Multiperspektivisches Potpourri epistemologischer Fragen
In „E.E.“ lässt Olga Tokarczuk Spiritist:innen, Mediziner und Psychoanalytiker miteinander diskutieren
Von Anne Amend-Söchting
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseOlga Tokarczuk, die 2019 für das vorhergehende Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, veröffentlichte 2022 den Roman Empuzjon. Horror przyrodoleczniczy, der ein Jahr später unter dem Titel Empusion. Eine naturheilkundliche Schauergeschichte auf Deutsch erschien. Der rundum faszinierende und unzweifelhaft von Thomas Manns Zauberberg inspirierte Roman spielt im Jahre 1913 in Görbersdorf, dem „schlesischen Davos“.
In den Diskussionen der Protagonisten dieses Romans bleibt die intendierte Parodie auf den omnipräsenten Misogynie-Diskurs des beginnenden 20. Jahrhunderts zwar manchmal versteckt, aber es kristallisiert sich deutlich heraus, dass Frauen nichts zu sagen haben, dass der Diskurs über sie und ihre vermeintlichen Wesenszüge nicht mit ihnen stattfindet.
In E.E., Tokarczuks Erstling, 2005 im polnischen Original publiziert und nun ins Deutsche übersetzt, kommt Frauen eine kaum minder untergeordnete Rolle zu. Sie sind Gebärende, Leidende und medial Begabte. Immerhin sind einige von ihnen, im Unterschied zu jenen in Empusion, in der Lage, sich von den Erwartungen, die man traditionellerweise an sie heranträgt, zu emanzipieren.
Das, was sich knapp 20 Jahre später in Tokarczuks Texten in ausgereifterer und subtilerer Form offenbart, ist in E.E. vorzüglich angelegt: das Porträt einer Epoche, in der diskrepante ideologische und epistemologische Fragen intensiv diskutiert werden, konkret 1908 in großbürgerlichen Kreisen in Breslau.
Hinter E.E., den Initialen,verbirgt sich Erna Eltzner. Sie, ein Sandwichkind zwischen drei und vier Geschwistern, wird im Alter von 15 Jahren am Mittagstisch plötzlich ohnmächtig. Danach erzählt sie, dass sie einen Geist erblickt habe, dessen Gestalt durch das Tapetenmuster schimmerte. Während Doktor Löwe, der Hausarzt, vor allem zuständig für die „Nervenanfälle“ und Migränen der Mutter, dafür plädiert, so zu tun, als sei nichts geschehen, spricht sich Walter Frommer, ein Freund der Familie und leidenschaftlicher Spiritist, dafür aus, mit Erna eine Geisterbeschwörung zu veranstalten, um zu testen, ob sie die Gabe eines Mediums besitze. Frau Eltzner, ebenfalls Anhängerin okkultistischer Praktiken, lädt Bekannte ein, steckt ihre mittlere Tochter in ein weißes Kleid und ist d’accord, dass sie in einen Zustand des Halbschlafs versetzt wird. In den von Frommer und seiner Schwester Therese geleiteten Sitzungen hat Erna das Gefühl, dass ihr Geist den Körper verlasse und sie mit Wesen aus einer anderen Sphäre kommuniziere. Doktor Löwe, der bei all dem zugegen ist, zeigt Skepsis; nicht ganz so intensiv wie Arthur Schatzmann, ein Student der Medizin, der seine Mutter zu den Eltzners begleitet hat.
Es finden mehrere Séancen mit jeweils derselben Choreografie statt. Zischen ihnen erteilt Walter Frommer seinem Medium, dem er sich „wie ein Vater“ zuwendet, Unterricht in Sachen Spiritismus. Erna empfindet nur Langeweile. Friedrich Eltzner, Ernas Vater, kommt Arthur Schatzmanns Bitte nach, Erna in einem medizinisch-neurologischen Labor mit neuen Methoden und Instrumenten, z. B. einer Art EEG-Gerät, untersuchen zu lassen. Parallel dazu laufen die Séancen weiter, bis Erna so erschöpft ist, dass die Mutter beschließt, mit ihren Kindern in die „Sommerfrische“ zu fahren.
Als sie wieder in Breslau sind, werden die Sitzungen wieder aufgenommen, doch Erna fällt nicht mehr in Trance. Außerdem stören die zehnjährigen Zwillinge den Ablauf, indem sie mit Fäden präparierte Schranktüren aus den Angeln heben und Bilder von der Wand fallen lassen.
