goll etwa finden sich Auszüge einer Chapliniade und Jakob van Hoddis, Kurt Tucholsky und andere haben Film- beziehungsweise Kinogedichte verfasst. Filme sind Teil der (auktorialen) Lebenswelt, so dass filmische Erzähltechniken auch in literarischen Erzähltexten aufgegriffen werden. Wolfgang Koeppen ist sicherlich eines der bekanntesten Beispiele aus der modernen Nachkriegsliteratur, und für die Gegenwartsliteratur ist der Bezug zum Film nicht wegzudenken. Bodo Kirchhoff, Clemens Meyer, Ulrich Peltzer, Helmut Krausser, Daniel Kehlmann unter anderem haben für Film und Fernsehen geschrieben. Auch viele Werke der zeitgenössischen Literatur sind (mehr oder weniger erfolgreich) verfilmt worden, gleichzeitig finden auch filmische Erzählformen Eingang in die Gegenwartsliteratur – Töteberg nennt hier beispielhaft Helmut Krausser, und es ließe sich ergänzen, dass er darüber hinaus auch serielle Erzählstrukturen adaptiert.
Wie das Radio etwa im Bereich des Hörspiels zu bedeutsamen Synergieeffekten zwischen literarischen Texten und den neuen medialen Möglichkeiten geführt hat, zeigen sich auch zwischen dem Kino, dem Spielfilm und neuerdings der Serie relevante Wechselbeziehungen, denen das Deutsche Literaturarchiv Marbach im Rahmen einer Ausstellung nachgegangen ist. Zum erhaltenswerten Vor- und Nachlass gehören daher – das zeigt der Band eindrucksvoll – inzwischen auch zahlreiche Textzeugnisse und Dokumente, die der intermedialen Zusammenarbeit von Literatur und Film entspringen.
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