Toxische Verhältnisse

Ekaterine Togonidze zeigt in „Orkan. Drei Erzählungen“ Schattenseiten von Erfolg und vitaler Tradition in Georgien

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Erzählungen, fünf Schicksale, Tiflis als urbane Kulisse georgischer Gegenwart, Dörfer als Räume der Herkunft, es geht um körperliche Behinderung, um die Beschränkung individueller Selbstbestimmung und um toxische Verhältnisse. In D-e-r a-n-d-e-r-e W-e-g tastet sich die blutjunge Deutsche Lisa Schmidt an den berühmten georgischen Bildhauer Alexander Chotivari für ein Interview heran. Der „Michelangelo unserer Zeit“ ist blind, er ertastet mit weißem Stock seinen Alltag und mit den Händen seine Kunst. Der Bildhauer ist wenig gesprächig, seine Augen verbirgt er hinter einer schwarzen Brille, aber die 33 Buchstaben des georgischen Alphabets, die als Tattoo auf dem Rücken der Journalistin prangen, bringen ihn aus der Fassung. Kann der Mann doch sehen?

Aufschluss gibt Alexanders Kindheit. Der empfindsame Junge ist Legastheniker und mit diesem Defekt enttäuscht er seine alleinerziehende Mutter und die gesellschaftlichen Entscheider. Die fehlende Aufmerksamkeit zu Hause und der lieblose Umgang auf der Internatsschule für Sehbehinderte durch die Erzieherinnen prägen das Kind, das sich verschließt und widerspenstig wird. Dafür offenbart sich sein künstlerisches Talent. Er, den die Buchstaben behindern und stigmatisieren, sucht Ausweg in einer fingierten Blindheit, die zwar keine weniger ausgrenzende Behinderung bedeutet, dafür eine, durch die sein Kunstvermögen umso stärker hervortritt. Statt zu lesen und zu schreiben, knetet Alexander Figuren, die seiner Sehnsucht nach Geborgenheit Ausdruck verleihen, seine Vereinsamung aber nicht aufhalten. Derweil gesellt sich Eros zu der geschmeidigen Journalistin und dem wortkargen Bildhauer und entfacht einen Vulkan der Leidenschaft, der sich als einseitig vergiftet erweist. Wie in einer Detektivgeschichte werden Spuren gesammelt und Details kombiniert, wodurch Alexanders emotionale Erkaltung und Abschottung erkennbar wird. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und Pygmalion, jenem ovidschen Verwandlungs-Künstler, der zum Frauenfeind wurde und dennoch das Weibliche ersehnte, bietet sich an. Ist das kurze Prosastück mit diesen Ingredienzien nicht etwas überladen? Die Geschichte scheitert jedenfalls nicht, denn sie extrapoliert emotionale Vernachlässigung, Vorurteile gegenüber Behinderung und Liebes- und Karrierenöte plausibel als Kräfte, die Menschen tragisch verformen können.

Die zweite Erzählung, Das bin ich, problematisiert den Druck auf Frauen und den Wahn, schön zu sein. Iamses Verwandlung setzt mit der teils eigenständigen, teils von außen initiierten Änderung ihres Namens ein: „Meine Mutter nannte mich Iamse. Ich selbst nannte mich Ia. Mein Freund taufte mich in Iana um. Seit ein paar Jahren bin ich allerdings J-ana und keine I-ana mehr.“ Nach diesem Geständnis berichtet Iamse offen weiter, wie sie sich selbst abhanden kam, und sie rekapituliert ihren sich schrittweise vollziehenden Identitätswechsel; oder Identitätsraub; oder wie sie es zuließ, dass man ihr ihre Identität nahm. Schritt für Schritt passt sich die vom Land stammende junge Frau in der Stadt an ein massenmedial propagiertes Schönheitsideal an, lässt ihren Körper in kosmetischen Operationen bis zur Unkenntlichkeit umformen. Der plastische Chirurg, mit dem sie sich auch noch verpaart, ist ein paternalistischer, emotional erkalteter Demiurg, ähnlich Alexander, bloß dass er lebendige Kunstwerke erschafft. Die überformte Frau, die „mit ihrer Vergangenheit nichts mehr gemein hat“, wird von ihrem früheren Ich in einem wiederkehrenden Alptraum so lange aufgeschreckt, bis sie ihr fremdbestimmtes Dasein verlässt und wie die verlorene Tochter zurück in ihr Heimatdorf findet. Dort erkennt sie niemand mehr, längst sind die jungen Leute weggezogen, aber es gibt die Erinnerung an früher und auch an Iamse. Einen möglichen Neuanfang symbolisiert Iamses Schwangerschaft.