Frommer, der sich seit Langem zu Frau Eltzner hingezogen fühlt, erklärt ihr seine Liebe und verfällt daraufhin in einen Zustand der Melancholie. Der betagte Doktor Löwe stirbt an einer Pneumonie und Schatzmann bringt sein Medizinstudium zu Ende. Als er gerade seine Praxis als Psychiater eröffnet hat, 1914, wird er einberufen.
E.E. besticht durch einen kohärenten und gleichzeitig unspektakulären Plot ohne größere Volten oder Überraschungen. Zu begrüßen ist, dass Tokarcuk auf abschließende Erklärungen für parapsychologische Phänomene, z. B. Telekinese, Levitation oder Austreten von Ektoplasma, verzichtet. Im Einklang mit Tzvetan Todorovs Theorie des Fantastischen bleibt die Spannung zwischen Natürlichem und Übernatürlichem bestehen, obgleich eine klare Tendenz in Richtung Erklären des Außergewöhnlichen mit Psychoanalyse und Neurologie auszumachen ist.
Auf einer Metaebene besitzt E.E. fast das Statische einer „Séance“, die aus den polyvalenten Kommentaren der Charaktere, in denen epistemologische Grundfragen zur Debatte stehen, eine hochgradig dynamische ideengeschichtliche Attraktivität bezieht: Mit Begriffen wie „physischer Leib“, „Ätherleib“ und „Astralleib“ und für Erna vereinfachten Ausführungen positioniert sich Walter Frommer als Theosoph, ansatzweise Anthroposoph, durchdrungen von den Ideologemen einer Helena Blavatsky oder eines Rudolf Steiner. Demgegenüber spricht sich Doktor Löwe für eine therapeutisch-pragmatische Sichtweise aus. Er ist der praktizierende Arzt, dem es in erster Linie darum geht, seine Patient:innen zu heilen. Zustände zwischen Wachheit und Schlaf ordnet er als eine Form des Wahnsinns ein. Arthur Schatzmann schließlich ist Physiologe durch und durch. Seinen „Entwurf der Funktionen des limbischen Systems“ definiert er als „Entréebillet in die Welt der Wissenschaft“. Doktor Löwe stellt für ihn den Kontakt zu dem Psychoanalytiker Professor Vogel her.
Zu den stärksten Passagen des Romans gehören die Ausführungen des Professors, der sich in Anlehnung an Sigmund Freud und dessen Vorgänger Pierre Janet und Jean-Martin Charcot mit Hypnose und der damaligen Modediagnose Hysterie beschäftigt. Er sagt (und impliziert damit Freuds Überzeugung): „Wir müssen uns entscheiden, ob wir uns mit der menschlichen Seele befassen wollen oder mit den Signalen einer Hirnaktivität. In einer späteren Etappe kommen wir vielleicht zu dem Schluss, dass diese Dichotomie nur eine scheinbare war, doch für den Augenblick müssen wir uns für eine der beiden Perspektiven entscheiden“.
Schatzmann, elektrisiert von diesen Worten, wird nach einer Synthese suchen und seinen Weg unbeirrt fortsetzen. Tragischerweise macht ihm der Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen Strich durch die Rechnung.
Jeder Einzelne aus dem disharmonischen Trio erhebt Erna zum Objekt seines weltanschaulichen Diskurses. Zwischen Frommer und Schatzmann eskaliert der Konflikt, als Erna in Schatzmanns Labor untersucht werden soll: sie werfen sich gegenseitig vor, Erna auf den Status eines Gegenstands zu reduzieren – ein „Gegenstand, der Phänomene“ hervorbringe, so Schatzmann zu Frommer, und „ein Forschungsobjekt, eine Schachtel voller Erscheinungen“, die er für seine Doktorarbeit ausbeuten wolle, so Frommer zu Schatzmann. Im Gegensatz zu ihnen sieht Dr. Löwe die vermeintlichen telekinetischen Phänomene als „unerforschte Energie“ an, die der Wandlung eines Mädchens zur Frau dienlich sei. Ab einem bestimmten Moment, nach ihrer Menarche, kann Erna nicht mehr in Trance fallen. Sie möchte nicht mehr auf die Séancen angesprochen werden. Von den Erwartungen, die an sie herangetragen wurden, hat sie sich distanziert.
Die anderen Frauenfiguren des Romans bleiben im Hintergrund – teils sind sie als ziemlich flache Charaktere konstruiert, teils verfügen sie über Entwicklungspotenzial. Therese Frommer etwa, eine hochtraumatisierte Frau, die als Kind den Suizid ihrer Mutter miterlebt hat, mutiert von der stets im Schatten ihres Bruders stehenden Spiritistin zur Skeptikerin. Sie vertritt eine nahezu radikal konstruktivistische Position, wenn sie ihre Welt als „eine Welt der Illusionen, Ideen und Vorstellungen, eine Welt der Gewohnheit, das Gesehene als Wirklichkeit zu betrachten“, klassifiziert. Sie beobachtet genau und entdeckt, dass die Zwillinge alle zum Narren halten.