Orkan Margo, die Protagonistin der gleichnamigen dritten Erzählung, stammt ebenfalls vom Land, studiert in der Hauptstadt, tanzt für ihr Leben gern und hat zwei charmante Eigenarten: einen braunen Fleck auf der Wange und eine R-Aussprechblockade. Sie sagt ‚walum‘, oder ‚Blot‘, ihr eigener Name gerät ihr zu Olkan Malgo. Im Französischen, das sie fließend beherrscht, hingegen „gurrt sie vergnügt die Worte mit R … und spricht laut und deutlich ihren Namen aus – MARGO.“ Margo ist hübsch und sie ist überzeugt, dass in ihr eine interessante Person steckt. Allerdings beschneiden das kindhafte Lispeln und viel zu jugendliche Aussehen zugleich ihr Selbstwertgefühl; mehr noch, sie weiß, dass „wo wir geboren wurden, das Wort eines Mannes nicht nur über dem einer Frau, sondern auch über dem Gesetz stand. Religiöse Sitten und Bräuche sowie der Aberglaube waren unantastbar.“ In der Großstadt lebt Margo indessen fast selbstbestimmt, und sie erfährt ein erstes Liebesglück mit einem Franzosen. Der konfrontiert sie zugleich mit einer aufgeklärten egozentrierten Unverbindlichkeit getreu der Devise, jeder ist frei und möge tun, was ihm oder ihr gefällt, solange er oder sie den anderen respektiere, nur kümmern solle man sich vor allem um sich selbst.

So liberal die Verhältnisse des Tifliser Alltags prima vista scheinen, so rigide erweist sich das gesellschaftliche Fundament aus langlebiger Tradition, auf die sich u.a. die männliche Dominanz beruft. Ramas, ein junger Mann aus demselben Dorf wie Margo, der im Anschluss an die Beerdigung ihres Großvaters und wie durch Tradition dazu ermächtigt (scheinbar hat die Mutter ihn darum gebeten), die Rolle des männlichen Beschützers und Bestimmers für sie einnimmt (der Großvater tot und vom Vater keine Spur), dieser Ramas, dem Margo aber bezeichnenderweise auch nur kleinmütig widerspricht, wird ihr mit patriarchalischer Beschränktheit zum Verhängnis. Der Orkan, den Margo wie eine Verheißung als Beinamen trägt, kann nur für andere zu einem Sturm der Befreiung aus toxischen Verhältnissen der Behinderung und Fremdbestimmung werden, um herkunftsbewusst und zugleich aufgeschlossen in der Welt von heute zu leben.

Togonidzes Prosa führt an unspezifische, allein durch Stadt-Land-Kontraste markierte Schauplätze und Sozialräume im zeitgenössischen Georgien. Im Mittelpunkt stehen Charaktere, die mit ihrer Vergangenheit und den Verhältnissen hadern, aus denen sie stammen. Alexander hat sich radikal von allem, was ihn mit früher verbindet, getrennt. Emotional beschädigt, ist er vereinsamt und verbittert trotz seines Erfolgs. Die Begegnung mit der jungen Deutschen bringt ihn schließlich in Gefahr, den Verstand zu verlieren. Iamse und Margo haben ihre Familien und die Dörfer, aus denen sie stammen, weit oder ganz hinter sich gelassen und vergessen. Iamse besinnt sich in einer profunden Krise auf ihre Herkunft, während Margo erst sanft, dann gewaltsam aus der selbst errungenen Freiheit in der Stadt in die traditionslegitimierte Patriarchalität ihres Dorfes zurückgeholt wird. Die aufgeschlossene, umtriebige Lisa Schmidt will im männlich dominierten Mediensektor Karriere machen und nimmt dafür auch ein unmoralisches Angebot in Kauf. Ramas ist heillos in einer Vorstellungs- und Realwelt gefangen, in der Männer das Sagen haben und körperliche Gewalt gegenüber Frauen traditionell geduldet wird. In diesen Konstellationen werden Blicke auf die kollektive Mentalität und die Spielregeln einer Gesellschaft möglich, in der Selbstermächtigung und Autonomie des Einzelnen, vor allem junger Frauen, nicht einfach zu haben sind.

Der Stil der Darstellung ist sanft; übersteigerte Dramatik oder schrille Töne bleiben außen vor, dabei knistern die Texte inhaltlich vor latenter und offener Aggression. Die Prosa ist auch unter erzählerischem Gesichtspunkt bemerkenswert, weil sich die Handlungen nach ganz unprätentiösen Anfängen geradezu listig zuspitzen und die Figuren dramatisch herausfordern. Klischeehafte wie außergewöhnliche Namen (Lisa Schmidt, Orkan Margo, Iamse), trockene Alltagsrealität und Mythosparallele, Bericht, konventionelles Linearerzählen wie bühnenartige Szenographie (im Atelier des Bildhauers), innerer Monolog, Traumsequenzen oder das Resümee einer Toten aus der Zukunft, Vernakularsprache und starke poetische Bildhaftigkeit (etwa im Sexuellen): Dieser abwechslungsreiche literarische Ausdruck macht die ästhetische Qualität der Erzählungen aus. Kein süffisantes und kein extrovertiertes Erzählen, sondern belastete Charaktere in mit wenigen Strichen entworfenen, dennoch atmosphärisch dichten und psychisch belastenden Sozialräumen.

In den Episoden gibt es anders als in dem in Urlaubsprospekten beworbenem Land Georgien mit dem schönen Menschenschlag, den kulinarischen Raffinessen, der kaukasischen Archekultur und landschaftlichen Vielfalt wenig Frohsinn. Wenn, dann ist er dort spürbar, wo junge Menschen in der ‚enthegten‘ modernen Großstadt oder in den Dörfern der Herkunft, in denen die Männer nicht länger das Regime führen, selbstbestimmt leben. Ob das in Wirklichkeit auch so ist, wer weiß.

Titelbild

Ekaterine Togonidze: Orkan.
Aus dem Georgischen von Katja Wolters.
Septime Verlag, Wien 2021.
220 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783991200048

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