Frau Eltzner hingegen ist nicht zuletzt deshalb Adeptin spiritistischer Séancen, weil diese ihr eine Bühne bieten, auf der sie sich in die „Rolle einer Theaterdirektorin“ hinein imaginieren kann. Ihre Schwägerin Gertrude indessen genießt es, allein mit ihren Hunden auf dem Landsitz der Familie Eltzner zu residieren. Sie scheut sich nicht davor, die Séancen als „Firlefanz“ zu dysphemisieren. Erna solle eine geeignete Ausbildung absolvieren.
Sehr erfrischend wirken die Zwillinge Katherine und Christine, die mit allem Okkulten einen sehr spielerischen Umgang pflegen, sich mit Zauberkünsten beschäftigen und damit die letzte Séance torpedieren. Ihnen zur Seite steht das Dienstmädchen Greta, die Frommer mit prononciertem Widerwillen begegnet, nach außen zerstreut wirkt, aber alle Geschehnisse in ihrem Umfeld akribisch registriert und deutet.
Aspekte aus Medizin und Psychoanalyse prägen auch die Form des Romans. So konstituieren Arthur Schatzmanns Notizen in ihrer Gesamtheit den Werdegang des Mediums E.E. und erinnern an Freuds Fallgeschichten. Sie dienen Schatzmanns Dissertation über „unbewusste Persönlichkeiten in den Hirnregionen, die unmittelbar an das Sprachzentrum grenzen“. Das „Objekt“ seiner Studien, Erna, schweigt nicht durchweg, sondern kommt zumindest in einem anamnestischen Gespräch zum Zug.
So wie in ihren späteren Romanen entscheidet sich Olga Tokarczuk in E.E. für den Einsatz einer heterodiegetischen Erzählstimme, mit der sie all ihre Figuren im Blick hat. Fast alle Kapitel sind mit Namen von Akteur:innen überschrieben, so dass mit entsprechenden Fokussierungen, d. h. unterschiedlichen Modi, zu rechnen ist. Nicht selten manifestiert sich dabei eine Diskrepanz zwischen der Erzählstimme und dem Modus, den Kommentaren aus dem Off der Heterodiegese und der innerfiktionalen Wahrnehmung. In die feine Schicht der Ironie zwischen Erzählstimme und Modus schiebt sich zum Beispiel mit der Fokussierung auf Arthur Schatzmann ein sehr apodiktischer Tonfall, der wenig authentisch wirkt: Er strebe nach „Sicherheit bezüglich der Frage, was unser Leben sei und was es mit der Welt auf sich habe, in der wir existieren“, und: „Sicherheit ist Bejahung. Sicherheit ist eine Art, die Wirklichkeit zu konsumieren“.
Es verwundert nicht, dass der Roman von seinem Gesamtduktus her recht weit von der Reife späterer Werke Tokarczuks entfernt ist. Einerseits wirkt er wie eine Fingerübung, andererseits wie ein Pastiche auf literarische und/oder essayistische Texte aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Anachronistische Wendungen wie „Quintessenz der Schwermut der gemäßigten Breiten“ passen hervorragend zur oft auszumachenden Darstellung einer postromantisch-epigonal anthropomorphisierten Natur
Punkten kann Tokarczuk zudem mit geschickt platzierten und adäquaten, in den jeweiligen Kontexten ironisch akzentuierten Topoi, z. B. der Topos des Lebens als Bühne oder des „puer senex“, eigentlich ein Knabe, hier das Mädchen Erna, das jung ist, aber an der Weisheit des Alters partizipiert.
Alles in allem gelingt es Olga Tokarczuk bereits in ihrem ersten Roman, das geistesgeschichtliche Klima der Zeit um 1900 wiederzugeben, das mit vielen Zwischentönen und ludischen Elementen angereicherte Tableau einer großbürgerlichen Familie zu umreißen und zu zeigen, wie diese zum Schauplatz rivalisierender Ideologien avanciert. So fängt die Autorin eine Wirklichkeit ein, die – so wie sie in Empusion schreibt – „sich aus einer Vielzahl äußerst subtiler Schattierungen zusammensetzt. Wenn jemand meint, die Welt bestehe aus klaren Gegensätzen, dann ist er krank“.
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